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Autor:in

Lea Schröder (sie/ihr)
Umgeben von leeren Mateflaschen und vollen Aschenbechern schreibe ich am liebsten gründlich recherchierte und stets viel zu lange Reportagen und Features, die sich mit politischen und gesellschaftlichen Dimensionen der Clubkultur beschäftigen. Bin in präpandemischen Zeiten so gut wie jedes Wochenende raven gegangen und lege als shrœderin energiegeladenen Techno auf. (Foto: Sophie Boche)

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Täter an den Decks – Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt durch Leipziger DJs

05. Februar 2021 / Kommentare (1)

Sie legen in Clubs und Off-Locations auf, veranstalten Open Airs, partizipieren in Kollektiven und sind fester Teil der Leipziger Clubkultur. Sie labeln sich als tolerant und feministisch, während sie die Grenzen anderer verletzen, sexuell übergriffig sind und sexualisierte Gewalt ausüben. Wir haben ein Problem in den vermeintlichen Safer Spaces unserer linken Rave-Bubble. Und das betrifft uns alle.

Triggerwarnung: In diesem Teil des Features werden Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt und anderen extremen Grenzüberschreitungen explizit geschildert. Wenn du dich mental nicht in der Lage fühlst, dich mit solchen Inhalten zu konfrontieren oder während des Lesens merkst, dass die Erfahrungsberichte dich triggern oder stark negative Gefühle auslösen, überspringe gern Teil I – in Teil II werden die Erfahrungen eingeordnet, ohne sie detailliert zu thematisieren, und Handlungsmöglichkeiten innerhalb unserer Szene aufgezeigt.

Das Feature als Podcast

„Die Täter werden geschützt. Entweder verschließen die Kollektive die Augen davor oder nehmen es in Kauf.“ – Clara

Ursprünglich sollte dieses umfangreiche Feature ein knapper, angepisster Rant über diejenigen DJs in unserer Szene werden, die ihre toxische Männlichkeit zelebrieren, mackern und mansplainen, sexistische Kommentare oder ‚Witze‘ raushauen und anderen Menschen durch grenzüberschreitendes Verhalten ein unangenehmes Gefühl geben. 

Mit Blick auf unsere clubkulturellen Räume, die sich mehrheitlich als emanzipatorische und antisexistische Safer Spaces begreifen, hatte ich zu Beginn meiner Recherche die Erwartung, ausschließlich Schilderungen solcher Mikroaggressionen zu hören. Retrospektiv ziemlich naiv – als ich Betroffene über einen öffentlichen Instagram-Aufruf bat, ihre Erfahrungen mit sexistischen und übergriffigen DJs mit mir zu teilen, zeigte sich schnell, dass ich das Ausmaß der Gewalt gegen FLINT*1 in unserer Clubkultur vollkommen unterschätzt hatte. 

Deshalb fokussiert sich dieses Feature – anhand des Beispiels der Leipziger Szene – auf sexuelle Belästigung, sexuelle Übergriffe, sexualisierte Gewalt sowie weitere drastische Grenzüberschreitungen durch cis-männliche2 DJs und Veranstalter.

Weil ich den Erfahrungen jeder Person, die mir derartige Erlebnisse anvertraut hat, Raum geben möchte, enthält der erste Teil zwölf Erfahrungsberichte – mal kompakt, mal sehr ausführlich. Im zweiten Teil verorte ich, was das alles für unsere Szene bedeutet und weise auf Möglichkeiten für Betroffene, Clubs und Kollektive sowie für alle anderen Leser*innen hin, die meiner Meinung nach dabei helfen können, mit solchen Vorfällen umzugehen und diesen enormen Missstand zu bekämpfen.

1 FLINT* bedeutet: Frauen, Lesben, Inter-, Nicht-Binäre- und Trans-Personen – also alle, die durch patriarchale Strukturen benachteiligt werden. Mehr dazu hier.

2 Cis-männlich bedeutet: Männer, deren Geschlechtsidentität mit dem Geschlecht übereinstimmt, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. Mehr dazu hier.

Die Spitze des Eisbergs: Was bereits öffentlich wurde

Im Dezember 2019 wurde eine Frau bei einem Konzert im Conne Island vergewaltigt. Der Täter: Ein Mitglied des auftretenden Performance-Kollektivs HGich.T. Während die HGich.T-Crew nur einen Tag später wieder auf einer Bühne stand, übernahm das Kollektiv des Conne Island in einer Stellungnahme Verantwortung, solidarisierte sich mit der Betroffenen und zog Konsequenzen.

Im Februar 2020 offenbarten anonymisierte Aushänge auf der Eisenbahnstraße, dass ein damaliger Mitarbeiter des Goldhorn Personen gegen ihren Willen zu sexuellen Handlungen gebracht hatte. Auch das Goldhorn bezog in einem Statement Stellung und sanktionierte den Täter. 

Ebenfalls Anfang 2020 zeigten Recherchen von Strg_F, dass Besucher*innen der Festivals Monis Rache und Fusion ohne ihr Wissen auf der Toilette und in Duschen gefilmt und die Videos auf Porno-Seiten hochgeladen wurden. Der Täter im Fall der Aufnahmen auf Monis Rache, damals selbst Mitarbeiter des Festivals, lebte bis zur Publikation der Recherche in einem linken Leipziger Hausprojekt und war von einzelnen Mitbewohner*innen gedeckt worden

Auch der sexuelle Übergriff durch den in linken Strukturen vernetzten Betreiber von Pivo und Rimini im Jahr 2018 wurde verschwiegen. Mitwissende unterstützten weiterhin seine Läden – und damit auch ihn – und beteiligten ihn aktiv an clubkulturellen Kontexten. Im Frühjahr 2020 wurde der Übergriff durch Unterstützer*innen der Betroffenen öffentlich thematisiert. Daraufhin wurde ein Statement anonymer Autor*innen veröffentlicht, das den Täterschutz durch Mitwissende innerhalb linker Kontexte in diesem Zusammenhang konkretisiert.

