Eines der spannendsten Leipziger Labels feiert in diesen Tagen sein erstes großes Jubiläum: Defrostatica kann auf zehn Jahre und einen sehr gut kuratierten Backkatalog zurückblicken. Zugleich ist das Label straight nach vorn fokussiert. Zeit für ein Interview.
Im Sommer 2014 hatten wir bei frohfroh erstmals in einem kurzen Post davon berichtet, dass Robert alias Booga – einer der zentralen DJs, Promoter, Autoren und Netzwerker der hiesigen Breaks-Szene – ein eigenes Label gründen möchte. Ein Jahr später war es dann soweit: Mit einem Doppel-Release von Kator startete Defrostatica. Seitdem ist ein beachtlich vielseitiger und stilsicherer Katalog mit Releases von zahlreichen lokalen und internationalen Artists gewachsen – und mit ihm ein musikalisch erfrischend contemporary Blick auf alles, was Bass- und Breaks-Musik aktuell sein kann. Und genau dieser oftmal unkonventionelle Fokus zwischen Footwork, Juke, Jungle, Techno und Experimental hat mich immer wieder abgeholt, auch wenn ich persönlich gar nicht so deep mit breakigen Sounds bin.
Neben LXCs Alphacut Records ist mit Defrostatica im vergangenen Jahrzehnt also eine zweite Labelkonstante entstanden, der die beständig lebendige Breaks-Szene von Leipzig weit über die Stadtgrenzen hinaus repräsentiert – und der ihr zugleich spannende neue Impulse zurückspielt. Natürlich war Booga in dieser Zeit nicht allein unterwegs. In wechselnden Konstellationen sind bzw. waren immer wieder andere Mitstreiter:innen, Grafiker:innen oder Video-Producer:innen an der Ausgestaltung von Defrostatica involviert. Aktuell prägen vor allem Tina und Simon (aka Sun People aus Graz) die Labelarbeit entscheidend mit. Mit ersterer und Booga habe ich mich zum Interview getroffen. Ich wollte zurückblicken, aber auch hinter die Kulissen eines etablierten Indie-Club-Labels schauen; ich wollte mehr über vergangene und aktuelle Herausforderungen sowie die Pläne des Labels erfahren. Daraus ist ein sehr umfangreiches Interview entstanden. Als Soundtrack während des Lesens empfehle ich die „Future Sound Of Leipzig“-Compilation von 2018:
Zehn Jahre Defrostatica – wie fühlt sich das in diesem Moment für euch an?
Tina: Also, dieses Gefühl, dass fast zehn Jahren hinter uns liegen, hat sich bei mir noch gar nicht so verfestigt. Das passiert jetzt in Momenten wie bei diesem Interview oder als wir bei Radio Blau zu Gast waren. Bei mir ist es wahrscheinlich so, weil ich eine gewisse Zeit weiter weg und eher trabantenartig bei dem Label dabei gewesen bin. Jetzt erst rückt es wieder mehr in den Fokus. Dadurch hatte ich zuletzt für mich nochmals eine intensivere Beschäftigung. Was hat denn in den zehn Jahren alles stattgefunden? Was haben wir alles geschafft? Was haben wir für Artists kennengelernt? Was haben wir für Musik rausgebracht? Also es ist viel Reminiszenz dabei, würde ich sagen. Aber auch ein Stück weit das Gefühl: Krass, was wir geschafft haben. Ein bisschen stolz bin ich schon.
Robert: Ja, mein Gefühl ist, dass es das beste Gefühl ist, in der Musik zu sein, in der ich mich zuhause fühle – und dass ich Footwork, Juke, Jungle, Techno und auch Drum & Bass in irgendeiner Form mitgestalten kann. Dass ich nicht nur Beobachter bin, sondern ein aktiver Teil sein kann und dass wir was hinzufügen können mit den Künstlern, die wir repräsentieren. Das ist nach wie vor eines der besten Gefühle.
Das war sicher von Anfang an schon der Ansatz, oder? Also, dass ihr nicht ein klassisches Drum & Bass-Label betreiben wolltet. sondern eher mit einem progressiven Ansatz herangeht.
