Ende September brachte der Leipziger Musiker Afar Odea sein Debütalbum heraus. Und das Album ist so ein guter stiller Grower zwischen Indie und Elektronik, Pop und Experiment, dass wir uns Zeit für eine ausführliche Review genommen haben. Denn dieses Album verdient auch Zeit.
Wir müssen vielleicht zunächst eine kleine Meditation zum Thema Kreativität und Zeit vorneweg schicken: Unter Druck entstehen Diamanten. Mit Sätzen wie diesem versucht der gestresste kontemporäre Mensch das wechselseitig diffizile Verhältnis zwischen Kreativität und Zeit im Interesse der Deadline für sich urbar zu machen, und in der Tat liegt bestimmt auch eine Wahrheit drin: die Anwesenheit von Terminzwängen alleine zwingt dazu, den kreativen Prozess zu rationalisieren. Es gibt nicht viele Präkonfigurationen, in denen dieses Spannungsfeld – selbstredend immer mit kritischer Distanz betrachtet – nicht mit erbarmungsloser Macht zutage tritt, und eine recht offensichtliche ist das Szenario „Debütalbum“. Salopp gesagt: Niemand hat drauf gewartet, niemand schaut dem Kunstschaffenden hinter die Stirn und fordert ein Debütalbum innerhalb der nächsten sechs Monate. Oder anders: Ein Debüt per se ist Beweis, dass der Prüfling den kreativen Prozess zu einem Abschluss führen kann. Die Länge des Prozesses interessiert niemanden. Und manchmal, so wie beim Debütalbum „You‘ll Be Better Soon“ des Leipziger Künstlers Konrad Jackisch aka Afar Odea hört sich das Ergebnis dann so an, als hätten sechs Jahre gerade so gereicht, um die Impulse eines vor Ideen übersprudelnden Geistes in einem kreativen Kraftakt auf eine publikums- und praxistaugliche Menge zu verdichten.
Argumentativ eigentlich nicht schwierig, fällt es trotzdem gar nicht so leicht, diese These am Material zu untermauern: Wo sollen wir denn eigentlich anfangen? Ein leichtes zum Beispiel, nun auf zahlreiche intelligente und/oder verfremdete Zitate und Hommagen hinzuweisen. Wer will, der hört in den Songs auf dem Album Zitate und Einflüsse en masse. Natürlich ist die Musik viel zu intelligent für bloße Epigonen, es ist dann schon eher die Kreation spezifischer, vertrauter, Atmosphären (jaja, im Plural – jeder Song ein kleines, eigenes Universum), die auf der Platte mit sehr individuellem Ausdruck erzeugt werden. Es ist vielleicht eine Erkenntnis am Rande, dass Atmosphäre durch sich selbst wirkt, sich als emotionale Wahrnehmung manifestiert – wenngleich wir womöglich drauf trainiert sind, die Ausdrucksformen überzubewerten, mit der sie erzeugt wird. Und gleichzeitig ist es angenehm überraschend zu sehen, dass Afar Odea mit seinen Mitteln des musikalischen Ausdrucks auf der Platte Atmosphären transportiert, die stark an die Vorbilder einer ganzen Generation erinnert. Sehr präsent ist da etwa ine sehr spezifische, runtergedimmte, aber gleichzeitig unglaublich lebensbezweifelnde Energie, wie sie in den Neunzigern durch Massive Attack zur ersten Vollendung gebracht wurde. Wirklich beeindruckend ist, dass diese Stimmung erzeugt wird, ohne zu kopieren.
Denn Afar Odea äußert sich mit den Mitteln seiner künstlerischen Identität, die sich als vielfältig, stilsicher, mit kreativem Urteilsvermögen zeigt. Am offensichtlichsten, paradoxerweise vielleicht aber auch gerade am natürlichsten, zeigt es sich in der Stimme. Bereits die ersten Takte des Albums führen eine wunderschöne Popstimme ein – keine Ecken, keine Kanten; keine charakteristischen, zur Stärke umgedeuteten technischen Unzulänglichkeiten. Aber ebenfalls so selbstsicher, souverän, dass sie sich diese Abwesenheit von Imperfektion leisten kann, ohne Langeweile zu erzeugen. Es ist recht simpel: Afar Odea singt in den meisten Momenten der Platte einfach sehr sehr gut, in manchen Arrangements wirkt seine Stimme freilich stärker als in anderen. Aber sie ist im Kern purer Pop.
Interessant gestaltet sich auch die Frage nach Songstrukturen. Die aufregendsten Songs fühlen sich an, als hätten sie organisch zueinander gefunden, weil jede Idee, mag sie noch so klein oder groß sein, aufeinander aufbaut und sich sehr bewusst einer Struktur entzogen hat; niemals ideologisch dekonstruktiv, sondern immer als pragmatische, aufs Resultat gerichtete Entscheidung. Diese Songs sind in ihrer Fülle geradezu cineastisch. Andere Tracks folgen konventionelleren Mustern, das sind die Momente, die dann vielleicht nicht im gleichen Maß Erstaunen erzeugen – doch man merkt auch in jenen Momenten: Jeder Takt wurde hart erarbeitet, nicht einen Moment lang wird das Album beliebig. Kaum ein Beat wirkt wie Füllmaterial, überall ist Ausdruck, überall ist Ornament – sehr zeitgenössisch, sehr stilsicher. Und allen Tempowechseln, allen Reduktionen zum Trotz hat jeder einzelne Track durchgehend genug Leben, so dass nie ein Spannungsabfall droht, der dem Material nun gar nicht stehen würde.
Der Reiz dieser Platte liegt in der Klasse des Künstlers, manchmal ist es so „einfach“ für uns als Konsumenten. Und es ist ja doch als Kritiker irgendwie billig, die Kritik so nah am kolportierten künstlerischen Subjekt zu halten, diese unglaubliche kreative Energie und Ausdrucksstärke auch als Resultat eines Prozesses zu verstehen, der nicht von Zeitdruck getrieben war. Und es tut mir ja tatsächlich fast Leid, dass diese Kritik so sehr auf ästhetische Grundfragen geht. Aber am Ende geht es uns ja vor allem darum, ein Kunstwerk irgendwie urbar zu machen. Manchmal müssen wir dazu weit ausholen, die kleinen und großen Geschichten der Welt aufrollen, um durch Rückbezüge einen Hintergrund zu schaffen vor dem ein Kunstwerk wirkt. Aber es kommt vor, dass Kunstwerke einfach ganz durch sich selbst zur vollen Entfaltung finden, in diesem Sinne sehr unmittelbar großen Reiz entwickeln, weil sie, ganz simpel, einfach ganz ganz toll sind. Afar Odeas Debüt ist genau so ein Werk, eines an dem man merkt, dass der kreative Prozess dahinter enorm produktiv war und außerordentlich stilsicher in Form gebracht wurde. Unter Druck entstehen Diamanten – aber oft eben nicht durch zeitlichen Druck, sondern durch Verdichtung.