Wir starten eine neue Serie – „On Tape“. Und wie der Titel andeutet, dreht sich diese kleine Serie an Artikeln nur um das Medium Kassette. Genauer gesagt soll der Fokus auf die Menschen in Leipzig gerichtet werden, in deren Arbeit die Kassette eine wichtige Rolle spielt. Sei es als Label, in der Herstellung oder in irgendeiner anderen Art und Weise. Los geht’s mit Shell Tapes.
Shell Tapes, das sind drei nette Leute, die selbst ein kleines Aufnahme-Studio für Kassetten betreiben und regelmäßig Tapes für andere Labels und Künstler:innen produzieren. Ich treffe Max, Nathalie und Sven in deren Kreativ-Raum in der Riebeckstrasse im Leipziger Osten – ein Mix aus Werkstatt, Co-Working-Space, Tonstudio und kleiner „Tape-Fabrik“. All das vereint dieser Ort unter einem Dach, der sich „Aquarium“ nennt.
Erstmal für alle, die euch und diesen Ort nicht kennen. Wo sind wir hier denn eigentlich, wer seid ihr und was macht ihr hier?
Sven ist ein Drittel von Shell Tapes und betreibt zudem das Tape-Label Golden Doom Records, ein Kassetten-Label für experimentelle Musik. „GDR“ ist eine Plattform für lokale Musikerinnen, wobei hier alles erlaubt ist, von Experimental Kraut Jazz oder LoFi-Ambient zu Noise-Punk. Er selbst macht auch Musik unter dem Namen Multimedia Schneider, schmeisst gemeinsam mit Max das Tonstudio im Aquarium und ist desweiteren im ZiMMT (Zentrum für immersive Medienkunst, Musik und Technologie) tätig.
Max veröffentlicht auf seinem Label Prepaid Records experimentelle elektronische Musik auf Tape (er selbst nennt es „Abstraktion auf dem analogen Medium“) und produziert unter dem Pseudonym ahabzutun. Des Weiteren veröffentlicht er physische Mixtapes mit wechselnden Artists (Prepaid Radio), die im Ton- und Dubbing-Studio aufgenommen und produziert werden. Hier ist alles drin vom klassischem DJ- bis zum analogen Live-Set.
Die Dritte im Bunde ist Nathalie. Sie legt unter dem Alias Valeska auf, ist Bookerin für die Pracht und das Trip Festival, studiert an der HGB Fotografie und plant derzeit ihre eigene, musikalisch experimentell ausgerichtete Veranstaltungsreihe im IfZ namens rewind. Im November soll die an den Start gehen. Sie kam zu Shell Tapes über ein DJ-Mixtape, welches sie vor ein paar Jahren für Max im Aquarium aufgenommen hatte.
Gemeinsam sitzen und sprechen wir an dem Ort, wo sehr viel von all dem entsteht und zusammenkommt.
„Das Aquarium ist ein interdisziplinärer, offener Raum für die Verknüpfung von Musik,
bildender Kunst, Literatur und Technologie.“ – Max
„Es besteht aus einem Co-Working-Raum, einem Musikstudio, in dem auch das Tape-
Dubbing stattfindet und einer Werkstatt, in der wir Dinge reparieren (…). Wir bieten auch Leuten an, dort selbst Dinge zu reparieren. Zudem haben wir einen 3D-Drucker, mit dem wir selbst Teile produzieren (…).“ – Sven
Wie ich außerdem erfahre, finden im Aquarium regelmäßig Konzerte, Lesungen und Workshops statt. In einem Workshop, der unter dem Namen „Heavy Wires“ läuft, dreht sich zum Beispiel alles um den Bau elektronischer Musikinstrumente und Klangerzeuger. Wechselnde Dozent:innen erklären hier, wie man beispielsweise selbst einen Oszillator oder ein Gerät wie die „Atari Punk Console“ baut. Und natürlich werden hier im Aquarium Kassetten hergestellt.
Was auf jeden Fall sofort ins Auge sticht, wenn man das Aquarium betritt, ist ein sehr großes Regal voller Tapes. Eine kleine Werkschau an Material, das hier bereits produziert wurde. Alles in „Echtzeit“, wie man mir erklärt. Das heißt: Es kann auf vierzig, parallel geschalteten Tape-Decks des selben Bautyps gleichzeitig aufgenommen werden. Es werden also nicht nur eine Kopie einer Kassette, sondern gleich vierzig auf einen Schlag produziert. Die Decks werden selbst gewartet und wenn nötig repariert. Alles schreit hier nach DIY auf einem sehr hohen Niveau.