Robert: Der Anfang war, dass Kator Footwork- und Juke-Musik gemacht und die mit Jungle-Ansätzen verbunden hat. Das hatte damals hier in der Stadt so noch nirgendwo eine Präsentation. Der Sound rundum Drum & Bass hatte sich Ende der 2000er total diversifiziert. Labels wie Exit haben nur die Hälfte des Tempos gespielt und eine völlig andere Sound-Ästhetik entwickelt. Dann kamen Labels wie Planet Mu, die Footwork überhaupt erst auf den europäischen Radar gebracht haben – mit zwei Compilations, die absolut wegweisend waren, „Bangs & Works 1 und 2“. Mit dieser Art von Releases wurden auch Künstler in England wahrgenommen wie Ital Tek, Om Unit, Charlie Fracture oder Machinedrum. Und die haben was völlig Neues damit gemacht. Sie haben die Einflüsse, aus deren Richtung sie kamen, mit dem amerikanischen Chicago-Ansatz verbunden und neue Dinge gestartet. Das ist wahnsinnig schnell explodiert. Als Machinedrum dann live im Conne Island war, hatte ich das Gefühl, hier gibt es eine Musik, die etwas langsamer als die ist, die ich vorher kannte. Aber die hat mir wesentlich mehr gegeben, als das Drum & Bass zu dem Zeitpunkt geben konnte. Und dann kam Kator 2014 um die Ecke und stellte da ein paar Tracks online, bei denen ich dachte, dass dies ja mindestens Planet Mu-Niveau hat. Dann war klar, es gibt gar kein Label, das ich ihm hätte empfehlen können. Ich hatte zu dem Zeitpunkt auch keine Zeit, außer etwas organisierend zu machen. Da ist die Idee für das Label entstanden. Es war explizit der Sound und diese Mischlage aus Footwork, Juke, aber eben auch Jungle und diese Breakbeat-Einflüsse. All das hatte Kator schon verinnerlicht und zum Ausdruck gebracht. Und dann haben wir einfach angefangen.
Ihr habt euch relativ schnell sehr international orientiert. Kam das automatisch, weil diese Musik auch sehr international ist oder weil hier vor Ort dieses contemporary Mindset noch gar nicht da war?
Tina: Ich glaube, das kam ein Stück weit schon von selbst. Robert war ja lange im Veranstaltungsbusiness und auch als Autor tätig für It’s Yours oder Breaks.org davor. Da gab es auch schon Kontakte und dann hatten wir eben diese neue Spielwiese mit dem Label. Ab da war klar, dass wir bei unseren Kontakten anklopfen und sie fragen, ob sie vielleicht Tracks beisteuern wollen. Bei Kiat und anderen ging es zum Beispiel in so eine Richtung. Wir dachten, wir kennen sie doch, die machen super tolle Musik, aber sind vielleicht auf anderen Labels auch gar nicht so präsent, wie wir das erwarten würden.
Robert: Es gab schon von Anfang an die Idee, die Artists aus Leipzig mit internationalen Acts zu verbinden – aber eben auch solche zu featuren, die sich aus diesen Genre-Verfestigungen rausbewegt haben oder die bereit waren, diesen neuen Entwicklungen etwas hinzuzufügen. Tina war zu dem Zeitpunkt Veranstalterin für den Freitag der Distillery und sie hatte genau diese Vibes in ihrem Booking, den wir als Label versucht haben zu finden. Kabuki hatte sie etwa eingeladen, ein deutscher Künstler, der früher HipHop und Drum & Bass gemacht hat. Der hat in Leipzig genau den Sound gespielt, zu dem wir uns als Label hin entwickeln wollten. Es war dann kein Zufall, dass Kabuki auch Remixes für Kiat gemacht oder auch eigene Tracks beigesteuert hat. Es war auch kein Zufall, dass durch die persönlichen Verbindungen zu Kiat, einem Drum & Bass-Producer aus Singapur, auch Produzenten wie Agzilla aus Island oder Sinistarr aus Detroit in neue Projekte gezogen werden konnten. Das war so eine Art Domino-Effekt. Und von da an war es immer wieder so. Wir haben Platten produziert, wir haben die in die Läden gestellt, die Läden haben auf lokale Künstler ausgestrahlt. Schmeichel und Maltin Worf kamen dazu und auch die haben wir wieder in Verbindung mit internationalen Künstlern gebracht – in der Hoffnung, so neue Brücken zu ermöglichen.

Ist das gelungen aus eurer Sicht?
Tina: Ja, ich würde schon sagen. Gerade durch Remixe findet das den offensichtlichsten Ausdruck. Also, dass zum Beispiel Dj Badshape einen Track von Sinistarr geremixt hat, bei dem man genau diese Verbindung aus lokalen und internationalen Artists erleben konnte.