Im November 2020 erschien ein Erfahrungsbericht über die Leipziger Graffiti-Crew Radicals. Die anonyme Autorin schildert unter anderem, wie sie selbst und andere Personen sexualisierte Gewalt durch Crew-Mitglieder erlebt haben und wie das Geschehene von anderen Radicals-Mitgliedern verharmlost oder ignoriert wurde.

Diese Fälle von sexualisierter Gewalt in linken und subkulturellen Räumen in Leipzig sind nur die Spitze des Eisbergs. Für alle, die sich in raveaffinen Kreisen bewegen, sich mit elektronischer Musik beschäftigen und/oder mehr oder weniger regelmäßig im Conne Island, in der Distillery, im Elipamanoke, im Institut fuer Zukunft, im Mjut oder auf Open Airs zu elektronischer Musik feiern gehen, gilt: Unmittelbar in unserem Umfeld, quasi direkt vor unseren Augen, erleben FLINT* in Clubs, auf Afterhours und selbst im Freund*innenkreis Gewalt durch Cis-Männer, die als DJs von eben diesen Clubs gebucht werden oder selbst Open Airs oder Club-Veranstaltungen in Leipzig organisieren. 

Die nachfolgenden Erfahrungsberichte basieren auf Gesprächen mit den jeweiligen Betroffenen und geben die beschriebenen Erlebnisse gemäß ihrer Aussagen wieder. Sie enthalten keine fiktiven Elemente. Manche der Erfahrungen liegen wenige Jahre zurück, andere ereigneten sich vor einigen Monaten. 

Um die Identität der Betroffenen zu schützen, wurden sowohl ihre Namen als auch die Namen der Gewaltausübenden geändert. Aus demselben Grund werden die Namen der Kollektive und Clubs, die in den jeweiligen Erfahrungen eine Rolle spielen, nicht genannt. 

Illustration von Jasmin Biber

„Woher nimmt er sich das Recht, so etwas zu tun?“

Als auf Evas Handydisplay das Profil von Moritz erscheint, swipt sie nach rechts – ‚It’s a match!‘. Bei ihrem Treffen dreht sich das Gespräch hauptsächlich um ihn: „Leider kannte er kein anderes Thema als sein geiles DJ-Leben.“ Moritz spielt gelegentlich in Clubs oder auf Festivals und veranstaltet mit seinem Kollektiv regelmäßig Partys in kleineren Locations. Auch wenn er es offenbar darauf anlegt, lässt Eva sich von seinen ausschweifenden Erzählungen nicht beeindrucken – zwischen den beiden passt es einfach überhaupt nicht.

„Direkt nach dem Treffen bekam ich über mehrere Tage massenhaft Nachrichten. Ich wollte nicht mies sein und antwortete ab und an, jedoch nicht immer direkt.“ Offenbar ist Moritz der Meinung, dass Eva ihm mehr Aufmerksamkeit schenken müsse und schreibt penetrant, warum sie sich nicht direkt zurückmelde. Und dann: ‚Wenn wir uns das nächste Mal sehen, kassierst du dafür eine Schelle!‘. Eva ist schockiert, nimmt die Nachricht aber nicht ernst: „Ich dachte, das wäre ein Witz.“

Einige Zeit später laufen sich die beiden auf einem Open Air zufällig über den Weg. Moritz begrüßt Eva mit einem freundlichen Lächeln. Weil es ihr gerade körperlich schlecht geht, will sie ihre Freund*innen suchen. Bevor sie weggehen kann, sagt Moritz: ‚Ich hab noch was zu erledigen‘ und schlägt ihr ins Gesicht. 

Eva erstarrt. Der Schlag tut zwar kaum weh, doch sie ist so perplex von diesem Versuch der Erniedrigung und vermeintlichen Machtdemonstration, dass sie nicht weiß, wie sie reagieren soll. Ein Kumpel von Moritz hat das Geschehen mit einem Bier auf einer Picknickdecke sitzend mitverfolgt – er sagt nichts. 

Wortlos dreht Eva sich um und geht. „Ich habe mich wie im falschen Film gefühlt und diese Situation erstmal für ein paar Sekunden sacken lassen. Innerlich habe ich mich gefragt, ob das jetzt wirklich passiert ist und woher er sich das Recht nimmt, so etwas zu tun.“ 

„Nach vorne immer das tolerante Kollektiv vertreten, und dann sowas.“ – Eva 

In Moritz und Evas Freund*innenkreis gibt es Überschneidungen. So bekommt sie mit, dass Moritz etlichen Leuten erzählt, sie sei eine ‚Schlampe‘ und würde die ‚Lüge‘ verbreiten, dass er ein ‚Frauenschläger‘ sei. Ein Freund von Eva schreibt einem Bekannten, der auch in Moritz‘ Kollektiv aktiv ist, was passiert ist und fragt, wieso sie eine Person mit solchem Verhalten in ihrer Crew tolerieren. 

Moritz‘ Crewbuddy antwortet erst, das sei wohl eine Verwechslung, da sei er sich sicher. Er fragt nach weiteren Details und schreibt dann: ‚Mit den wenigen Infos ‚Moritz + Frauen schlagen‘ wäre ich ganz (!) vorsichtig.‘ Er würde die Angelegenheit gerne zeitnah klären – ‚Gerüchte‘ in Richtung seines Kollektivs könne er nicht stehenlassen. ‚Sollte (Konjunktiv!) da etwas dran sein, bekommt Moritz einen deftigen Einlauf von mir, da kannste dir sicher sein.‘

In derselben Nacht wird Eva mehrfach von Moritz angerufen. Eva geht nicht ran. Er schreibt ihr mehrere aggressive Nachrichten, wie ‚Was erzählst du für einen Scheiß?‘. Danach schreibt Evas Freund Moritz‘ Crewkollegen noch einmal. Dieser antwortet: ‚War nicht das Schlauste von ihm, der Hype darum aber auch nicht. Bin froh, dass es jetzt geklärt ist. Bitte haltet in Zukunft unser Kollektiv da raus, das würde mir sonst Fleisch aus meinem Herzen schneiden.‘ Wütend schreibt Evas Freund, dass der ‚Hype‘ seiner Meinung nach viel zu gering ausfiel. Daraufhin kommt keine Antwort mehr.

