Soey und Max bringen den ersten Beitrag der IN2IT-Reihe heraus! Welchen Track sie ausgewählt haben und wer hinter dem Stück steckt, erfahrt ihr im Text.
Es ist Zeit für Neues auf die Ohren! Wir sind frohfrohs Aufruf vor einer Weile gefolgt. Auf der Suche nach neuen Formaten wurde unser Konzept mit offenen Armen empfangen. Nun ist sie da, die erste Ausgabe von IN2IT.
Unser Ziel ist es, Gehör für unbekanntere Produzent*innen in und um Leipzig zu schaffen. Dafür haben wir einen Open Call gestartet und waren komplett überwältigt von der Resonanz. Wirklich – es war toll zu sehen und zu hören, wie viele Einsendungen wir bekommen haben und auf wie viel Interesse dieses Projekt stößt.
An dieser Stelle wollen wir uns bei euch allen bedanken, die ihr nicht nur eure Tracks geschickt habt, sondern uns auch euer Vertrauen entgegengebracht habt. Unter den Einsendungen waren richtig viele interessante Projekte dabei, die verschiedener nicht hätten sein können. Die Wahl des ersten Titels fiel uns deswegen alles andere als leicht. Neben der immensen Bandbreite an Genres gab es natürlich auch Unterschiede in Hinblick darauf wie ausgearbeitet die Produktionen sind.
Deswegen hier vielleicht ein paar Worte zu unseren Entscheidungskriterien: Wir wollten unser Gehör nicht davon trüben lassen, ob ein Track unserem Lieblingsgenre nahekommt oder bereits klingt wie eine professionell gemixte und gemasterte Chartnummer. Gerade auch durch die stilistische Vielfalt lassen sich Tracks anhand genrespezifischer Kriterien schlichtweg nicht vergleichen. Vielmehr geht es uns deshalb um die affektive Ebene beim Hören, also um die Emotionen, Empfindungen und Irritationen, die ein Track in uns auslöst.
Dabei stach ein Titel in dieser Runde für uns besonders heraus. Nur schwerlich in bekannte Schemata und Genrebestimmungen einzuordnen, erzeugte dieser Track in uns etwas komplett Neues – ein Gefühl, das gleichwohl außergewöhnlich fremdartig und doch einnehmend intensiv war. Der Track, um den es geht, heißt CLEFT LIP und wurde von MYEN produziert.
CLEFT LIP nimmt sich den Raum, den er braucht, ohne dass man auch nur im Geringsten etwas dagegen tun kann.
Nicht, dass man das überhaupt tun wollen würde, denn der experimentelle Charakter mitsamt seiner Vielschichtigkeit regt die Fantasie auf eine ganz besondere Art und Weise an. Irgendwo zwischen geheimnisvoller Schwermut und angenehm vertrauter Aufruhr erzählt er eine wirkungsvolle Geschichte.
Myenteric plexus
MYEN leitet sich ab von myenteric plexus und bezeichnet einen Teil des enterischen Nervensystems, das in unserem Darm verortet. Wie er es beschreibt, ist dieses mit unter für unser schlechtes Bauchgefühl in unsicheren Situationen verantwortlich. Alles, das uns unterbewusst besorgt, trauern lässt oder stresst, macht sich dort bemerkbar. Sein Projekt kreist dabei um seine Diagnose einer chronischen Darmerkrankung und unverarbeiteter Trauer, zwischen denen er eine Verlinkung wahrnimmt. Um sich mit dieser den Alltags beeinträchtigenden Problematik auseinanderzusetzen, entstand MYEN – ein Projekt, welches Mitgefühl für sich selbst und Heilung durch Klang zu praktizieren versucht.
Er produziert nun seit gut fünf Jahren und kann im kommenden Jahr sein erstes offizielles Release verzeichnen. Daneben kommen auch bald einige Edits und Remixes raus. Zum Beispiel für Kavari, eine schottische Produzentin, die vor kurzem ihren Release ‘/ˈpasɪv/ /ˈmɛm(ə)ri/ /rɪˈdʒɛkʃ(ə)n/’ veröffentlicht hat, also stay tuned!
Sein musikalischer Hintergrund ist breit gefächert: Klassische Musik, Film-Soundtracks, Hardcore, Metal sowie Cross-Breed und Reggaeton gehören zu seinen Einflüssen. Besonders geprägt haben ihn niederländischer Gabber und französischer Hardcore. Generell schlägt sein Herz aber seit Jahren für experimentellere Club-Formate. Neben Arca, Aisha Devi, Kablam, Mica Levi sowie Ashida Park, Club Late Music, SVBKVLT oder TRRUENO als Labels, zieht MYEN die größte Inspiration und bedeutenste Prägung von Yannick Pozo Vento aka Réelle, eine der für ihn jeher wichtigsten Stimmen innerhalb zeitgenössischer elektronischer Musikproduktion, sowie gute*r Freund*in.