Robert: Wir konnten über die Kontakte auch Sachen zusammenführen, die wahrscheinlich weder dem einen noch dem anderen in den Sinn gekommen wären. Zum Beispiel Detroit’s Filthiest: Er war vor allem wegen seiner Electro- und Ghettotech-Tracks bekannt – und er hat bei uns eine EP gemacht mit einem Remix von BSN Posse. Das sind Spanier, die am Anfang der Footwork-Juke-Welle, die gerade nach Europa geschwappt ist, eben einen Detroit-Künstler auf eine Footwork-Jungle-Art geremixt haben. Und weder der eine noch der andere hatten vorher miteinander zu tun, aber es kamen super interessante Ergebnisse heraus.
Hat sich irgendwann auch so ein Demo-Fluss entwickelt, der dem entsprach, was ihr musikalisch vorhattet? Oder haben euch die Leute ganz anders wahrgenommen?
Tina: Ich glaube, es gibt beides. Es waren schon zunehmend Sachen dabei, die relevant für unseren Sound sind. Aber es gibt natürlich auch immer die, die so random einfach an 20 Labels Sachen schicken, ohne zu checken, was da für ein Sound dahintersteckt. Aber das ist auf jeden Fall der geringere Teil.
Robert: Uns erreichen in den letzten Jahren überwiegend die Artists, die das Label und den Sound kennen und schätzen, das ist natürlich schön. Aber wir möchten da nicht nur passiv sein, sondern wir sehen uns auch aktiv um. Da dies aber eine Sache ist, die ein ganz besonderes Händchen erfordert, haben wir vor drei Jahren den Schritt gemacht und uns mit Simon alias Sun People, einem Produzenten aus Graz, zusammengetan. Wir kannten uns vorher schon lose. Es gab freundschaftliche Beziehungen, er hatte einen Remix bei uns gemacht und wir haben gemerkt, dass wir bei ganz vielen Sachen – kulturell, musikalisch, politisch – ähnlich denken, funktionieren und handeln wollen. Er fing dann an, für uns die A&R-Betreuung zu übernehmen – also Artist & Repertoire. Simon hat auch viele neue Artists akquirieren können, auch aufgrund seiner Strahlkraft als Produzent und seines Sounds. Er hat beispielsweise Footwork mit Techno in Zusammenhang gebracht. Da konnten dann auch Leute wie DJ Strawberry, aber auch SlowRolla, La Dame oder Wrk.dat bei uns ein Heim finden. Das war eine wesentliche Bereicherung.

Gibt es so einen magic Mix, wo ihr bei einem Demo sofort merkt, dass ihr das rausbringen wollt?
Tina: Prinzipiell ist Robert derjenige, der stärker darin ist, zu formulieren, was an einem Track passt oder was daran das Richtige für uns ist. Was besonders insofern wertvoll ist, als dass er Artists konkrete Feedbacks in Bezug auf Dramaturgie oder Sounddesign geben kann. Bei mir ist es eher so ein Bauchgefühl, wo ich merke, der Sound und der Vibe stimmen und ich kann damit etwas anfangen.
Robert: Für uns spielt schon eine Rolle, ob jemand kontextbefreit auf uns zukommt – und das hört man in der Regel den Sounds auch an – oder ob die Leute eine interessante Inspiration in sich tragen. Bei Samotek aus Moskau war das beispielsweise der Fall, weil für ihn die Künstlerin A.Fruit, die seit fast einem Jahrzehnt den Bass-Sound in Moskau geprägt hat, ein wichtiges Vorbild war. Und sie hat ebenfalls stark den hybriden Bass-Sound um 160 BPM geprägt. Wenn der also mit dem Demo zu uns kommt und als erstes darüber spricht, dass sie seine Inspiration ist, dann verstehe ich, was er da tut, warum er wie etwas arrangiert und was er ausdrücken will. Das hat für mich ein ganz anderes Gewicht. Generell gilt: Kommt ein Demo zu uns, bei dem wir Potenzial sehen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir in der ersten Woche antworten, bei 100 Prozent. Bei Sachen, die vielleicht noch nicht so richtig zünden, legen wir das erstmal bei Seite und gucken es uns nochmal später an. Das heißt, auch hier hören wir auf unser Bauchgefühl, ob Originalität, Authentizität, Geschichtsbewusstsein spürbar sind. Manchmal ist es auch die Produktionsqualität. Aber im Wesentlichen ist es tatsächlich die Idee und die Dramaturgie in einem Track, die die Magie auslösen. Nicht nur das Aneinanderreihen von Themen und Rhythmen, sondern halt eine dynamische Entwicklung, die gerne auch einen Drama-Effekt haben kann. Das ist mir wesentlich lieber als ein „Malen nach Zahlen“.