„Ich konnte noch nicht einschätzen, dass das richtig falsch und scheiße war“

Sophia und Niklas begegnen sich auf der Tanzfläche. Im Club kreuzen sich ihre Wege immer wieder, zunächst ein paar Blicke, dann ein erstes Gespräch. Niklas ist DJ und Veranstalter in einem aufstrebenden Leipziger Kollektiv. Die Vibes zwischen den beiden stimmen – sie vereinbaren ein Treffen. Er scheint ein angenehmer Typ zu sein, denkt Sophia. Bei ihrem Date haben sie schließlich Sex. 

Unmittelbar danach liegen die beiden nebeneinander im Bett. Niklas dreht sich zu Sophia, grinst sie an und sagt: ‚Schätz mal, wie alt ich bin.‘ Ein mulmiges Gefühl breitet sich in ihr aus. ‚Was soll das? Warum soll ich schätzen? Du hast mir doch gesagt, wie alt du bist!‘ 

Gut gelaunt und offenbar ohne jedes Schuldgefühl teilt Niklas ihr mit, dass er in Wahrheit einige Jahre älter sei, als er ihr gegenüber behauptet hatte. Er sei sich sicher gewesen, dass sie nicht mit ihm schlafen würde, wenn er ihr sein richtiges Alter genannt hätte. Deshalb habe er sie bewusst angelogen. „Der Sex war zwar konsensual – aber unter Vorbehalt. Ich hätte tatsächlich nicht mit ihm geschlafen, weil ich noch sehr jung war und mir dieser Altersunterschied zu groß gewesen wäre.“

„Ich habe überlegt, gegen ihn vorzugehen. Aber ich hab schon so oft gehört, wie die Leute, die das getan haben, danach Probleme hatten. Wenn man die Täter mit Namen benennt, hat man in unserem patriarchalen System einfach die Arschkarte gezogen.“ – Sophia

Wenige Augenblicke nachdem sie von Niklas Täuschung erfahren hat, realisiert Sophia, dass sie ohne Kondom Sex hatten. „Er ist einfach in mir gekommen. Das fand ich sehr übergriffig.“ Sie hatte nicht darauf geachtet – es schien für sie selbstverständlich, ein Kondom zu verwenden, wenn man zum ersten Mal mit einer Person schläft. Niklas hingegen hat das Risiko von sexuell übertragbaren Krankheiten oder einer Schwangerschaft schlicht ignoriert. 

Als sie ihn darauf anspricht, erwidert er gleichgültig: ‚Easy, ich dachte, du nimmst die Pille.‘ Vorher gefragt hatte er natürlich nicht. „Ich konnte zu dem Zeitpunkt noch nicht einschätzen, dass das richtig falsch und scheiße war. In dem Moment habe ich nicht so reagiert, wie ich gern reagiert hätte.“

Sophia ist nicht die Einzige, die sexualisierte Gewalt durch Niklas erlebt hat. „Er bringt die ganze Zeit Sprüche nach dem Motto, wann wir denn endlich miteinander schlafen“, erzählt Maja. Sie hatte nie ein sexuelles Interesse an ihm geäußert. Auch gegenüber Freundinnen von ihr war Niklas „verbal ziemlich aufdringlich“, sagt sie. „Einmal hat er mir beim Tanzen sogar einfach an den Arsch gegriffen, geht also absolut gar nicht klar.“ 

Hannah berichtet, dass Niklas ihren Körper ungefragt und abfällig bewertete, indem er einmal beim Feiern sagte, ihm ‚gefällt nicht‘, dass sie Gewicht verloren habe und sie früher ‚besser aussah‘. Als Niklas erfuhr, dass Hannah etwas mit einer gemeinsamen Bekannten gehabt hatte, sagte er zu dieser, dass er Hannah ‚zuerst ins Bett bekommt‘ und ihnen Geld geben würde, damit sie ‚vor ihm miteinander rummachen‘. 

„Er war ein guter Freund – natürlich hab ich ihm vertraut“

Mias Geschichte liegt wenige Jahre zurück. Damals ist sie in einer schwierigen Lebenssituation – nach einem Schwangerschaftsabbruch kämpft sie mit psychischen und körperlichen Folgen. Einige Wochen nach dem Abbruch geht sie zum ersten Mal wieder feiern. Nach ein paar Stunden auf der WG-Party spürt sie, dass sie die Menge an Menschen um sich herum zunehmend belastet, und beschließt, nachhause zu gehen. 

Als sie sich von ihrem guten Freund Noah verabschiedet, wirkt er besorgt. „Er wusste um meine psychische Labilität. Als ich einmal komplett zusammengebrochen bin, hat er mich zuhause besucht.“ Noah fragt: ‚Schaffst du es allein nachhause?‘ Sie erwidert: ‚Ja, klar. Kein Problem‘. Doch er besteht darauf, sie zu begleiten, und Mia stimmt zu. 

Als die beiden wenige Augenblicke später die Treppen herunterlaufen, bekommt Mia ein ungutes Gefühl. Sie sagt: ‚Noah, hier wird nichts laufen. Du weißt genau um meine Situation.‘ ‚Kein Ding‘, wiegelt er ab. ‚Ich bring dich nur schnell heim. Alles easy.‘

Schließlich stehen beiden vor ihrer Haustür. ‚Lass uns doch noch eine Tüte bei dir rauchen‘, schlägt Noah vor. Eigentlich will Mia nur ins Bett – aber ein kleiner Joint vor dem Einschlafen wäre sicher okay. „Einen Fremden hätte ich natürlich nicht in meine Wohnung gelassen. Aber er war ein guter Freund, der sich fürsorglich gezeigt hat – natürlich hab ich ihm vertraut.“

In ihrer Wohnung angekommen, packt Noah ein Baggy aus. ‚Komm, lass Keta ziehen!‘ Mia weiß nicht so recht, was sie tun soll. „Ich war krass verunsichert zu der Zeit. In einer anderen Situation hätte ich bestimmt einfach gesagt, dass ich keinen Bock darauf habe.“ Sie äußert ihre Bedenken, aber Noah geht nicht darauf ein und legt zwei ziemlich dicke Lines. ‚Nee, das schaff ich nicht‘, sagt Mia. Noah hält ihr ein Röhrchen hin. ‚Ach komm, hab dich nicht so!‘ Sie zieht. 

