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David
Lebt das Leben asynchron, denn liebt Musik, kann sich aber nur in Wort und Schrift ausdrücken. Hat ein Herz für alles was Nebendran so passiert und stellt sich Sysiphos als glücklichen Menschen vor.

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La Dame „Bestiary“ (Defrostatica)

27. August 2024 / Kommentare (1)

Willkommen an Bord von frohfroh, David. Er wird ab sofort neue Musik aus Leipzig vorstellen und beschreiben. Los geht es mit einer starken Jungle-EP auf Defrostatica.

Fabelwesen sind eine Schnittstelle zwischen Natur und Kultur; sie existieren nicht ohne den Menschen, der sie sich ausdenkt. Spannungsthemen der menschlichen Existenz werden tierisch maskiert ins Reich der Natur projiziert, wo die ihnen eingepflanzten menschlichen Wünsche die menschliche Macht überkommen und der Macht der Natur übergeben werden. Eine Person, die ein Fabelwesen erfindet, hat eine Agenda.

Seit kurzem veröffentlicht die Brüsseler DJ und Produzentin La Dame ihre ganz eigene Interpretation von contemporary Jungle Music auf dem Leipziger Label Defrostatica. Die erste Veröffentlichung in diesem Rahmen ist eine EP mit dem Titel „Bestiary“. Die Platte ist geprägt von musikalischer Präzision und inhaltlicher Tiefe – und funktioniert sowohl im Club als auch für ein konzentriertes Close Listening. Die Produktion ist tight und von souveräner, technokratischer Kühle. Getragen wird der Sound von perkussiven Elementen, die im Zusammenspiel mit wirkungsvollen Bässen und Samples von Tieren zu einem originären, individuellen Klang zusammenfinden. Ihr bewusst begrenztes Instrumentarium nutzt La Dame auf den vier Tracks virtuos. Es lässt sich im Grunde leicht zusammenfassen: Rein handwerklich ist die EP bereits phänomenal. Aber da liegt nicht mal ihre große Stärke.

Zufälle gibt es auf „Bestiary“ nicht. Obwohl nur 16 Minuten lang, ist die EP von einer verdichteten inhaltlichen Programmatik durchzogen. Der Titel beruft sich auf die jahrtausendealte stoffliche Tradition von Bestiarien, also künstlerischen Tierbeschreibungen, die nicht selten eine allegorische Aufladung in ihrem Entstehungskontext erlebt haben. In dieser Tradition zeichnet La Dame mit ihren musikalischen Mitteln eine Vision von Hybridität. Jeder einzelne Track porträtiert ein Fabelwesen. Diese Fabelwesen sind Tiere, die entweder notwendig nur vom Menschen erschaffen werden können („Full Metal Eagle“), die als menschlich-tierisches Hybridwesen mystische Macht ausüben („Kinnara“), oder die der Mensch überkommen muss, um das Schicksal zu verändern („Sandwurm“, vgl. Dune). Wie schön, dass es mit der Raupe auch ein Gestaltwandler in diese Reihe geschafft hat. Durch den Spiegel dieser Fabelwesen betrachtet, lässt sich „Bestiary“ als Kommentar menschlicher Hybris lesen, denn wie könnte man ernsthaft vermuten, dass ein mit elektronischer Musik gezeichneter “Full Metal Eagle„ noch irgendeinen Aspekt von Natur darstellen könnte?

Zur Entstehungsgeschichte der EP gehört wohl auch, dass sie als Ausgleichsarbeit zu La Dames Dissertation entstanden ist. Es mag ein Klischee sein, eine Kausalität zwischen dieser inhaltlich verdichteten EP und dem zeitgleich stattfindenden Schreibprozess einer Dissertation zu unterstellen, doch so ganz lässt sich der Verdacht nicht abschütteln. Was aber unzweifelhaft ist: La Dame profiliert ihre künstlerische Ausdrucksweise auf „Bestiary“ eindrucksvoll und nimmt uns nicht nur mit in die Welt der Fabelwesen, sondern auch in eine sehr reife, abgeschlossene und nicht zuletzt individuelle Gesamtästhetik, die sich in ihrer Musik manifestiert, aber eben nicht erschöpft. Mit ihrer akademisch gefärbten Interpretation von Contemporary Jungle bereichert sie die Jungle Culture um eine individuelle Ausdrucksweise, die im Kontext einer Gesamtästhetik große Wirkungsmacht entfaltet.

Übrigens: Bei Defrostatica sind in den letzten Monaten noch weitere spannende EPs rausgekommen. Hört also unbedingt auch dort mal rein. Am besten hier bei Bandcamp.

CommentComment

  • zirkuskind / 27. August 2024 / um 15:59
    Danke fürs Review, guter Text!
    Zum Kern: Tolle EP, vorallem mit eigenem Sound, sowas ist ja heute selten geworden.

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