Gibt es Meilensteine, die zurückblickend besonders wichtig für die Entwicklung des Labels waren?
Robert: Meilensteine sind definitiv ganz viele Releases. Es gibt nicht einen Release, hinter dem wir nicht mehr stehen. Darüber sind wir sehr froh. Wir können jedem Release weiter etwas abgewinnen. Einige scheinen auf jeden Fall für uns nachhaltiger durch, aber das ist vor allem eine individuelle oder persönliche Sache, deswegen würde ich gar nicht mal einzelne Releases herausheben. Wir sind unfassbar froh, mit allen Künstlern zusammenzuarbeiten, aber wenn ich jetzt Meilensteine beschreiben müsste, wo wir das Gefühl haben, wir treten aus unserem Leipziger Schaffen heraus, dann wäre das das Bandcamp-Editorial-Feature über ein Projekt von uns, in dem sich Leute mit einer B-Boy-Vergangenheit und einem großen Hip-Hop-Bezug mit Footwork, Jungle, Drum & Bass beschäftigten. Da konnten wir Künstler zur Interpretation dieses B-Boy-Sounds bewegen und haben zwei Compilations mit ihnen gemacht – „Rogue Style 1 und 2“. Daraus ist dann ein großes Editorial auf Bandcamp dazu erschienen. Da gab es einen Journalisten, der hat sich richtig eingearbeitet und fast alle Leute interviewt. Das war wunderschön zu sehen, denn das war auch eine Herkunftsbeschreibung. Ich bin selbst Kind der „Beat Street“-Ära in der DDR. Das war der Beginn von Do-It-Yourself-Kultur. Als ich dadurch festgestellt habe, dass es andere Künstler gab, die ähnliche HipHop-Filme oder HipHop-Kultur als DNA für sich bezeichnet hatten, obwohl die musikalisch etwas ganz anderes machen, dass es da sozusagen eine Gemeinsamkeit gab und dass die auf die Idee hin Tracks abgeliefert haben, der jeder für sich in eine bewusste Zurückführung auf diese Art von Wurzeln führen konnten, das war in der Anfangszeit für uns absolut fantastisch. Da wurden auch persönliche Brücken geschlagen, die es so vielleicht sonst nie gegeben hätte.
Ansonsten war jede Premiere bei DJ Mag ein Meilenstein oder dass Sherelle, eine großartige Repräsentantin des Sounds Sachen von uns im BBC-Radio oder auf Festivals spielt, dass Mary Ann Hobbs – quasi die Moderatorin für einen jungen, sich entwickelnden elektronischen Club-Musik-Sound – eine Leipziger Künstlerin wie DJ Badshape in ihrer Show hatte – das sind für uns alles wahnsinnig wichtige Meilensteine. Und natürlich jedes Event, das wir in Leipzig gemacht haben. Und unsere Labelparty in London Anfang 2023. Auch das war sehr schön zu sehen, wie Leute aus London zu einem kommen und sagen, welche Platten sie geil finden, das zählt für mich immer noch.
Wie ist das: Ein Label zu betreiben ist ja immer ein Spannungsfeld. Einerseits geht es um ein möglichst freies und unabhängiges Kuratieren. Andererseits gibt es auch wirtschaftliche Zwänge. Wie geht ihr damit um?
Tina: Ich glaube, worauf wir schon immer achten, ist, eine gute Balance zwischen Listening- und Club-Tracks zu finden. Wir wollen weder das eine noch das andere ausschließen oder komplett sein. Also es ist uns schon bewusst, dass die Musik, die wir machen Club-Musik ist und die soll auch im Club liefern können. Leute sollen dazu tanzen können und abgehen. Aber manchmal gibt es Soundideen, die nicht so gemacht sind für einen Club. Das hat auch eine Berechtigung und das wollen wir ebenfalls repräsentieren. Ich glaube, es ist uns wichtig ist, eine gute Mischung zu finden und beides zu vertreten – auch wenn sich vielleicht die Listening-Sachen nicht immer so gut verkaufen.