„Also hab ich mehr genommen, als ich eigentlich vertrage, und bin relativ schnell weggetreten. Dann hat er angefangen, sich an mir zu vergreifen. Ich hab zu der Zeit noch geblutet wegen des Abbruchs. Ich kann es nicht mehr richtig rekonstruieren, aber ich hab noch die Bilder im meinem Kopf: Er ist in mir gekommen, ohne zu verhüten. Als er das Blut gesehen hat, ist er aufgestanden, aufs Klo gegangen, hat gekotzt, ist gegangen und hat mich so da liegen lassen.“

„Sie haben gesagt, ich sei selbst schuld“

Mia und Noah haben den gleichen Freund*innenkreis. Als Mia gemeinsamen Freund*innen von der Vergewaltigung erzählt, glaubt ihr niemand. „Das war die klassische Täter-Opfer-Umkehr. Sie haben gesagt, ich sei selbst schuld. Es sei doch klar, was passiert, wenn ich ihn mit nachhause nehme.“ Diese Reaktionen von ihren eigenen Freund*innen verletzt sie schwer. 

„Wenn man sich in linken Clubs frei bewegen darf, muss man ein paar Regeln einhalten. Und dazu gehört eben auch, jedem seine Entscheidungsfreiheit zu lassen, was er mit seinem Körper macht und mit wie vielen Menschen man schläft.“ – Mia 

Weil Noah bei der Vergewaltigung nicht verhütet hatte, sah Mia sich dazu gezwungen, die Pille danach zu nehmen. „Die Hormonkeule durch den Abbruch war ja schon schlimm genug, und dann noch mehr Hormone.“ Sie hatte auch ihren Freund*innen davon erzählt. „Dann hat sich diese Clique über meinen Abbruch das Maul zerfetzt. Sie haben behauptet, dass ich die Abtreibungspille und die Pille danach als Verhütungsmittel nehmen würde. Und dass ich mit so vielen Typen schlafen würde, dass ich nicht mehr wüsste, wer der Vater ist.“ 

Sie verbreiten diese Lügen so weit, dass Mia sogar von einem Freund, der in einer hunderte Kilometer entfernten Stadt lebt, darauf angesprochen wird. „Die haben so hart intrigiert, dass ich mich ein halbes Jahr in keinen Club mehr getraut habe. Ich hatte wirklich Angst davor, dass Leute auf Afterhours mit verbaler Gewalt über meine Entscheidungen sprechen, die ich für meinen Körper getroffen habe. Meine Perspektive, meine Verletzlichkeit wurde einfach null gesehen.

Das ist ein fucking politisches Thema – wenn man sich in linken Clubs frei bewegen darf, muss man ein paar Regeln einhalten. Und dazu gehört eben auch, jedem seine Entscheidungsfreiheit zu lassen, was er mit seinem Körper macht und mit wie vielen Menschen man schläft.“

„Täter sind auch die, die Täter schützen“

„Erst lange danach ist mir das erste Mal eine Frau begegnet, die gesagt hat, dass das eine Vergewaltigung war. Wenn dir immer jemand einredet, dass du selbst schuld bist, dann glaubst du das auch irgendwann. Ich hab auch die Schuld auf mich abgewälzt und gedacht, dass ich ihn eben nicht hätte mitnehmen dürfen und es mein eigenes Pech ist. 

Es steht für mich immer noch im Raum, und ich bin auch noch im Prozess der Aufarbeitung. Ich hab bis heute Angst, wenn ich denen begegne. Ich hab schon öfter den Club verlassen, wenn ich gesehen habe, dass er da ist. Ich traue mich nicht allein in den Backstage und muss immer eine Person dabeihaben. Ich bin schon sehr davon eingeschränkt.

Ich habe es nicht geoutcallt, weil die Gruppe eine krasse Reichweite hatte und es geschafft hat, dass sich der komplette Freundeskreis von mir abgewandt hat. Sogar meine beste Freundin hat sich mit denen gegen mich verschworen. Ich hätte auch Vertrauenspersonen in den Clubs, mit denen ich darüber sprechen könnte. Aber ich habe Angst vor dem, was im Nachgang passiert – dass der Shitstorm wieder losgeht, wenn ich outcalle.

Ich finde, bei der ganzen Sache sollte im Vordergrund stehen, dass der Täter nicht nur allein der ist, der etwas tut, sondern auch die, die ihn schützen. Das sind Mittäter. Es ist so oft der Fall, dass den Frauen nicht geglaubt wird. Ich glaube, diese Täter-Opfer-Umkehr war für mich damals fast noch schlimmer als der Fall an sich.