MYEN will an dieser Stelle auch an Réelle’s Arbeit und Leben erinnern. Die genannten Einflüsse scheinen sich auch in seinen Sets widerzuspiegeln, in denen er klassische Streicher-Kompositionen mit Gabber und Latin-Sounds, sowie einer Bandbreite anderer Genres verschmelzen lässt. Er beschreibt seine Herangehensweise dabei halbironisch als
„Genrefucking“
Hört dafür am besten mal bei SoundCloud in seine Mixfiles: soundcloud.com/myentericplexus
How to produce like MYEN:
Beim Produzieren bedient sich MYEN vorrangig der Granularsynthese. So entstehen beispielsweise künstliche, von ihm als „neodorsal“ bezeichnete Stimmen, wie auch die in CLEFT LIP. An diesen orientieren sich dann die anderen Elemente des Tracks. Kurz gesagt: Granularsynthese zerstückelt Samples in kleine Grains, die anschließend resynthetisiert werden. Melodien entstehen bei ihm weniger durch Noten oder Midi, sondern vorrangig durch Postprocessing wie Autotune oder mit Hilfe von grafischer Synthese, die in Softwares wie “HighC„ sprichwörtlich gezeichnet werden. Diese Art des Komponierens wurde ihm damals von Réelle näher gebracht und von ihm weiterentwickelt.
In seinen Produktionen versucht er, Trakte des menschlichen Körpers und dessen mögliche Anomalien in Klang auszudrücken:
Beispielsweise Irregularitäten in phonetischen Vorgängen durch eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte (Englisch: Cleft Lip). Auch beim Hören von Musik gibt es für MYEN eine starke Korrelation von Klang und Körper. Hörer*innen sollten seine Musik zuweilen als Anlass sehen, die Auswirkung von Frequenzen auf ihren Körper wahrzunehmen.
Verhältnis zur Clubkultur
Wir haben MYEN außerdem noch gefragt, wie er zu der Leipziger Clubszene steht. Dabei wurde deutlich, dass es für ihn noch zu wenig Platz für Queerness gibt. Auch wenn in den letzten Monaten mehr Awareness zu diesem Thema geschaffen wurde, fehlt ihm in Leipzig noch Diversität und ein Aufbrechen des „white-male-technos“ als Norm für viele Clubabende. Es gibt für ihn auch noch lange nicht genug Veranstaltungen die dezidiert BiPOCs im Fokus haben. Feat Fem., CryBaby und Series:Be sind aber Veranstaltungen und Kollektive, zu denen er aufsieht. Wünschenswert wäre es für ihn, wenn die verschiedenen Szenen Leipzigs dahingehend verschmelzen würden und nicht lediglich nebeneinander existieren oder gar miteinander konkurrieren.
Die Auswirkungen der Pandemie auf das künstlerische Schaffen sind wohl nicht abzustreiten, wenn auch von Person zu Person verschieden. Für MYEN bot der erste Lockdown die Möglichkeit, mehr Zeit aktiv und bewusst mit sich selbst zu verbringen und sich so noch mehr im Sound-Design zu verlieren. Auch hatte die zunehmende Isolation eine heilende Wirkung auf ihn, was er klar als Privileg versteht. Die Kehrseite des Ganzen liegt jedoch auf der Hand: Er, wie wahrscheinlich die meisten von uns, vermisst das Vibrieren des Basses im Bauch genauso sehr wie das Schwitzen in einer Menschenmenge. Er beschreibt die Clubkultur als ein Relikt unseres menschlichen Ritualverhaltens, welches uns zur Zeit verwehrt bleibt und somit ein Loch in der kollektiven Musik-Kultur hinterlässt. Als Medium dieser kann Musik heute nicht nur emotional, sondern auch physisch auf viele verschiedene Parameter in unseren Körpern wirken und diese sogar verändern. Wir meinen, dass CLEFT LIP genau das schafft.
An dieser Stelle also nochmal ein riesiges Dankeschön an dich! Danke, dass du deine Musik zu uns gebracht hast und danke für die wundervolle Einleitung in das Projekt.
Wir wünschen euch viel Freude beim Hören und hoffen sehr, dass euch dieser Track genauso einnimmt wie er es immer wieder mit uns tut. Bitte sendet uns weiterhin eure Tracks! Wir freuen uns riesig auf eure Einsendungen für die nächsten Ausgaben von IN2IT.
Sophia Krasomil begleitet die Reihe grafisch: das Titelbild und das Beitragsbild bei SoundCloud sind durch sie entstanden. Danke!