Im letzten November sind wieder einige sehr gute und vielseitige Releases herausgekommen – zwischen Peak-Time-Techno und Electro-Pop-Neuentdeckungen. Hier in unserer New-In-Rückblick.
D.C. Callas – „I Call(ed) Home“ (R.A.N.D. Muzik x Echocentric)
Bereits zum vierten Mal verbündet sich das Leipziger Label R.A.N.D. mit den finnischen Kolleg:innen von Echocentric. Das vorliegende Album des belgischen Produzenten D.C. Callas feiert den Sound, den beide Labels mehr oder weniger konsequent durchziehen. Progressive House meets Trance meets Goa. Klingt nach 1990ern? Damn right baby! Die vorliegenden Tunes entstanden in zwei Jahren und verarbeiten persönliche Verluste des Musikers. Dass das Ergebnis nicht trauriger Ambient sein muss, sondern durchaus tanzbar sein kann, beweist diese 10 Track starke Sammlung pumpender 4-to-the-floor-Stomper. Die Musik ist dabei maximal treibend, immer perkussiv und psychedelisch angehaucht.
Bei „A Precious Loss“ kommen beim Off-Beat-Bass und den Flächen im Gate-Modus Early-90s-Trance-Feelings auf. Eye Q lassen grüßen. „Gallery´s Endless Dream“ zwitschert schön im Acid-Modus, bis die Flächen einem die Träume versüßen. Darunter eine New-Order-Gedenk-Gitarre auf der Bass-Seite und ein paar scary Vocals. Ein perkussiver Synth ergänzt melodiös. „Movimentos“ überrascht mit einem ultra trancy Breaks, der es mir natürlich total angetan hat. Manchmal darf es auch ein bisschen cheesy sein. Mitunter hat man das Gefühl, dass der Produzent eher seinen Gefühlen gefolgt ist als die Tracks nach sturem (funktionalem) Muster zu kreieren. Tracks entwickeln sich oft in überraschende Richtungen oder enden leicht verfrüht. Allerdings muss – bei allen Verweisen auf den Sound der 1990s – betont werden, dass die Stücke nie in zu große Trance-Gesten abdriften. Richtig schöne und laaaange VÖ. Auf Doppel-Vinyl und natürlich digital erhältlich.
Nils’ Hit: „Movimentos“ – Why: Ich habe eine geheime Liebe für cheesy Trance-Breaks.
Elva Skyn – „Transparent Romance“ (Self-released)
Am 3. November ist unter dem Namen „Transparent Romance“ die Debüt-EP des Leipziger Projekts Elva Skyn erschienen. Auf den drei Tracks der EP entfaltet sich eine spannende Spielart von düsterem und kalten Electro-Pop. Dabei sticht ein Sound-Design hervor, das beileibe nicht durch Sparsamkeit charakterisiert ist, aber trotzdem mit Elementen der Konzentration aufs Wesentliche und Auslassung glänzt. Über diese Klangkulisse lässt man uns Hörer:innen in bedrückend intimer Direktheit an schmerzhaften inneren Monologen einer verletzlichen und selbstkritischen Stimme teilhaben. So entstehen sehr seltsame, bisweilen befremdliche Electro-Pop-Songs, die in ihrer kontemporären Düsternis eine diffuse, nach innen gerichtete Drohgebärde aufbauen.
Davids Hit: „Can´t U Feel It“ – Why: Weil es die Stärken des Projekts Elva Skyn ziemlich auf den Punkt zu bringen scheint.
Sun People – “After The End EP” (Defrostatica)
Eine neue Sun-People-EP auf Defrostatica? Das ist eigentlich immer eine sichere Nummer für gute Musik. Denn der Grazer Produzent, der btw. auch stärker im A&R des Leipziger Labels involviert ist, ist seit mehreren Jahren ein Garant für nahtlose Verwebungen von Techno, Jungle und Footwork. Genau richtig im Minimalismus, aber eben auch genau richtig in der breakigen Dynamik. Seine neue EP macht da keine Ausnahme. Vier treibend-elegante Tracks, die mit filigranen Sounds, dezent eingestreuten Vocal-Samples und einiges Deep-House-Chords der frühen Nuller-Jahre gleichermaßen Moderne und Nostalgie in Einklang bringt. Und das aber in 160 beats per minute. Das ist einfach sehr erwachsene Dance-Music mit einem feinen Gespür für Ekstase und Detailverliebtheit. Mega EP!
Jens’ Hit: “After The End” Why: Weil hier eben dieser feine Übergang von House und Breaks so extrem gut funktioniert.