Als ich Mia einige Zeit nach unserem Gespräch bitte, ihren Erfahrungsbericht für die Veröffentlichung zu autorisieren, erzählt sie: „Der Täter hat mich inzwischen wegen Rufmord angeklagt – wahrscheinlich, weil er Angst um seine zukünftige Karriere hatte. Ich musste eine Unterlassungserklärung unterschreiben, wo ich versprechen musste, nie wieder darüber zu reden. Ich habe noch ein Kontakt- und Annährungsverbot erteilt, das mich aber trotzdem nicht davor schützt, dass ich ihm nochmal begegne. Diese ganze Anwaltsprozedur hat mich sehr viel Geld gekostet. Der Shitstorm ging natürlich auch weiter – mir wurde unterstellt, ich hätte Wahnvorstellungen. Mir gings die ganze Zeit über echt scheiße. Dadurch, dass das alles wieder hochkam, habe ich leider eine krasse Retraumatisierung erlebt.“

„Victim-Blaming macht man auch bei sich selbst“

Als Franzi einem Bekannten schreibt, ob er noch einen Gästelistenplatz für eine von ihm mitorganisierten Clubveranstaltung frei habe, antwortet er: ‚Ja, du kannst einen haben. Aber was krieg ich dann dafür?‘ Irritiert fragt Franzi, was er damit meine. Er schreibt: ‚Du kannst mir zum Beispiel einen blasen.‘ 

„Was mich bei dieser Situation so schockiert, ist die Forderung dieser ‚Gefälligkeit‘, des Tauschs einer Gästeliste gegen eine sexuelle Handlung.“ – Franzi

„Das war vor vier, fünf Jahren. Ich hab das damals gar nicht richtig ernstgenommen und dachte: Naja, so ist er eben. Ich hab dann sowas wie ‚Ja lol‘ geschrieben, hatte aber die ganze Zeit ein ungutes Gefühl. Victim-Blaming macht man ja auch bei sich selbst, so im Sinne von: ‚Ich bin ja auch früher auf sein Flirten eingegangen‘ oder ‚Ich hab ihm nicht gesagt, dass das nicht cool ist‘. Weil ich das damals noch nicht benennen konnte, konnte ich es weder kritisieren und outcallen noch emotional verarbeiten. 

Ich hab erst viel später für mich festgestellt, dass da voll meine Grenze überschritten wurde und das absolut übergriffig war. Nachdem ich mich mehr mit Feminismus beschäftigt hatte, habe ich erkannt, dass das ein strukturelles Problem ist.“

„Ich hatte Angst, dass sie mich statt ihm rauswerfen würden“

Alice begegnet Josh im Club. Nebeneinander auf einem Sofa sitzend kommen sie ins Gespräch. Erschöpft erzählt Alice, dass sie gerade ziemlich dicht sei, und deshalb erstmal sitzen und chillen müsse. Josh erwidert, er habe Speed genommen und sei ziemlich klar. 

Plötzlich beginnt er, ihr Bein zu streicheln. Alice sagt ihm sofort, er solle aufhören. Er macht weiter. Sie steht auf und will zu den Toiletten gehen. Er greift an ihren Po und hält sie daran fest. Sie reißt sich los und geht. „Weil ich so druff war, bin ich nicht zu den Secus gegangen. Ich hatte Angst, dass sie deshalb mich statt ihm rauswerfen würden.“

Zwei Monate danach laufen sich die beiden zufällig in einem anderen Club über den Weg, unmittelbar bevor Josh mit seinem Gig beginnt. Wieder wird er übergriffig und versucht, sie zu berühren. Sie weicht aus und geht ihm den Rest des Abends aus dem Weg.

„Er hat seine Position als DJ extrem ausgenutzt“

Im Club kommt Johanna mit einem Mann ins Gespräch. „Er hat seine Position als DJ extrem ausgenutzt. Damals, mit Anfang zwanzig, fand ihn natürlich schon ‚cool‘.“ Er fragt sie, ob sie etwas von seinen Drogen haben wolle. Sie lehnt ab und sagt, dass sie grundsätzlich nicht konsumiere. Er schiebt ihr Drogen in den Mund. „Ich mag gar nicht weiter ins Detail gehen, aber es war super schlimm. Als ich ihn vor einem Jahr im Club gesehen hab, ist mir ist so übel geworden.“

„Es ist bekannt, dass er gegenüber vielen Frauen, gerade sehr jungen Frauen, extrem manipulativ war.“ Trotzdem sei er ihres Wissens nur von einem Club mit einem Hausverbot sanktioniert worden, während er in anderen Clubs noch immer unterwegs sei.

„Er weiß genau, wie er jemanden manipulieren kann“

Nach einem langen Rave nimmt Kathi erschöpft und dankbar das Angebot eines Bekannten an, sie mit dem Auto mitzunehmen und bei ihr zuhause abzusetzen. Die beiden kennen sich vom Feiern und waren ein paarmal zusammen mit anderen auf einer Afterhour. 

Kathi beschreibt ihn als „DJ, der sich tolerant gibt“. Sie hat ihn als sehr freundlichen Menschen kennengelernt. Rückblickend sagt sie: „In Gesellschaft anderer ist er immer sehr positiv. Er scheint sehr nett, zuvorkommend und verantwortungsbewusst zu sein – aber nur, wenn es ihm einen Vorteil bringt. Er weiß genau, wie er jemanden manipulieren kann, damit man tut, was er im Sinn hat.“

Ungezwungen plaudernd fahren sie einen ziemlich großen Umweg – wegen Baustellen, wie er behauptet – der sie letztendlich in die Nähe seiner Wohnung führt. „Er fragte mich, ob ich nicht doch Bock hätte, noch kurz bei ihm zu chillen. Ich wollte wirklich nachhause und schlafen – aber weil wir grade so eine angenehme Unterhaltung hatten und es sich so sicher angefühlt hat, dachte ich: ‘Eine halbe Stunde kann ja nicht schaden’.“

„Ich bekomme regelrechte Flashbacks von seinen Händen und dieser manipulativen Art.“ – Kathi 

In seiner Wohnung angekommen, sagt er ziemlich schnell, er würde sie doch nicht mehr nachhause fahren. Plötzlich fühlt Kathi sich gar nicht mehr sicher in seiner Gegenwart, das Gespräch ist angespannt. Sie ist unfassbar müde und erschöpft. Eigentlich will sie gehen, doch sie kann sich nicht vorstellen, sich in diesem Zustand in die Straßenbahn zu setzen. Ihre Wohnung ist ziemlich weit entfernt, der Heimweg scheint unmöglich zu schaffen. Sie schläft ein. 