Aber warum eigentlich Kassette? Ein Medium, das irgendwie retro erscheint und für manche vielleicht auch einfach unpraktisch? Sven meint:
„Für mich hat es sich aus dem Musik machen ergeben. Ich hatte mit Tape-Loops herum experimentiert und dachte: Moment mal, man kann doch auch seine eigene Musik auf Tape spielen. Ich hatte mir einen kleinen Stack an Tape-Decks zum aufnehmen bereits zugelegt, nur um dann auf einem Konzert, das ich mit Max gespielt hatte, festzustellen, dass der das bereits genau so gemacht hatte.“
Die Produktion von Kassetten sei niedrigschwellig und kostengünstig, ergänzt er. Ein Weg, seine Musik einfach und schnell an Freund:innen zu verteilen. Schallplatten seien in der Produktion oft teuer und man habe mit langen Wartezeiten zu rechnen. Zudem lohnen sich erst Auflagen in Bereichen, die oft gar keinen Sinn ergäben. Dafür sei die Hörer:innenschaft zu klein, die Veröffentlichungen zu speziell.
Es gehe aber auch darum, die Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken, was so nicht auf Spotify oder Bandcamp stattfindet, geschweige denn den Weg auf eine Schallplatte finden würde. Außerdem sei da noch der spezielle Klang einer Kassette, der nicht zu unterschätzen sei.
„Tape klingt geil. Eine besondere Qualität, die mitschwingt. Die objektiv betrachtet vielleicht gar nicht mal so gut ist, aber meiner Meinung nach unterschätzt wird und eine schöne, analoge Wärme mitbringt (…).“ – Sven
Es gibt aber noch eine weitere Motivation für die drei, Musik auf Kassette zu veröffentlichen und Tonträger unter die Leute zu bringen:
„Für mich ist das fast schon ein politischer Akt geworden. Mein Eindruck ist, dass es in den letzten 10-15 Jahren eine extreme Abwertung von Musik und extreme Veränderungen im Konsumverhalten von Musik gegeben hat. Dass sich eine Art von Kultur etabliert hat, die nicht mehr wahrnimmt, dass Musik von Menschen produziert wurde, die da ihre Zeit, Energie und Kreativität hineingesteckt haben.“ – Max
Den Musikmarkt in seiner jetzigen Form nennt Max eine Dystopie für die Produzierenden. Die Idee des Tapes könne als Akt der Selbstermächtigung von Künstler:innen, kleinen Labels und Gruppen verstanden werden, die sich zusammen tun, um Musik zu veröffentlichen. Als Idee, die man diesem Wahnwitz entgegen setzen könne.
Was mir selbst auffällt, wenn ich ab und an in Plattenläden verweile oder an Merch-Tischen stöbere: Die Präsenz der Kassette hat zugenommen. Sogar größere Acts und Labels, teilweise sogar kommerzielle Major-Produktionen haben oft Tape-Issues aktueller Releases anzubieten. Gibt es ein Comeback der Kassette oder sogar einen kleinen Hype wie man ab und zu hört?
„Was wir wahrnehmen ist, dass die Produktionszahlen bei uns jedes Jahr steigen“, meint Max. Und wie wird das aus der Sicht einer DJ und Bookerin wahrgenommen?
„Ich kenne nur zwei Personen, die mit Tapes auflegen (…). Ansonsten, sind die Genres,
in denen ich unterwegs bin, relativ tape-lastig. Ich weiß nicht, wie man das jetzt eingrenzen soll, vielleicht als dystopischen Cinematic-Post-Club-Noise-Sound. Hier veröffentlichen fast alle Menschen, deren Musik ich richtig gut finde, die ich auf Veranstaltungen einlade und selbst spiele auf Tape (…). Pop-Kultur findet meiner Erfahrung nach nicht unbedingt auf Tape statt“ – Nathalie
Klar, bringen vielleicht die Pet Shop Boys ihr neues Album auf Kassette raus oder das „Guardians Of The Galaxy“-Mixtape aus dem gleichnamigen Film wird tatsächlich als Merch-Artikel verkauft. Der Anteil von physischen Tonträgern am Musikmarkt allgemein – und vor allem der Anteil der Kassette – seien aber verschwindend gering, ergänzt Max noch zum Thema.
