Der Spätsommer und Frühherbst haben jede Menge spannende Musik aus Leipzig hervorgebracht. In unserer neuen New-In-Ausgabe bündeln wir ein Dutzend EPs und Alben für euch. Nehmt euch etwas Zeit.
Teleporter Scape Orchestra – „The Draft Of A Ball“ (Teleskop)
Der Mensch hinter diesem Projekt ist kein Unbekannter in der Leipziger Szene. Sebastian Bode betreibt das Label und die Projektplattform Teleskop, spielt in der Indie- und Popformation Wooden Peak und ist Mitveranstalter der regelmäßig stattfindenden Ambient-Visual-Abende „Teleskop Radius“ im UT Connewitz. Und das sind nur einige Projekte, bei denen der Produzent und Musiker seine Hände mit im Spiel hat. Sein Teleporter Scape Orchestra ist Ambient-Musik im eigentlichen Sinn. Basierend auf Loops (meist solchen, die sich durch das ganz Stück ziehen) werden Klanggebilde erdacht und musikalische Kollagen erzeugt. Diverse Instrumente kommen zum Einsatz: Rhodes, Gitarre, Synthesizer, im Hintergrund eine Stadtszenerie oder Vogelzwitschern.
Man kann „The Draft Of A Ball“ sehr bewusst oder unbewusst hören. Ersteres empfehle ich dringend, denn die Vielschichtigkeit eröffnet sich einem erst beim genauen Hinhören. Man sollte keine Songstrukturen oder einen dramaturgisch ausgeklügelten, allzu offensichtlichen Aufbau erwarten. Die Stücke gehen dahin und hüllen einen ein, die Elemente verändern sich leicht oder schieben sich manchmal mehr in den Vordergrund. Mehr braucht es auch nicht, damit diese Musik funktioniert.
Ein Anspieltip ist der Titelsong der EP: „The Draft Of A Ball“. Über dem schwebenden Klangteppich improvisiert der Musiker Christian Dähne auf seinem Bass. Das Instrument wird eins mit den Geräuschen und den im Hintergrund laufenden Loops. Sebastian Bode schreibt übrigens mitunter auch viel Musik für Filme und Dokumentationen. Auf dieser EP funktioniert die Musik ganz ohne Bildmaterial, aber vor dem inneren Auge lässt es sich wunderbar träumen von fernen Orten.
Nils Hit: „The Draft Of A Ball“ – Why: Das Zusammenspiel aus Bass und Klangkollage funktioniert hier vorzüglich.
Tibi Dabo – „The Hiker“ (Kann)
Ist Kann Records eigentlich noch ein Leipziger Label? Betrieben wird das Label mittlerweile allein von Sevensol, der vor einer Weile nach Berlin übergesiedelt ist. Sei es drum, wir schauen in dieser Ausgabe nochmals auf einen durchaus spannenden Release. Denn im September kam ein weiterer digitaler Release vom spanischen Produzenten Tibi Dabo. Er mixt ein bisschen Micro-House mit reichlich Voice-Samples und Percussion-Vielfalt und ist dabei groovy wie Sau. So klingt der Opener „Desert Hike“.
Und um ehrlich zu sein, haut „A Go Go“ genau in die gleiche Kerbe. Die Bassline ist schon sehr nice hier. Die Samples atmen ein bisschen 90s-Flair und sind sehr soulful, wenn man so will.
Am meisten nach vorne geht „Moon Hike“, hier geht auch mal der ein oder andere Synthraum auf und der Titel ist melodisch nicht ganz so verhalten wie die anderen Stücke auf der EP. Beim Vocoder-Einsatz bin ich dann voll und ganz dabei.
Nils Hit: „Moon Hike“ – Why: Treibende Nummer mit schönem Melodie-Anteil und coolem Vocoder. Yeah!
Littlelake – „Fang Song EP“ (Brombért Records)
Bereits im September ist auf Brombért Records die Fang Song EP von Littlelake erschienen. Der EP liegt eine leitende Frage nach Balance zugrunde und die künstlerische Antwort findet sich in bassgetriebenem Garage. Das Fundament ist solide und stabil gelegt, und drüber schweben spielerische Soundlandschaften, die im UK Garage ihre Vorfahren haben. So entsteht eine EP, die ganz beiläufig etwas angenehm Hypnotisches transportiert, dabei immer mitreißt.
