Das Balance Club/Culture Festival begleiten wir schon von Anfang an – umso mehr freuen wir uns, dass wir zum digitalen Festivalstart der 2024-Ausgabe ein Multimedia-Essay von Whitney Wei und Yi Li bei uns hosten dürfen.
Vom 1. bis zum 3. November 2024 findet das diesjährige Balance Club/Culture Festival statt – wir hatten bereits ausführlicher darüber berichtet. Zum Start veröffentlichen wir ein spannendes Essay von Whitney Wei zur Frage, wie progressiv die Szene der elektronischen Musik eigentlich noch ist. Als ehemalige Chefredakteurin von Resident Advisor und Telekom Electronic Beats hat sie zahlreiche Artikel zur Clubszene, elektronischen Musik und zu Künstler:innen in Medien wie The Guardian und Vogue US veröffentlicht. Die Künstlerin Yi Li hat das Essay aufgegriffen – künstlerisch und multimedial.
Erst diesen September hat Aslice wegen Insolvenz seine Auflösung bekannt gegeben. Die Plattform war 2022 von DJ DVS1 ins Leben gerufen worden und sollte es DJs ermöglichen, Playlists ihrer Gigs hochzuladen und einen Teil ihrer Einkünfte an die Produzent:innen der von ihnen gespielten Musik weiterzugeben. Zumeist unentgeltlich gegen Promo. Zeitgleich veröffentlichte Aslice, ironischerweise unter dem Titel „A Slice Of Fairness“ („Ein Stück Fairness“), einen von einem externen Dienstleister fertiggestellten Bericht, der die erhobenen Daten auswertete. Schon das Vorwort des Autors David Boyle beschreibt den Zustand elektronischer Musik mehr als treffend; es geht vor allem um die eigene Ich-Bezogenheit: „Die Aslice-Story legt offen, wie abgekoppelt der Wunsch nach Fairness von der Bereitschaft ist, sich auch dafür einzusetzen“, schreibt Boyle. „Wir wollen mit dem Bericht feiern, dass ein solches Konzept möglich ist. Gleichzeitig wollen wir hinterfragen, warum wir uns am Ende aus Bequemlichkeit für den Status Quo entscheiden, anstatt für eine greifbare Alternative und fair pay, selbst wenn elegante Lösungen auf dem Tisch liegen.“ Boyle verweist auf eine Art Selbsttäuschung, die in der gesamten Szene zu finden sei: So sehr in der Szene zwar von Community gesprochen und eine Kultur des solidarischen Miteinanders heraufbeschworen wird, so selten entscheiden sich diejenigen, die über Gestaltungsmacht und Ressourcen verfügen, dafür, diese mit einem weniger privilegierten Gegenüber zu teilen. Und dieses Gegenüber sind meistens marginalisierte Nachwuchskünstler:innen.
Wachstumsprinzip um jeden Preis
Die elektronische Musikszene hat ein äußerst gespaltenes Verhältnis zu ihrer eigenen Marktwerdung. Denn auch wenn Underground-Zeiten vorbei sind und die einstige Aura von Techno inzwischen zum Phantom geworden ist, klammert sich die Szene nach wie vor an diesen vergangenen Mythos. Übrig geblieben ist eine milliardenschwere Industrie mit all den damit verbundenen Auswirkungen: extreme Einkommensgefälle und die Aushöhlung der ursprünglichen Werte des Genres.
Einst stand das Rave-Erlebnis, mit den Worten des Wissenschaftlers Liam Maloney gesprochen, „für Zugehörigkeit, Akzeptanz und Gemeinschaftssinn, und für ein Feiern der Unterschiede.“ Werte, die in der Clubkultur auch heute noch, wenn auch eingeschränkt, Bestand haben.
Die Szene-Player der Clubkultur halten sich aber eher mit Unterstellungen auf und zeigen mit dem Finger aufeinander, anstatt sich entschlossen gegen die eigentliche Ursache für den Abbau ihrer Werte zu stellen: nämlich die perfide Wachstum-um-jeden-Preis-Logik der Unterhaltungsindustrie.