Robert: Also, wenn du mal einen Cheatcode von mir haben möchtest: Die letzten Tracks einer EP sind meine persönlichen Faves und Schlüsseltracks. Das gibt es bei ganz vielen Releases. Ich denke, dass eine EP gern auch am Stück gehört werden kann, um zu verstehen, was der Künstler oder die Künstlerin uns damit sagen oder ausdrücken möchte. So einen dramaturgischen Aspekt bei der Gestaltung von EPs gibt es in jedem Fall. Dass wir aber auf dem geschäftlichen Level wären, bei dem wir sagen könnten, wir haben hier einen Sound entdeckt, der sich besonders gut verkauft und wir wollen dementsprechend reagieren, diese Realität gibt es für uns nicht. Es ist klar, dass zehn Jahre Defrostatica eigentlich neun Jahre Zuschussgeschäft sind. Ich habe noch keinen Überblick über dieses Jahr, aber wir subventionieren das Label halt nicht mehr, so wie wir das ganz lange mit privaten Side-Projekten und Hustles gemacht haben, um Vinyl, Videos, Artworks und Merchandise rauszubringen. Wir konnten in den zehn Jahren viele Leute als Dienstleister in unseren Kreis reinholen und wollten denen auch gerechterweise die Arbeit entlohnen, aber gleichzeitig sind wir mit der Realität konfrontiert, dass sich Musik für uns im Wesentlichen auf Bandcamp verkauft und die Streaming-Geschäfte vielleicht 10 Prozent des Umsatzes darstellen. Das gibt einen Einblick, warum es nicht ganz leicht ist, im Musikgeschäft zu florieren. Und dann ist es so, dass wir in einem Umfeld agieren, in dem es nicht explizit die eine Szene gibt. Es gibt kaum Szene-Mags, die sich um Footwork drehen. Genauer gesagt, gibt genau eine Instanz weltweit – The Footwork Jungle. Das ist ein Instagram- und Soundcloud-Kanal, betrieben von Homesick und Anna Morgan, der seit vielen, vielen Jahren kontinuierlich Premieren und Mixe rund um den Sound repräsentiert. Auch wir sind da schon präsent gewesen. Das ist quasi die einzige Stelle, die sich in irgendeiner Form editorialmäßig mit der Sache auseinandersetzt. Also es ist schwieriger, die Interessierten und die Fans dieser Musik weltweit in irgendeiner Form, um dieses virtuelle Lagerfeuer aus Footwork und Jungle zu versammeln. Dazu kommen äußere Einflüsse, die jedes andere Label auch genauso betroffen haben. Es gab den Brexit, der einen krassen Einbruch beim Vinyl-Verkauf nach England nach sich zog. Das ist aber einer der wichtigsten Märkte für uns. Auch die Anpassung der Shipping-Kosten durch DHL macht es mittlerweile unmöglich, weltweit Kleinstpakete zu annehmbaren Preisen zu verschicken. Das heißt: Der Markt für Vinylversand über Bandcamp ist komplett zusammengebrochen. Es war auch nicht ganz leicht, überhaupt einen Vertrieb zu finden, der unseren Sound versteht und ihn entsprechend mit einem gewissen Push verkaufen kann. Das hat uns viele Jahre gekostet. Jetzt sind wir bei Clone und sehr glücklich darüber. Und dann kam natürlich die Pandemie, die dem ganzen Club-Vibe völlig den Stöpsel gezogen hat. Genau in dieser Zeit saßen wir auf richtigem Club-Gold und haben die „Hybrid Hooks“ veröffentlicht. Das ist nach wie vor die stärkste Compilation, die wir jemals auf Bandcamp verkauft haben. Wir haben damit auch die größte Brücke und Klammer zwischen Amerika, Europa und Asien geschlagen – allerdings in einen luftleeren Raum, abseits der Clubs. Das Timing war nicht immer auf unserer Seite. Aber es gibt uns immer noch. Und jetzt gibt es geschäftlich klare Entscheidungen, die bedeuten, dass wir bestimmte Sachen nicht mehr machen – fancy Videos oder teure Exporte etwa.
„Auf der anderen Seite haben wir uns jetzt aber ein Standing erarbeitet, bei dem spannende Künstler auf uns zukommen.“
Tina: Und das, ohne dass wir Vinyl oder Videos oder sowas machen. Ich glaube, am Anfang war das schon nochmal was anderes. Da hat es diese Extraausgaben vielleicht gebraucht, um eine Attraktivität gegenüber Künstlern auszustrahlen. Und das benötigt es jetzt nicht mehr in dem Maße.
Wie blickt ihr jetzt auf die nächsten fünf Jahre? Seid ihr gechillter, weil ihr dieses Standing habt?
Tina: Gechillt würde ich nicht sagen, weil der Struggle schon immer noch real ist. Und klar, dass wir jetzt auf die zehn Jahre zurückblicken und uns für keinen Release schämen, das sollte so auch weitergehen. Das schafft aber natürlich auch einen gewissen Ansporn.