Exemplarisch dafür steht der zweite Track “Passing by„, der mit gebührendem Raum aufgebaut wird, ab und an mal per Voice-Over konstatiert, dass man just passing by wäre, und so seiner Wege weitergeht. Die hier so nonchalant unterstellte Beiläufigkeit ist aber natürlich eine falsche Fährte, denn selbst in der hochgradig unglamourösen Umgebung des Arbeitszimmers nicke ich auf dem Bürostuhl unwillkürlich im Takt mit, während ich diese Zeilen geschrieben habe. Und in diese Sinne ist „Passing By“ programmatisch für die ganze EP; „Fang Song“ kann und will gar nicht allzu sehr für die Nachwelt eingefangen werden, sondern ist dafür gemacht, erlebt zu werden.
Davids Hit: „Passing By“ – Why: Weil der Kopf noch immer nickt.
Nici Palm & Rødel – „I Want Both“ (Paradise Palms Records)
Die Tech-House-Nummer „I Want Both“ der Leipziger Produzent:innen Nici Palm und Rødel geht gut nach vorne – mit dickem Bass, fetter Kick und den sich mantraartig wiederholenden Vocals, die genau das einfordern. Man fragt sich bis ungefähr zur Hälfte des Tracks, was denn die beiden Dinge sein könnten. Die Frage wird bei Minute 3 beantwortet: Hier gibt es mit E-Bass und extended Vocals einen poppigen Break mit eingängigen Vocals und coolen Lyrics. Der Part hätte gut und gerne etwas länger gehen können, bricht er doch das repetitive Muster des Tracks schön auf. Allerdings geht es nach dem Break ähnlich weiter wie zu Beginn. Funktioniert dennoch sicher gut im Club.
Der Remix von Fausto zäumt das Pferd von hinten auf. Das Ding baut eher auf die Vocals und den Basslauf und mutiert zum Electroclash- bzw. Technobanger mit verzerrtem Bass und sogar einer Sologitarre oder sowas. Klingt nach viel Spaß! Erinnert auch ein bisschen an die Ed Banger- und Kitsuné-Releases vor ein paar Jahren.
Nils Hit: „I Want Both (Fausto Remix) – Why: Die Nummer macht einfach Spaß beim Anhören, auch wenn das Original viel cooler daher kommt.
Dib – „Equipotentiale 002“ (Pragmat)
Wer produziert heutzutage noch CDs? Das Leipziger Label Pragmat tut es. Und bei der hier vorliegenden VÖ mit ihrer aufwendigen und liebevollen Gestaltung ist das durchaus berechtigt. Durchnummeriert und in schöner DIY-Optik. Dabei ultra-limitiert. Für alle, die mehr wollen als nur die Musik in digitaler Form. Mittlerweile ist die EP leider schon ausverkauft.
Apropos Musik: Um die soll es hier ja gehen. Sie ist ein „46-minütiges Hypnotic Techno Masterpiece“, laut Beschreibung des Labels. Man könnte auch sagen: Konzeptalbum. Denn im Text zur Veröffentlichung wird eine physikalische Dystopie beschrieben, die man sich vor dem Genuss von „Equipotentiale“ zu Gemüte führen kann. Unter diesem Aspekt gewinnt die Musik bereits beim ersten Hören sofort an Tiefe. Die Schwerkraft ist aufgehoben, Berge fliegen umher, Evolution hat keine Richtung mehr, alles existiert einfach nur noch. Soweit die Theorie zur Platte.
Der Sound ist mal mehr, mal weniger treibend. Teilweise mehr Ambient als Techno, mitunter ein wenig dubbig angehaucht. Der darke Sound von „Equipotentiale 002“ funktioniert dabei auf mehreren Ebenen gleichermaßen – auf dem Dancefloor („Equipotentiale 002.6“), aber auch im Listening Kontext („Equipotentiale 002.4“).
Nils Hit: „Equipoteniale 002.2“ – Why: Der Track saugt dich ein. Der Sound, der nach Klavier klingt voll mein Ding.
Various Artists – „160 Vol. 1“ (Defrostatica)
Leipzigs spannendstes Breaks-Label Defrostatica startete Anfang Oktober eine neue Compilation-Reihe für Newcomer:innen, die sich jenseits von 160 bpm bewegen – und von Jungle, Footwork, Techno und Juke beeinflusst sind. “160 Vol. 1” macht gleich klar: Das wird eine sehr intensive und club-pleasende Reihe. Zur Premiere hat Defrostatica Acts aus Dänemark und UK, die mit Deepness, Latin-Einflüssen und rollenden Grooves neue Impulse auf dem Breaks-Floor sorgen. Mit all der mitreißenden Dynamik, für die wir Juke und Footwork lieben – und mit dezenter Rave-Leichtigkeit. Starker Start.