„Ich weiß nur noch, dass ich irgendwann aufwachte und spürte, wie er von hinten sein Becken gegen meins drückte und seine Hände überall auf meinem Körper waren. Unter meinem T-Shirt, in meinem BH und auch in meiner Hose. Ich war völlig überfordert. Ich sagte, ich sei jetzt fit genug, um zu gehen, hab mir meine Sachen geschnappt und bin rausgerannt.

Seitdem habe ich ihn immer wieder in den Clubs angetroffen und bekomme regelrechte Flashbacks von seinen Händen und dieser manipulativen Art. Aus persönlicher Erfahrung kann ich leider sagen, dass das kein Einzelfall war, und auch nicht das ‚Schlimmste‘, das mir passiert ist.“

Über ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt in der Leipziger Clubszene allgemein sagt sie: „Leider ist meine persönliche Erfahrung mit der Männerwelt auch in den ‚alternativeren‘ Clubs nicht besonders positiv. Vom seltsam angestarrt werden beim Tanzen, über unerwünschte und unangenehme Unterhaltungen bis hin zum absolut unangebrachten und unerlaubtem Anfassen war schon alles dabei – da kann eigentlich pro Abend mindestens einmal mit gerechnet werden.“

„Ich habe das lange als ganz normal betrachtet“

Claras Erlebnisse mit Devin, der mit seinem in Leipzig etablierten Kollektiv regelmäßig Clubveranstaltungen hostet und Open Airs organisiert, erstrecken sich über einen Zeitraum von mehreren Jahren. 

Als sich die beiden 2017 kennenlernen, ist Clara nicht näher an ihm interessiert. Ein paar Wochen später begegnen sich die beiden auf einem Festival. Um eine Pause zu machen, setzen sie sich an einen ruhigen Ort. Wenig später fängt Devin an, sie zu berühren und versucht, sie verbal zu einem Kuss zu bewegen. Clara will das nicht und blockt ab, doch Devin hört nicht auf und drängt weiter.

 „Weil ich zu der Zeit noch jünger war, konnte ich meine Grenzen noch nicht ausreichend verteidigen oder sagen, dass ich das eigentlich nicht will.“ Nach einer ganzen Weile gelingt es ihm – Clara „gibt nach“, wie sie es ausdrückt, und die beiden küssen sich. Dass sie damals nicht ‚Nein‘ gesagt hat, belastet sie bis heute.

Nach dem Vorfall auf dem Festival trifft sie sich noch einmal mit Devin und die beiden schlafen miteinander. Einige Zeit danach begegnen sie sich auf einer Party. „Ich war sehr schlimm betrunken und konnte nicht mal mehr Fahrrad fahren. Das hat er ausgenutzt.“ 

Devin bringt sie ins Bett und legt sich zu ihr. Er beginnt, sie anzufassen. Diesmal sagt Clara ‚Nein!‘ – sie will keinen Sex mit ihm. Das scheint Devin nicht zu interessieren. Nach der ersten Vergewaltigung denkt Clara, es sei vorbei. Doch er macht weiter, mehrmals. 

„Das Bewusstsein, dass das nicht in Ordnung war, kam erst später. Ich habe das lange als ganz normal betrachtet.“ Auch deshalb spricht sie kaum darüber, erzählt dieses Erlebnis nur sehr wenigen, engen Freund*innen. 

„Wie er mich im Club angeschrien hat – das war eigentlich das Schlimmste“

Zwei Jahre danach feiert Clara in ihrem Lieblingsclub. Seit Monaten hat sie nicht mehr mit Devin gesprochen. Plötzlich taucht er neben ihr auf der Tanzfläche auf und sagt mit lauter Stimme: ‚Clara, du weißt doch, ich würde dir niemals wehtun! Warum sagst du sowas?!‘ Clara, eben noch im Tanzen versunken, ist so perplex, dass sie kein Wort herausbringt. Nach dem ‚Verpiss dich!‘ eines Freundes, der neben ihr tanzt, geht Devin.

Einige Monate später, Anfang 2020, ist Clara erneut im Club. Der Rave ist vorbei – die Musik ist aus, die Lichter an. Auf dem Weg zur Garderobe versperrt ihr plötzlich Devin den Weg. Ein paar Leute um sie herum sitzen noch auf Sofas, reden, rauchen und warten auf ihre Freund*innen. 

Clara gibt ihm zu verstehen, dass sie gerade keine Zeit für ihn hat. Er baut sich vor ihr auf. ‚Clara, ich will mich bei dir entschuldigen!‘, sagt er laut und für alle hörbar. ‚Ich weiß, wie das war. Du warst bestimmt voll verliebt in mich und bist deswegen sauer.‘ ‚Wenn du dich bei mir entschuldigen willst, dann ist das hier nicht der richtige Rahmen‘, entgegnet Clara. Ihr ist die Situation furchtbar unangenehm. 

Devin beginnt, in einem nicht enden wollenden Wortschwall auf sie einzureden. Seine Stimme wird immer lauter und lässt Clara keinen Raum für eine Antwort. Sie hatte sich im Club sicher geglaubt – in dieser Situation fühlt sie sich bloßgestellt, gedemütigt und erniedrigt.