Robert: Es gibt ja auch Aufgaben, die wir schon lange vorhatten und die wir immer vor uns hergeschoben haben, weil die Zeit, Kraft oder auch das Geld nicht da waren. Wir bauen gerade die Webseite neu auf, auf der jedes neue Release seine würdige Heimat finden soll. Wir reichern das mit Informationen, Editorials und Interviews an, die es nirgendwo anders gibt. Das wollen wir Stück für Stück irgendwann mal auf den gesamten Backkatalog ausweiten, aber auch das bedeutet Arbeit. Doch wir haben einige Ideen für die Zukunft, wie wir vielleicht unsere Musik nochmal anders erforschbar machen. Wir können zum Beispiel unseren Musikkatalog bei Streaming-Plattformen nicht als Label präsentieren. Es gibt nur die Künstlerebene.

Stimmt, das nervt mich auch. Ich hätte auch super gern eine Label-Übersicht, weil Labels ja gerade im elektronischen Musikbereich eine ganz andere Rolle spielen.
Robert: Genau, wir Indie-Labels betteln die Streamingdienste auf verschiedene Wege schon seit Jahren an, diese Katalogansicht zu ermöglichen. Wer ein Release mag, sollte auch ähnliche Releases von anderen Artists auf dem gleichen Label entdecken können – das würde den musikalischen Kontext, in dem wir arbeiten, überhaupt erstmal sichtbar machen. Ich habe keine Ahnung, wie die Leute auf Spotify oder Apple Music genau diese Art von Entdeckungen machen. Aber ja, wir wollen das eigentlich stärker mitgestalten und die Möglichkeiten haben. Das ist das eine. Es gibt eine Idee für unsere Website, die Musik, die auch bei uns super vielschichtig ist, besser entdeckbar zu machen, in dem zum Beispiel Filter genutzt werden können: in Tempo-Bereiche, in Kollaborationen, in Stile, in Subgenres etc. Aber auch das braucht Zeit, auch das braucht Geld, auch das können wir nicht von heute auf morgen machen. Wir wollen eigentlich auch unser Eventgame wieder an den Start bringen und bestenfalls zweimal im Jahr unseren Sound in die Clubs bringen. Wir wollen so auch unseren Künstlern die Möglichkeit bieten, neben einem Release auch bei uns aufzutreten.
Würdet ihr sagen, dass sich der Defrostatica-Sound trotz all der Offenheit in den letzten zehn Jahren verändert hat? Ich finde schon, dass die letzten Releases ja schon mal eine andere Ästhetik hatten.
Wie meinst du das? Wie würdest du die Ästhetik beschreiben aus deiner Sicht?
Noch ein bisschen offener, experimenteller, würde ich sagen. Und gleichzeitig auch nochmal präziser auf den Club fokussiert. Also ich habe das Gefühl, dass ihr immer mehr auf den Punkt kommt und zugleich noch mehr Überraschungen liefert.
Tina: Schön zu hören. Ich denke, dass es schon einige Grundparameter gibt, denen wir eigentlich über die zehn Jahre immer treu geblieben sind. Das ist zum einen die Tempo-Range, bei der wir recht konstant waren. Es gibt Ausreißer, aber die Regel ist eigentlich schon, dass wir da ziemlich klar sind. Aber ja, von der Sound-Ästhetik her würde ich auch sagen, dass es sich schon weiterentwickelt hat. Gerade auch durch Simon (Sun People) und seinen Techno-Einfluss hat es nochmals einen krassen Push in eine neue Richtung gegeben, der aber auch nachhaltig nachklingt bei anderen Artists.
Robert: Also, wir haben Künstler wie Hone Sound, ein Duo aus Dänemark, bei dem man schon klar hört, von wem die beiden auf unserem Label inspiriert waren. Und das ist eine schöne Sache. Das heißt, wir sind eher in der Lage noch Künstler zu binden, die verstanden haben, worauf wir abfahren. Innerhalb der drei Genre-Bereiche, in denen wir uns bewegen – Footwork und Juke, Jungle und Techno sowie Drum & Bass, Halfstep und Experimental – ist alles möglich. Es kommen dieses Jahr noch drei Werkschau-Compilations und zwei Label-Mixes heraus, die das repräsentieren. Da wirst du merken, dass die Farbvielfalt innerhalb der Tempi enorm ist. Aber trotzdem glaube ich, dass wir in der Lage sind, einem Defrostatica-Release einen bestimmten Ausdruck zu geben, den du vielleicht so nicht an einem anderen Label finden würdest. Aber: Kontinuität und Weiterentwicklung müssen auch nicht bedeuten, dass wir jedes Mal das Rad neu erfinden.