Wer in Leipzig selbst schon einmal mit dem Gedanken gespielt hat, eine Kassette aufzunehmen, wird auch über den Namen T.A.P.E. Muzik gestolpert sein, dem kleinen Sub-Unternehmen der Schallplatten-Produktionsstätte R.A.N.D. Muzik.
Hier wird ebenfalls das Bespielen von Kassetten angeboten. Auch Inlays und Cover können hier gedruckt, Zubehör erworben und zwischen diversen Kassetten-Farben ausgewählt werden. Was unterscheidet denn Shell Tapes eigentlich von T.A.P.E. Muzik? Seid ihr die harte Konkurrenz?
„Wir hatten ganz lange Angst vor T.A.P.E. Muzik, weil die ebenfalls Dubbing und
Produktion von Tapes anbieten. Wir haben dann aber festgestellt, dass diese Angst unbegründet war. Scheinbar schätzen uns T.A.P.E Muzik sogar.“ – Max
Der Fokus bei T.A.P.E. Muzik liege eher darauf, auf Masse zu produzieren. Auflagen von 200 Stück aufwärts. Die unangenehmeren, kleineren Aufträge übernehme da gerne mal Shell Tapes. Es sei sogar möglich, die bei T.A.P.E. bestellten Leerkassetten direkt an Shell Tapes ins Aquarium liefern zu lassen, wo sie dann bespielt werden. Manchmal werden diese sogar von T.A.P.E. Muzik-Mitarbeiter:innen nach Feierabend gebracht. Das ist dann auch das Stichwort für Max: „Danke an Franzi von T.A.P.E Muzik, die die ganze Logistik übernimmt!“
Mir fällt immer mehr auf, wie tief die drei in der Thematik stecken, wie sehr das Thema DIY und Selbstermächtigung eine Rolle spielen und wie eng sie mit der lokalen Musik- und Kulturszene verbunden sind. Auch die enge Zusammenarbeit mit weiteren Akteur:innen aus Leipzig findet Erwähnung. So zum Beispiel mit dem Riso-Club, einer Einrichtung für Riso-Print.
Und auch der von Shell Tapes initiierte und organisierte „Fachmarkt für Kultur“ kommt noch zur Sprache. Ein kleiner Leipziger Labelmarkt, der sich voll und ganz den analogen Medien wie Tapes, Zines und Vinyl verschrieben hat und vor kurzem bereits zum fünften Mal stattgefunden hat.
Wer sich übrigens selbst einbringen möchte im Aquarium, sei hiermit ermutigt dies zu tun. Der Plan einen Verein zu gründen steht. Auch soll Shell Tapes zu einem Vertrieb für Kassetten werden. Labels aus Nicht-EU-Ländern sollen via Shell Tapes ihren EU-Vertrieb bekommen, die Produktion und der Verkauf über „Shell“ laufen, um Zoll-Gebühren zu sparen und den Erwerb in Europa zu erleichtern.
Und wer selbst über die Produktion einer Kassette nachdenkt oder sich sogar ein Dubbing-Studio
selbst einrichten möchte, darf sich gerne melden unter der E-Mail Adresse: shelltapes @ posteo.net. Man werde dann alle relevanten Hinweise geben und Informationen teilen.
Fotos
Zum Schluss noch ein herzliches Danke an Nikolas Fabian Kammerer für die erneut tollen, atmosphärischen Fotos zu diesem Treffen. Wie er das Shooting wahrgenommen hat, erzählt er hier:
“Die Leute von Shell Tapes lieben das, was sie tun. Das merkt man schon vor dem Laden an dem liebevoll eingerichteten Schaufenster, in dem diverse Tape Releases zu sehen sind. In den eigentlichen “Produktionsräumen” wird’s dann richtig nerdy, mit den gefühlt tausend Kassentrecordern, wirren Kabeln und den zu einem Netzwerk zusammengeschlossenen Audio-Gerätschaften. Das war ein sehr spannendes Treffen mit einer wirklich lieben Crew!“