„Mir ist es unangenehm, über diese ganze Sache zu sprechen. Aber das sollte es nicht sein. Ich schäme mich ein bisschen, und habe Angst, dass mir nicht geglaubt wird.“ – Clara 

Clara ist sich sicher, dass Devin sie mit diesen verbalen Angriffen präventiv einschüchtern und seine vermeintliche Macht ihr gegenüber demonstrieren wollte. „Er hat da eine richtige Show abgezogen. Er hat das nur für sich gemacht. Wie er da im Club stand und mich angeschrien hat – dieses Erlebnis ist eigentlich das schlimmste für mich.“ 

Clara fällt es hörbar schwer, ihre Erfahrungen zu teilen. Ihre Stimme zittert leicht, sie atmet schwer. „Mir ist es unangenehm, über diese ganze Sache zu sprechen. Aber das sollte es nicht sein. Ich schäme mich ein bisschen, und habe Angst, dass mir nicht geglaubt wird.“ Über Devin sagt sie: „Ich glaube, er weiß sehr wohl, dass er ein Täter ist. Aber er besitzt die Dreistigkeit, das immer wieder zu tun, weil er Frauen nicht respektiert.“

Hannah, die auch von Niklas sexuell belästigt wurde, berichtet ebenfalls von einer Erfahrung mit Devin: Als sie sich im Club auf einem Sofa sitzend ausruht, setzt sich der ihr flüchtig bekannte Devin einfach auf ihren Schoß. Während Hannah völlig perplex ist, sagt er grinsend: ‚Du hast mich wohl gern!‘, steht wieder auf und geht weg. „Weiteren Kontakt hatte ich nicht mit ihm. Ich habe mich nur nicht mehr wohlgefühlt, ihn in Clubs zu sehen, da er mir immer mit seinen Blicken ein unangenehmes Gefühl gibt.“

„Er wollte mich mit der Gästeliste locken“

Devin ist im selben Kollektiv wie Marcel, der regelmäßig in allen großen Clubs der Stadt auflegt. 

Als Sarah und Marcel ein erstes Tinder-Date haben, signalisiert er, dass er große Lust hätte, mit ihr nachhause zu gehen. Doch sie merkt schnell, dass sie kein Interesse an ihm hat. Ein paar Tage nach dem Treffen schreibt Marcel, er könne ihr einen Gästelistenplatz für ein Festival besorgen, sie könne mit ihm anreisen und auch in seinem Auto schlafen.

„Ich hab keinen Moment darüber nachgedacht, zuzusagen. Er wollte mich mit der Gästeliste locken. Auf einem Festival ist man ja nicht nüchtern, und da kann man die Person theoretisch besser ausnutzen, als es im Tinder-Date-Kontext möglich wäre, wo man nur ein Bier miteinander trinkt.“ Sie lehnt sein Angebot ab.

Ihr erstes Treffen wird die einzige Verabredung der beiden bleiben – allerdings laufen sich Sarah und Marcel im Club oder auf Open Airs regelmäßig über den Weg. Er versucht immer wieder, sich länger mit ihr zu unterhalten und wird dabei „ziemlich anzüglich“, wie sie es formuliert. „Es hat sich so über ein, eineinhalb Jahre hingezogen, dass er jedes Mal versucht hat, sich anzunähern, wenn ich ihm begegnet bin.“ 

„Ich habe seine Übergriffe permanent über mich ergehen lassen – im Nachhinein macht es mich traurig und ärgert mich total, dass ich damals noch nicht die Kraft hatte, um in den Situationen zu reagieren.“ – Sarah

Als Sarah eines Nachts im Club tanzt, bemerkt sie, dass Marcel in ihre Nähe kommt. Er positioniert sich hinter ihr und tanzt immer näher an sie heran, bis er so nah hinter ihr steht, dass sich ihre Körper berühren. Er legt seinen Arm um sie und bewegt seine Hand über ihren Bauch nach oben. Sie spürt seinen Mund an ihrer Wange. 

„Dieser eklige alkoholische Geruch… Das hat mich total angewidert. Ich hatte einen puren Fluchtreflex und wollte einfach nur weg.“ Sarah reißt sich los und geht. „Ich habe seine Übergriffe permanent über mich ergehen lassen – im Nachhinein macht es mich traurig und ärgert mich total, dass ich damals noch nicht die Kraft hatte, um in den Situationen zu reagieren.“

Als Sarah an einem Abend den Club allein verlässt, bemerkt sie, dass Marcel im gleichen Moment aufbricht. Bei ihm sind zwei seiner Freunde. „Das wirkte für mich so, als hätten die vorher bequatscht, dass er mich heute noch abschleppt. Die schienen irgendwie einen Plan davon zu haben, dass er Interesse an mir hatte.“ Draußen stellt sie fest, dass ihr Fahrradsattel gestohlen wurde. „Er hat sich ziemlich aufgedrängt, mit mir zusammen zu laufen.“ Da die beiden in unterschiedliche Richtungen müssen, geht sie allein. 

Am selben Abend schreibt er ihr mehrmals, dass bei ihm eine Afterhour stattfinde und sie gern rumkommen könne, wenn die anderen gehen würden. „Zu dem Zeitpunkt hab ich ihm schon gar nicht mehr geantwortet. Ich hatte mich ja auch noch nie mit ihm getroffen, abgesehen vom Tinder-Date am Anfang.“

„Er ist da rausgegangen, als wäre ich diejenige, die sich übergriffig verhält“

Dann beginnt Marcel, über den Zeitraum von fast einem Jahr ständig auf Sarahs Instagram-Storys zu reagieren. Er schreibt ihr Sätze wie: ‚Was geht?‘ und ‚Was machst du heute?‘ und fragt sie mehrmals nach einem Treffen. Manchmal schreibt sie, sie habe keine Zeit, manchmal schreibt sie ‚Nein‘ oder ignoriert seine Nachrichten. 

Einmal postet Sarah ein Selfie in ihrer Story – es zeigt sie im Spiegel, auf ihrem Bett sitzend. Marcel reagiert auf die Story: ‚Wanna hang‘. Diese direkt auf das Foto bezogene Nachricht hat für Sarah eine klare Botschaft: „Aus diesem Kontext heraus hatte ich sofort die Assoziation, dass er Bock hätte, in meinem Bett mit mir abzuhängen und irgendwann Sex zu haben. Ich fand das unangebracht und übergriffig. Ich habe mich in meinem privaten Wohnraum verletzt gefühlt, obwohl ich das Bild ja selbst gepostet hatte. Ich hab mich dann gefragt, ob ich meinen privaten Raum überhaupt noch irgendwo preisgeben will. Ich hätte einfach nicht gedacht, dass da jemand auf die Idee kommt, so etwas zu schreiben und das auf das Bett zu beziehen.“ 