Die aktuelle Debatte um den „TikTok-Hype“, der die Verwertung von Clubkultur befördere, bietet ein gutes Beispiel. „Techno Tok“, wie sich der Trend in Anlehnung an den auf TikTok verbreiteten Techno-Content nennt, gibt in kurzen Video-Snippets Party- oder Stylingtipps für Raves („Wie du ins Berghain kommst“) oder zeigt Tanztutorials. Das Unbehagen, mit dem die Szene diesem Phänomen gegenübersteht, erwächst aus der Sorge, dass die Content-Konsument:innen einen Lifestyle auf der Grundlage von Techno (oder jedem anderen elektronischen Musikstil), lediglich als eine Art Kostüm oder Trend begreifen, der wie die vorbeiziehenden Mikrofashiontrends nach einer Season wieder abgelegt wird. Dabei werde ausgeblendet, dass Techno im Kontext gesellschaftlich progressiver Werte und einer Kultur politischer Gegenkultur entstanden ist und über Jahrzehnte gepflegt wurde. Wenn also diese Counterculture zur reinen Ästhetik oder zu einem oberflächlichen Trend wird, wie können ihre progressiven Kernanliegen erhalten werden? Wie ein Artikel im Groove-Magazin von 2022 beschreibt, läuft man mit dieser Ignoranz Gefahr, die Werte und der darin enthaltene Respekt vor den Differenzen des Gegenübers zu ignorieren, weitere Ausgrenzung für marginalisierte Gruppen zu fördern und diese zu bedrohen.
Aber ist TikTok, das größtenteils von der Gen Z genutzt wird, wirklich das zentrale Problem? Über 60 Prozent der TikTok-Nutzer:innen sind Gen Z, der mit Abstand progressivsten Generation in Bezug auf die Rechte von LGBTQ+, Gendergerechtigkeit oder den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen. Zudem ist Gen Z statistisch die Generation, die weniger häufig ausgeht, weniger trinkt und sich in der Tendenz auch nicht mehr in Clubs herumtreibt. Natürlich gibt es Ausnahmen. Zum Beispiel sozial wie finanziell abgehängte junge, ethnisch homogene Männer in Deutschland, die bei den jüngsten Parlamentswahlen mit großer Mehrheit für die AfD gestimmt haben. Doch lassen sich die wiederkehrenden Probleme innerhalb der Clubkultur an leicht zu beeindruckenden Twenty-Somethings mit sich ständig verändernden Identitäten festmachen? Nicht vollständig.
Underground vs. extreme Kommerzialisierung
Mir scheint, das zentrale Problem besteht darin, dass die Clubszene sich nicht der Realität stellen möchte: nämlich, dass sie zu einer schnell wachsenden, globalen Milliardenindustrie geworden ist, die Investoren und private Unternehmen anzieht. Das zeigt sich auch daran, dass die Genremedien weiterhin so tun, als wären sie der Underdog.
Die meisten elektronischen Musikzeitschriften und ihre langjährigen Leser:innen konzentrieren sich oft nur auf einen sehr kleinen Teil von Musiker:innen, die noch „Underground-Integrität“ – ein sich ständig wandelnder Begriff – besitzen, während es gleichzeitig ein großes Abgrenzungsbedürfnis gegenüber „Business Techno“ (einer Art Sammelbegriff für kommerzielle elektronische Musik) und Mainstreamkünstler:innen wie Peggy Gou oder Fred Again gibt. Es ist der Versuch, sich einen Teil dieser Glaubwürdigkeit zu bewahren.