Spürt ihr mehr Offenheit bei den DJs? Aktuell kommt ja kaum eine Party damit aus, sich nicht genre-fluid zu branden.
Robert: Ja, schon. Es gibt auch automatisierte Tools, mit denen du feststellen kannst, ob bestimmte Tracks in online erschienenen Mixen vorkommen. Da stellen wir schon fest, dass gewisse Tracks von uns von jungen DJs auf Dekmantel und dem Outlook Festival gespielt wurden, die wir noch gar nicht kennen oder bemustern. Das freut uns zu sehen. Vor allem ist es super spannend zu sehen, wie manche das bei sich einsetzen, obwohl das vielleicht genre-mäßig nicht 1a zu ihnen passt. Es ist schön zu sehen, mit welchen Kontexten sie das ihrerseits in Verbindung bringen.
Ihr macht das Label ja nebenher – hättet ihr Lust, es fulltime zu betreiben?
Robert: Jederzeit.
Tina: Ich weiß nicht. Ich wünsche mir schon manchmal, dass ich mehr Zeit und Muße dafür hätte. Aber ich glaube, fulltime würde ich es nicht machen wollen.
Robert: Ich weiß nicht, wie es nach zwei Jahren wäre, wenn ich die Möglichkeit hätte. Aber na klar möchte ich das auch irgendwie anstreben. Wir leben hier in Leipzig in einer Realität mit Do-it-yourself-Leuten aus Breakbeat, Jungle, Drum & Bass, die mitunter seit 30 Jahren aktiv sind. Mit eigener Musik, eigenen Radio-Shows und Party-Reihen. So eine Kontinuität gibt es in keiner anderen ostdeutschen Stadt. Wir haben eine super große Stärke, trotz krasser Widrigkeiten, trotz Clubschließungen, trotz Clubveränderungen. Aber kann das irgendwann auch, gerade für unseren Bereich, wenn es ums Musikherstellen und Verkaufen und Präsentieren geht, aus der DIY-Ecke gehoben werden? Da müssten wir Konditionen wie in Berlin oder Hamburg haben, wo es beispielsweise eine Label-Förderung gibt, die das ermöglichen könnte. Aber in dieser Stadt fehlt das prinzipielle Verständnis. Es gab neulich eine Musikwirtschaftsstudie für Leipzig, die darauf hinweist, dass es bei uns keine Industrie bzw. keine Struktur gibt, auf die man zurückgreifen könnte. Ich hätte gerne mal ein Praktikum bei einem Label gemacht, um zu wissen, wie es geht. Das gibt es hier nicht. Klar: Die Angebote, die es mittlerweile von der Stadt gibt, sind für uns sensibilisiert – das Kulturamt, das Amt für Wirtschaftsförderung und auch der NachtRat. Wir sind ihnen ja seit Jahren damit auf den Keks gegangen, so dass sie wissen, vor welcher Situation wir stehen. Das Problem ist nur, dass sie sagen, wir brauchen jetzt noch ganz lange euren konzeptionellen Input, damit wir in irgendeiner Form daraus unsere Schlüsse ziehen können, um damit eventuell irgendwann mal Förderprogramme abzuleiten. Das heißt: extra Arbeit, die wir für die Arbeit, die wir quasi eh ehrenamtlich tun, auch noch machen müssen. Und ich weiß nicht, wo ich die Reserven dafür hernehmen soll. Es ist ja schön, wenn jemand an der Stelle quasi mitwirken könnte und das vielleicht auch nochmal mit Schwung und mit Kraft macht.
Tina: Man muss halt auch bedenken, dass das so richtig kraftraubende, einen langen Atem brauchende Lobbyarbeit ist, um dort irgendwas zu verändern. Und die Ressourcen hat einfach niemand, der eh schon mit so einem Label-Business involviert ist.
Eigentlich müsste das also jemand sein, der extern steht, oder? Also der kein eigenes Label hat, aber der Bock hat, das zu fördern.
Tina. Ja, genau.
Würdet ihr, Stand jetzt, 2025 nochmal ein Label gründen?
Tina: Nicht alleine – in einem guten Team.