Alexey Dunchyk – „The Knot EP“ (Recorded Things)
Wow, was geht hier? Sau-treibend steigt diese Techno-EP ein und es hebt einem gleich die Schädeldecke. „Marshmallows“ geht direkt nach vorn, die Kick drückt, die knarzigen und saugenden Sounds setzen sich sofort fest – und die metallische Hi-Hat setzt Akzente. „Surge Oscillation“ kommt nicht weniger fett mit seinem delayigen Geräuschteppich. Das ist Prime-Time-Rave. Ansonsten bietet die 5-Track-EP einfach sehr gut produzierte Techno-Tracks, die immer mit dem gewissen Etwas ausgestattet daher kommen. Funktional, fett und düster. Für Fans von Jeff Mills oder Umek.
Nils‘ Hit: „Marshmallows“ Why: Der Track hat eine so dermaßen soghafte Wirkung, man kann sich nicht erwehren.
Pony Pracht – „Google Poem“ (Self-released)
Nachdem sie im Jahr 2023 das phänomenale Solo-Debüt „Lomb“ veröffentlich hat, meldet sich Pony Pracht nun endlich wieder zurück mit einem bemerkenswerten Release – und einer spannenden Osteuropa-Tour. Auf anderthalb Tracks verdichtet, erkundet Pony Pracht die Wirksamkeit ihrer Stimme. Dem titelgebenden Track vorangestellt ist eine arithmetisch formalisierte Komposition eines Voice-Samples. Das Stück verlässt den Bereich den weiteren Bereich der Popmusik und erkundet die Möglichkeiten einer einzelnen Artikulation in einer Fortführung einer kompositorischen Tradition, die eher auf Wiederholung und Abweichung setzt, wie man sie etwa aus der Neuen Musik kennt.
„Google Poem“ wirkt daneben eher wie das popmusikalische Feature. Im Vordergrund steht eine metaphorisch verdichtete lyrische Kontemplation über Außenseitertum und Verlust zugrunde. Glasklar und zart gesungen schwebt der Gesang über einer zurückhaltenden, erneut durch digital stark bearbeitete Voice-Samples geprägte Begleitung. Über den Titel „Google Poem“ mischt sich ein kleiner, subversiver Zweifel in die Rezeption, wird doch die Frage nach textlicher Urheberschaft eröffnet, ohne abgeschlossen zu werden. Auflösen lässt sie sich nicht, aber Sinn würde es schon ergeben: Wenn unter dem Moniker Pony Pracht, wie in der Spotify Bio angegeben wird, „human voice […] digital manipulation“ trifft, dann ließe sich auch die eventuelle Rezitation eines AI-generierten Gedichts als performative Subversion lesen, ohne dass man auf zu viel Winkel-Advokatentum zurückgreifen müsste. Doch auch ohne diese Unterstellung bleibt „Google Poem“ ein intensiver, atmosphärischer Song. Pony Pracht braucht erneut nur wenig Raum, um ihre musikalischen und Ambitionen zu zeigen, wobei die Reduktion aufs Musikalische fast ein wenig kurz greift. „Google Poem“ ist ein tolles Stück von sensiblen und subversiven Electro Pop – die konzeptuelle Stärke des Releases scheint aber eigentlich noch ein bisschen heller und weckt großes Interesse.
Davids Hit: Es sind ja nur zwei Stücke, da ist genug Platz für beide.
Various Artists “Connwax 10” (Connwax)
Connwax hatte im November ein kleines Jubiläum zu feiern – den zehnten Release. Nach den letzten drei Artist-EPs war es nun offenbar wieder Zeit für eine kleine Werkschau aka Compilation. Mit Carlotta Jacobi und Oliver Rosemann sind zwei starke Konstanten der Leipziger Techno-Szene mit jeweils einem neuen Tracks dabei. Während Carlotta Jacobi einen kleinen Detroit-Ausflug mit einer gewissen Deepnee unternimmt, verdichtet Oliver Rosemann die Sounds und Beats zu einem maximal treibenden Strom. Auf der Rückseite gibt es dann den südafrikanische Newcomer Justyn Nell mit seinem groovy-schwingenden Techno-Track “Tiles” zu hören. Und mit Red Rooms ist auch ein in Berlin lebender Producer mit auf der “Connwax 10” – seine “Undercover Expeditions” rasen ebenfalls in hohem Tempo, während sich darum herum mehrere ein Synth in forschend-düsterer Atmosphäre den Dancefloor austastet. Eine sehr schlüssige und gute Compilation.
Jens’ Hit: “Stories Untold” Why: Weil Detroit einfach immer geht!
A² – „RM12030“ (R.A.N.D. Muzik)
More Music from Planet R.A.N.D.! Und diese Veröffentlichung ist wieder mal eine besondere. Bereits 2019 und 2022 erschienen sehr gute EPs des Produzenten-Duos A² bzw. dessen Mitgliedern aus UK auf dem R.A.N.D.-Label. Ich kannte die Musik von Andy Panayi und Alec Stone bis zum damaligen Zeitpunkt noch nicht und war umso erstaunter von der Zeitlosigkeit und Qualität der Musik. Eine kleine Recherche zum Act ergibt, dass Andy Panayi leider bereits 2020 verstorben ist. Gräbt man ein bisschen tiefer, erfährt man, dass A² Ende der Neunziger und Anfang der Nuller Jahre ihren Peak als Produzenten hatten und ein eigenes Label namens „An Alien Records“ betrieben haben. Viele der alten EPs sind stark gesuchte Schätze im Discogs-Universum.