Jens’ Hit: „Move“ – Why: Weil hier maximale Spannung aufbaut wird, mit subtilen Drops sowie deepen bis ravigen Synths
Varum – „Breakbeat Business“ (Piccolo)
Ende Oktober erschien ein weiteres Breaks-Highlight in diesem Leipziger Herbst: Varums zweites Album. Nachdem er auf seinem Debüt „Basement Business“ einige HipHop-Roots in seinen Signature Sound gemixt hat, widmet sich Varum auf “Breakbeat Business” seiner Breakbeat-Liebe. In verschiedenen Tempi und Intensitäten verbindet er darauf Old- und Newschool. Da treffen alles umarmende Piano-Chords und schwebende Trance-Flächen auf deepere und melancholischere Sounds – bis hin zu einigen breakigen Downtempo-Tracks wie „Throttled Down“ und „C-Glitch“. Varum hat mit diesem zweiten Album nochmals einen ordentlichen Sprung gemacht. Die Produktion klingt deutlich ausgereifter, fluider und wärmer – und sie steckt voller Details, für es einfach etwas mehr Zeit zum Entdecken und Feiern braucht. Ein sehr gutes Artist-Album. Btw: Das Album ist auch wieder als limitiertes Vinyl erhältlich.
Jens’ Hit: „C-Glitch“ – Why: Weil das klassisch anmutende Downtempo-Setting immer weg glitcht und so eine ganz spezielle Ästhetik erhält.
8×10 – „Unsigned“ (Patching Flowers)
Nicht ganz richtig, was uns der Titel hier versucht zu suggerieren. Denn mit Patching Flowers hat diese kleine Sammlung an flächigen Ambient-Acid-House-Tracks ja ein schönes Zuhause gefunden. Das Leipziger Label veröffentlicht kleine Auflagen an Tapes – und auch digital wird hier rausgehauen, was das Zeug hält. Die vorliegenden drei Tracks feiern alle die hypnotische Wirkung einer 303-Bassline. Funktioniert (natürlich) nach wie vor sehr gut.
„Tango“ brilliert durch einen flächigen Loop, der spielerisch variiert wird. Das Stück klingt wie ein Live-Take im Studio. Auf jeden Fall eher intuitiv als hart durchgeplant. Fadet dann auf seinem Höhepunkt aber leider schon aus. Bei der zweiten Nummer kriegt man dann wieder die 303 auf der Kick zu hören. Dazu eine Fläche in einer Side-Chain-Compression und zusätzlichem Bass ab Minute 1, der die Harmonie schön erweitert. Der Track peitscht sich hoch und ist mit seinen 3:30 Minuten auch eher kurz geraten. Ein perkussiver Synth-Loop dominiert den dritten Titel, der mit ziemlich viel Rauschen und eher Lofi daher kommt.
Sehr atmosphärische VÖ, die nicht auf den Club abzielt. Dafür ist sie voll von guten Ideen und Sounds. Klingt so, als wollte man ein paar Live-Takes schnell veröffentlichen wollte, ohne zu lange über den Tracks zu brüten. Den Moment der Aufnahme nicht zerstören – eine gute Sache.
Nils Hit: „Tango“ – Why: Der Ambient-Loop ist ziemlich gut. Leider zu kurz :-/
Jamie Bissmire – „Pocket Universe EP“ (Recorded Things)
Eine neue EP auf Recorded Things, dem Label von Oliver Rosemann und Sebastian Rothermel.
Der harte und hypnotische Techno-Sound, für den das Label steht, wird auch hier bis zum Abwinken durchexerziert. Jamie Bissmire ist auch kein unbeschriebenes Blatt, veröffentlicht der Produzent schon seit Ende der Neunziger Techno-Tunes auf diversen Labels. Man kann die Erfahrung in den Tracks hören. Das ist High-Quality-Shit!
Greifen wir mal zwei Titel raus, die den Sound der EP sehr schön repräsentieren. „Silurian Symphony“ wird dominiert von einem quietschenden und perkussiven Synth-Loop, der so spielerisch disharmonisch daher kommt, das man ihn sich ewig anhören könnte. Darunter schiebt sich ein Techno-Brett mit sehr interessanter und klug gesetzter Bassline.