Und auch die Künstler:innen der Szene präsentieren sich als Gegenspieler zur etablierten Kultur, ein Verhalten, das die Wissenschaftlerin Danielle Antoinette Hidalgo in ihrem Buch „Dance Music Spaces“ in Anlehnung an die Wissenschaftler:innen Julian Schaap und Pauwke Berkers als „Authenticity Maneuvering“ bezeichnet. Der Begriff, den sie innerhalb der elektronischen Musik neu kontextualisiert hat, „versucht zu erfassen, dass von DJs und anderen zentralen Figuren der Szene eine Form von ‘authentischer Praxis’ erwartet wird, oder dass eine solche Praxis wenigstens performt wird, wenn sie mit der Branche interagieren.“ Einige Taktiken, die sie auflistet, umfassen „Name-Dropping“ (enzyklopädisches Wissen über Musik wird besonders geschätzt), Geschichten „von Früher„ erzählen, der Rückgriff auf ein PLUR-Credo (Peace Love Unity Respect), andere DJs als unauthentisch oder als „Sell-Outs„ anzuprangern sowie ein „Reflektieren und Aufklären über die Ursprünge des Genres.„ Mein Take dazu ist, dass diese Methoden ausschließlich in der elektronischen Musik und nicht in anderen Musikgenres zum Einsatz kommen, um von der hochgradigen Kommerzialisierung der Szene abzulenken.
Im Ergebnis kommt es zur Schieflage, weil zwar das eine gesagt, aber das andere getan wird. Die Gatekeeper:innen der Szene sind vor allem damit beschäftigt, in Online-Echokammern die Werte der Ravekultur heraufzubeschwören. Und niemand will zugeben, dass ein wesentlicher Teil der Clubs und Festivals inzwischen mit Feier-Städtetourismus, Ticketplattformen, kommerziellen Marken, multinationalen Konzernen, Kapitalanlegern, Private-Equity-Finanzplayern und nicht zuletzt zum Teil auch mit Social Media aus dem Rave eine Marke gemacht, seinen Undergroundstatus zerstört und so in ein spätkapitalistisches Modell eingepasst haben. Und da in diesem Markt zählt, ob ein:e Künstler:in viral geht und Veranstaltungen ausverkauft sind und dass möglichst viele Besucher:innen durch Clubtüren geschleust werden, steht außer Frage, dass ignorante kommerzielle Player ohne Verständnis für die Bedeutung der Clubkultur angelockt werden.
Der Verfall von Community-Werten
„Die Szene und Kultur waren Rückzugsorte für People of Colour, die in queeren und weißen Spaces nicht willkommen waren. Es ging bei elektronischer Musik um Liebe, Gemeinschaft, Befreiung und Sex und nicht darum, tagelang high und wasted zu sein“, schreibt die bekannte DJ Honey Dijon in einem Instagram-Post. Auch sie beschreibt eine Aushöhlung dieser Werte: „wenn ich darüber nachdenke, dass ein Musikgenre mit dem Anspruch, die Welt zu verändern, das von Schwarzen Jugendlichen und von Szene-Queens mit äußerst progressiven Ideen begründet wurde und nun von einer weißen Mittelschicht zur Unterhaltungsindustrie kolonisiert worden ist, bei der es nicht mehr darum geht, Künstler:innen zu pushen, sondern Social-Media-Stars … und genau das ist passiert, dann geht es für mich darum, die wahren Pionier:innen dieser Kultur in den Vordergrund zu stellen.“
Honey Dijon beschreibt, wie der Kapitalismus, oder in den Worten der radikalen feministischen Autorin Bell Hooks das „white supremacist capitalist patriarchy“ eine Kultur zerstört hat. Dieses System basiert auf der Ausbeutung von Frauen und People of Colour und hat die Angewohnheit, Kulturen zum eigenen Vorteil auszunutzen und zu verschlingen. Es gibt für gewöhnliche Clubbesucher:innen, die hin und wieder ein Ticket für Four Tet oder Richie Hawtin auf Dice kaufen, für den Junggesell:innenabschied nach Ibiza fliegen und vielleicht auch schon versucht haben, mithilfe eines TikTok-Tutorials ins Berghain zu kommen, keinerlei Grund, sich mit den Ursprüngen elektronischer Musik zu beschäftigen. Elektronische Musik ist nicht ihr Lifestyle oder ihr persönliches Interesse. Sie tauchen ins Nachtleben ein und kehren nach einer Clubnacht in ihr Leben zurück – und leider ist es ihnen erlaubt, genau wie es in jeder anderen Form von Kultur auch oberflächliche, „Drive-Thru“-Teilnehmer:innen gibt. Ein:e Kund:in kann jede beliebige, global populär gewordene Speise in einem Restaurant genießen, ohne jemals auch nur einen Gedanken an die unsichtbaren Formen der Unterdrückung verschwenden zu müssen, die diese Küche repräsentiert – auch wenn der:die Kund:in selbst rassistische Überzeugungen hegt.