„Mich kotzt es an, dass solche Typen eine Plattform in einem Raum bekommen, in dem aktiv gegen solche Verhaltensweisen vorgegangen werden soll.“ – Sarah 

Als Sarah mit ihrem Freund angetrunken in einer Bar sitzt und erneut eine Nachricht von Marcel bekommt, der sie nach einem Treffen fragt, reicht es ihr. Sie antwortet mit ‚Never ever‘, empfiehlt ihm, sich mal auf Tinder umzuschauen und schreibt dann ‚Tschau‘. Spontan nimmt sich ihr Freund ihr Handy. Er will Marcel provozieren und schreibt: ‚Willst du bumsen?‘ 

Marcel hat Sarah über Jahre hinweg penetrant und grenzüberschreitend – offensichtlich in der Hoffnung auf Sex – zu einem zweiten Treffen drängen wollen und sie sexuell belästigt. Dennoch scheint er zu glauben, diese Nachricht sei ernstgemeint: ‚Nö‘, antwortet er, und ‚Omg. Schon bisschen drüber, wie du direkt Sex haben willst. Schämst du dich da nicht ein bisschen?‘ 

Sarah schreibt ihm wütend einen langen Text, in dem sie ihm vorwirft, ihre Nachricht sehr wohl richtig verstanden zu haben und die Situation ins Lächerliche zu ziehen: ‚Ich will weder mit dir Essen gehen noch dich außerhalb des Clubkontextes sehen – und erst recht nicht mit dir bumsen. Wenn du es jetzt für nötig hältst, dich darüber lustig zu machen, zeigt das nur umso mehr dein gekränktes, fragiles männliches Ego und dass du leider nicht fähig bist, dich mal ernsthaft zu reflektieren.‘ Am Ende schreibt sie: ‚Ich fühle mich von dir bedrängt und bin deswegen mehr als deutlich zu dir gewesen. Und du hast mein Nein nicht akzeptiert – das empfinde ich als übergriffig. Respektier das.‘ 

Er schreibt: ‚Gut umgedreht. Hau rein. LG‘ und blockiert sie sofort auf Instagram und WhatsApp. Kurz darauf entfolgt ihr auch eine frühere Bekannte, die gut mit Marcel befreundet ist. „Daran habe ich gemerkt, dass er safe in seinem Freundeskreis darüber gesprochen hat. Er ist aus der Situation rausgegangen, als wäre ich diejenige, die sich übergriffig verhält.“

„Solche Typen bewegen sich in feministischen Kreisen, aber verhalten sich null feministisch“

Auch Marie hat negative Erfahrungen mit Marcel gemacht und berichtet von einem Übergriff.

Nach einem gelungenen Rave sind Marie und ihre Freundin zwar schon eine ganze Weile wach, aber noch immer topfit und angenehm beschwipst. Also zögern sie nicht, als ein paar Typen, die mit Maries Freundin bekannt sind, die beiden auf ihre Afterhour einladen. Nachdem Marie und ihre Freundin einiges an Sekt intus haben, stehen sie auf und tanzen ungehemmt zur Musik. Marie fühlt sich wohl in ihrem neuen Outfit, einem Sport-BH und Shorts, und genießt den Moment der Zwanglosigkeit in dieser angenehmen Runde.

„Bei Fremden fällt es mir oft schwer, mich zu entspannen. Diesmal habe ich mich getraut und dann sowas Rücksichtsloses erlebt.“ – Marie 

Ein paar Tage später erfährt sie, dass Marcel, den sie erst bei der Afterhour kennengelernt hatte, sie beim Tanzen gefilmt und das Video an zwei ihr unbekannte Personen geschickt hat. Wütend schreibt Marie ihm eine lange Nachricht, in der sie ihr Unverständnis für diese Tat ausdrückt, schildert, was sie in ihr ausgelöst hat und fordert, dass er und die anderen das Video löschen sollen. 

Marcels Antwort beschränkt sich auf vier knappe Sätze. Er bekundet Verständnis und versucht, seine Tat zu relativieren. Am Ende der Nachricht steht ein schlichtes ‚Sorry!‘. Als einige Zeit später eine Afterhour bei Marcel stattfinden soll, und Marie fragt, ob sie mitkommen kann, lehnt er entschieden ab. Offenbar fühlt er sich in der Auseinandersetzung um das Video ungerecht behandelt und ist beleidigt. 

„Für mich sind Afterhours etwas ganz Persönliches, wo man sich selbst entfalten kann. Er hat das ausgenutzt, um sich über mich lustig zu machen. Bei Fremden fällt es mir oft schwer, mich zu entspannen. Diesmal habe ich mich getraut und dann sowas Rücksichtsloses erlebt – das hat mich sehr traurig gemacht.“ 

Marie kann sich gut vorstellen, dass dieses Erlebnis sie zukünftig daran hindern wird, noch einmal so losgelöst in Anwesenheit von Fremden zu tanzen. Besonders regt sie der Widerspruch dieses Verhaltens auf: „Am meisten stört mich, dass sich solche Typen in feministischen Kreisen bewegen, sich aber null feministisch verhalten.“ 

Was es bedeutet, dass die Täter in unserer Clubkultur stark involviert sind, welche Parallelen sich in den individuellen Erfahrungen abzeichnen, welche Möglichkeiten Betroffene nutzen können, um gegen gewaltausübende Personen vorzugehen, wie Clubs und Kollektive Betroffene unterstützen können und was wir alle tun können, um unsere Clubkultur zu einem für FLINT* sichereren Raum zu machen, erfahrt ihr im zweiten Teil des Features.


Illustrationen von Jasmin Biber.

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  • Die Täter werden geschützt — kreuzer online / 15. Februar 2021 / um 15:52
    […] keinen Täterschutz mehr zu betreiben, sagt Journalistin Lea Schröder in ihrem Redebeitrag. Sie hat sich im Rahmen einer Recherche intensiv mit sexualisierter Gewalt in der Leipziger Clubszene auseinandergesetzt. Täter fühlen […]

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