Es scheint sich bei der vorliegenden EP um unveröffentlichtes Material zu handeln. „Street Renegade“ klingt super groovy und organisch. Ein verspielter Breakbeat und eine solide Bassline als Grundlage und darüber ein Arpeggio mit gefühlvollen Flächen. Geht gut rein. Bei den „Uptown Park Breaks“ ist der Name Programm. Alle Sounds klingen nach Qualität und es braucht nicht viel, damit der Track innere Sehnsüchte und zugleich die Tanzmuskeln triggert.
Das Konzept wird auf „Electro Boogie“ weitergesponnen. Auch hier sind es wieder die gezielt gesetzten Synth-Sounds und die Grooves, die den Track sofort bei einem selbst landen lassen. Die Voice-Samples tun ihr Übriges. Bei „Reckless“ gibt es dann zur Abwechslung mal einen 4/4-Beat. Der Break glänzt mit Vocoder-Sounds und Fläche, bevor es dann ab und nach vorne geht.
Wieder einmal sehr zeitloses Material, dem R.A.N.D. hier eine Bühne gibt.
Nils‘ Hit: „Electro Boogie“ – Why: Müsste ich eines der vier sehr guten Stücke wählen, wäre es dieser.
Rustre „Holding Hands With Runaways“ (Self-released)
Im November hat auch das selbsterklärte Leipziger „One-Person-DIY-Project„ Rustre eine neue EP veröffentlicht. „Holding Hands With Runaways“ ist ein Kabinettstück von sechs Songs, das in der begleitenden Kommunikation in den Kontext einer bislang ungewohnt deutlichen inhaltlichen Programmatik gestellt wird: Lyrisch beschäftigt sich die EP mit dem diffizilen Verhältnis von Anziehung und Abstoßung in sozialen Beziehungen.
Dieser thematische Fokuspunkt öffnet ein ganz neues Spielfeld für Rustre. Kannte man den Musiker bislang vor allem für atmosphärische und flächige Tracks, die nicht selten ins Meditative verwiesen haben, zeigt sich hier doch eine andere, in der über Jahre und nunmehr sechs Releases hinweg geschliffenen Klangästhetik durchaus überraschende Facette. Die sechs Tracks auf der EP wirken klanglich deutlich stärker voneinander abgegrenzt als bisher. Sie können (und dürfen vielleicht auch?) etwas mehr für sich selbst stehe – und sie müssen sich weniger in den Dienst einer Gesamtästhetik stellen, die auf früheren Releases schon mal über das komplette Werk herrschen durfte. Es wirkt fast wie ein Zulassen von herkömmlicherem Songwriting. Der Bewegungsraum von Rustre wird hier nochmal neu ausformuliert, ohne die bisher gepflegte klangliche Identität zu verleugnen.
„Holding Hands With Runaways“ kommt unmittelbarer aus sich heraus als der meditativere und atmosphärische 2021er Release „Quo“. Dass das Songwriting von Rustre hier Raum erhält, sich lyrisch auszudrücken und dazu noch die Freiheit bekommt, die Songstrukturen auch mal vergleichsweise gewöhnlich zu halten, lässt diese EP wie der perfekte Komplementär der sehr flächigen und meditativen, ebenfalls fantastischen „Quo“ wirken.
Davids Hit: „Lichen“ – Why? Weil ich diese Art von treibender Dreampop / Shoegaze / Postrock-Hymnen wirklich sehr gerne mag.
Bigalke “Schattenbraut” (Don’t Be Afraid Of Yourself)
Bigalke, langjähriger Distillery-Resident, hat in diesem Sommer sein eigenes Label gegründet – Don’t Be Afraid Of Yourself. Und darauf präsentierte er Ende November die zweite One-Track-EP namens “Schattenbraut”. Bigalke bespielt schon lange die Schnittlinie zwischen Techno, Industrial und Experimental. Mit seinem Label scheint er dies noch konsequenter zu fokussieren. Mit düsteren deutschen Spoken Words, kühlen Sounds, harsch-breakigen Hard-Tek-Bassdrums und einem Spiel zwischen Fetisch und Dystopie. Musikalisch hat das durchaus seine Anziehung, durch die Vocals bekommt der Track jedoch einen Pathos, mit dem ich wenig anfangen kann. Aber ich bin mir sicher: Zwischen den vielen Techno-Edits kann “Schattenbraut” durchaus hervorstechen und die Düster-Raver:innen gut abholen.
Jens’ Hit: “Schattenbraut” Why: Naja, ist ja nur ein Track. Was ich aber tatsächlich feiere, ist dieser breakige Vibe.