Die frühen antifaschistischen Raves der 90er sind zwar vorbei – aber es gibt Hoffnung
Elektronische Musik ist in hohem Maße kommerziell und zum Mainstream geworden und wird im Laufe der Jahre zu einer weiter wachsenden, gigantischen Industrie mit steigenden Teilnehmer:innenzahlen werden. Es ist verantwortungslos, diese Welt noch als „Underground“, als „Subkultur“ oder als „Gegenkultur“ zu bezeichnen, wo doch offensichtlich ist, dass ihre Ursprünge in der Arbeiterklasse und in der Gegenkultur längst verblasst sind.
Ein Paradebeispiel dafür sind DJs, die bis zu 10.000 Dollar Honorar pro Set verlangen. Ein anderes, dass Tourist:innen rund 1,6 Milliarden Euro jährlich ausgeben, um in Berliner Clubs feiern zu gehen. Letztes Jahr kaufte die Investmentgesellschaft Group Artémis des französischen Milliardärs François-Henri Pinault die Creative Artists Agency für sieben Milliarden Dollar, bei denen unter anderem Dawn Richard, Amelie Lens und Eartheater unter Vertrag sind.
Es mag in dieser Welt zwar Underground-Enklaven geben, das ja, aber wir sind an einem Punkt angelangt, an dem Raven gehen kein Geheimnis mehr und keine Form des Ausdrucks für alternative Lebenskonzepte ist, wie es in den 1980ern in verlassenen Lagerhäusern und Kellern gewesen ist. So ist die Realität – und je eher wir uns klar machen, dass die antifaschistischen Raves der 1990er vorüber sind, desto besser können sich die Communities, die von der Kommerzialisierung betroffen sind, gegen diese Entwicklungen wappnen.
Doch nicht alles ist nur Sturm und Drang. Trotz der Megaclubs und ihrer rücksichtslosen Techno-Tourist:innen und all der Nachtschwärmer:innen, die auf Resident Advisor nach Tipps für den nächsten Rave suchen, gibt es auch weiterhin ausdauernde Venues von von sehr bewandten, engagierten Kulturschaffenden, die 200-Personen non-profit Parties für ihre queeren Genoss:innen feiern. Noch immer verlieben sich junge Menschen, die über große EDM-Festivals in die Szene gespült werden, in elektronische Musik und die dahinter stehenden politischen Überzeugungen. Noch immer finden in kleinen Off-Locations palästinasolidarische Raves und Soliparties für queere Gesundheit mit local DJs in der Nachbarschaftsbar statt. Noch immer gibt es unabhängige Festivals, die Schwarzen Künstler:innen eine Plattform geben.
Von Zusammengehörigkeit und Community
Die Clubkultur befindet sich in einer massiven Umbruchphase und bestimmte Elemente dieser rohen, befreiten, eng zusammenstehenden Ursprungskultur werden nie wieder so sein, wie sie mal waren. Die elektronische Musik hat sich im Wesentlichen verkauft und ist zum Big-Ticket-Entertainment für Massenunterhaltung geworden. Diese Entwicklung muss man betrauern. Aber die Kraft der selbstorganisierten Communities, die sich in nischigen Kellerclubs und Off-Locations trifft und Raves feiert, wo das Publikum tatsächlich die Diversität menschlicher Erfahrungen widerspiegelt – das wird niemals sterben. Dennoch: Solche Veranstaltungen sind kleine Tropfen in einem großen, aufgewühlten Ozean. Der entscheidende Unterschied ist, dass diese Erlebnisse oft nur minimale Gewinnspannen haben. Denn, im Gegensatz zur riesigen Industrie, die dahinter steht – geht es hier nicht um Geld verdienen, sondern um Zusammengehörigkeit und Community.