„Analouge Antiquity“ überrascht dann mit spieluhr-artigen Sounds. Das Konzept vom atmosphärischen Techno-Track, der von spannenden Sounds und seiner treibenden Kraft lebt, bleibt das selbe. Hypnotisch! Kurzum: Sechs Techno-Banger, die durch geschmackvolle und psychedelisch variierende Sound-Loops sowie groovende Basslines brillieren.
Nils Hit: „Umlaut“ – Why: Die nervöse, perkussive Mikromelodie und die FM-artigen Synth-Sounds haben es mir angetan.
KyXor – „Inpax“ (Patching Flowers)
Patching Flowers ist in diesem Herbst sehr aktiv – Nils hat in dieser New-In-Ausgabe bereits eine EP vorgestellt. Mit „Inpax“ erschien Mitte Oktober noch eine weiterer sehr hörenswerter Release von einem mir unbekannten Act namens KyXor. Die fünf recht kurzen Tracks dieser EP setzen voll auf Dekonstruktion, abstrakt-vertrackte Beats und Überzerrung. Einiges davon erinnert an die IDM-Hochphase Anfang der 2000er Jahre. Das heißt: Die Tracks sind schon stressig an einigen Stellen, aber KyXor bindet immer wieder auch harmonische Elemente ein, die die Kanten etwas abmildern und eben diese besondere Atmosphäre zwischen Dissonanz und Deepness erschaffen. Nicht alle Tracks nehmen mich sofort mit – „VXV“ beispielsweise ist mir zu kindlich-überdreht. Doch KyXor zieht seine Musik nicht unnötig in die Länge – die Kürze tut den Stücken tatsächlich gut. Insgesamt ein spannender IDM-Flashback.
Jens’ Hit: „S_V“ – Why: Weil die sanften Hi-Hats mit den deepen Ambient-Chords perfekt zu den nebeligen Landschaften dieses Herbstes passen.
Murky fm – „Turbulent Seas“ (Self-released)
Und wer es super straight mag und sich für ehrlichen und harten Techno begeistern kann, der dürfte bei der neuen, selbst veröffentlichten EP von Murky fm voll seine Kosten kommen. Der Titel ist Programm: Es geht ab und drängt stürmisch nach vorne. Die Tracks sind allesamt Techno-Walzen im ursprünglichen Sinne. Der Titel-Track ist schon ziemlich stark mit seiner dicken Kick, den räumlichen Percussions und den nagenden und saugenden Sounds. Wie kriegt man eigentlich diese wummernden Kicks produziert, die eine Bassline überflüssig machen?
Herausstechend auf dieser VÖ ist für mich der letzte Track: Der Name deutet es schon an, es wird ein bisschen „Deeper“. Ich drehe den Volume-Regler mal ein bisschen hoch. Für mich funktionieren Flächen in Techno-Tracks immer super gut. Auch ist der leicht aufgebrochene Beat eine willkommene Abwechslung.
Nils Hit: „Head First Into The Deep End“ – Why: It´s deeeep!
Champion Sound „Gun Fevah / Wise Man“ (457)
Und zum Schluss noch etwas Dub. Das Alphacut-Records-Sublabel hat im Oktober eine neue 7″ gedroppt. Darauf sind zwei schöne Hafttime-Sessions der russischen Dub-Crew Champion Sound dokumentiert. Beide mit der angenehmen, tief verhallt-nebeligen Dub-Schwere und dieser tollen Slowness, aber auch mit einigen special Momenten. „Gun Fevah“ kommt etwa mit Bläsern und gedrosselter Jungle-Einschüben. „Wise Man“ klingt dagegen etwas minimalistischer und heller. Diese kleine Single zeigt einmal mehr, wie international und grenzüberschreitend der Dub-Sound immer wieder neu auflebt.
Wo ich grad bei Alphacut bin: Leider haben wir die letzte Compilation übersehen – obwohl sie das erste Lebenszeichen nach drei Jahren Release-Pause war. Deshalb hier noch ein paar Worte zu „Post Morphem“. Denn die EP hat definitiv eine Erwähnung verdient: Die vier Tracks öffnen nämlich einige eher experimentelle Jungle-Zugänge. Vor allem „Lower Rust“ von Paradox Effects ist ein trippy Hit, der irgendwie mitreißt und zugleich alles andere als klassisch ist. Bei den anderen drei Stücken drückt dann immer mehr Dub durch, immer aber mit einer hohen Detailtiefe und einer besonderen Spannung. Tatsächlich eine beinahe übersehene Perle.
Jens’ Hit: „Canopy“ von Rude Operator – Why: Weil diese dicht getakteten Sounds und die filigranen Drums direkt ins Mark treffen.