Robert: In einem guten Team, ja. Am besten mit einer sehr überschaubaren Zahl an befreundeten Künstlern sowie einer klaren Vorstellung für eine Entwicklung des Sounds für mindestens fünf Jahre. Und mit dem unbedingten Willen, den schmalen Grat zwischen künstlerischer Unabhängigkeit, innovativer Soundentwicklung und dem Mut auch dem größtmöglichen Publikum gegenüberzutreten. Und das ist irgendwie am besten in einem Umfeld, das diesen Mut auch belohnt. Das würde voraussetzen, dass wir hier diese Verhältnisse hätten, was Label-Förderungen oder zumindest solche Strukturen angeht. Und ich denke, diese konzeptionelle Klarheit und vor allem auch Qualität, das könnte Sinn ergeben. Aber so wie ich das beschrieben habe, ist sowas wie wünsch dir was. Ansonsten, so wie wir es jetzt betreiben, würde ich nicht nochmal bei Null anfangen.
Tina: Oder sagen wir mal so, wie wir vor zehn Jahren gestartet haben, wäre es jetzt, glaube ich, nicht mehr denkbar.
Robert: Weil wir da auch keinen Plan hatten, worauf wir uns eingelassen haben.
Tina: Das war auch gut so, sonst hätten wir es wahrscheinlich nicht gemacht.
Robert: Auf jeden Fall.

Lasst uns am Schluss noch kurz zu eurer Jubiläumsparty kommen. Wie kam das mit Jahtari zusammen?
Robert: Da steckt eine super enge persönliche Verbindung dahinter.
Tina: Stimmt, wir haben seit Jahren eine enge Beziehung zu LXC und damit auch zur Bässestadt-Reihe. Und wir sind mega happy, dass wir eine Einladung ausgesprochen bekommen haben, weil das natürlich enorm viel Aufwand und auch Risiko von unseren Schultern nimmt. Die Zwei-Floor-Party zusammen mit Jahtari – einem großen Labelnamen, der in der lokalen Szene auch oft ein bisschen untergeht – ist eine coole Kombi, weil wir stilistisch ganz unterschiedlich aufgestellt sind, es aber Überschneidungen in der Hörerschaft und im DIY-Ansatz gibt. Wir freuen uns total auf den Abend und freuen uns natürlich auch einfach, dass es da Veranstalter und Crews gibt, die uns auf ihrem Schirm haben und die diesen Anlass wahrnehmen und uns da so aufs Tableau bringen. Das ist eine total schöne Wertschätzung und Anerkennung.
Was ist noch zum Jubiläum geplant – vorhin habt ihr Compilations angesprochen.
Robert: Genau, am 11. Oktober erscheint die erste von drei Compilations – Footwork und Juke, 20 Tracks aus zehn Jahren. Die wird es exklusiv bei Juno Download und Bandcamp geben. Eine tolle Werkschau. Einen Monat später gibt es eine ebenfalls 20 Tracks umfassende Compilation, die Techno mit Jungle verbunden hat. Wir operieren da auch mit dem Begriff „Jungle Tekno“, weil die allerersten Compilations, die 1991 oder 1992 zu Jungle rausgekommen sind, das so geschrieben haben – aber im Sinne einer Verbindung von Jungle und Technologie. So sehen wir das auch, obwohl es Elemente gibt, wie teilweise 4-on-Floor-Kicks, die da auch ihren Ausdruck finden. Dann gibt es im Dezember die dritte Compilation: Drum & Bass und Halftempo Drum & Bass plus experimentelle Sounds rund um den 170er-Cosmos. Da haben wir ganz wunderbare Artists aus Leipzig. Und dann schließen wir dieses Jahr noch mit den Mixen ab. Dann können wir wieder neue Sachen machen.
Das ist schon krass, dass ihr drei solche umfangreichen Compilations machen könnt – nur aus eurem bisherigen Katalog.
Robert: Ja. Das hat uns übrigens auch geholfen, nochmal zu sagen, was eigentlich unsere Parameter sind und wie wir unsere Zukunft weiterentwickeln wollen. Wir bekennen uns zu diesen drei Grundpfeilern und ich denke mal, dadurch können vielleicht auch Artists oder Producer sagen: Alles klar, ich finde mich hier da wieder und da vielleicht weniger. Aber ich sehe momentan keinen Grund, warum wir nicht weiter auf diesen drei Zylindern feuern sollten.
Partytipp: 11. Oktober 2025, Gxxx, 22:00 Uhr
Bässestadt Leipzig präsentiert 10 Jahre Defrostatica & 20 Jahre Jahtari
A.Fruit, Sun People, Kiki Hitomi, Tapes, Booga, DJ Badshape + Eine Million, Disrupt & Rootah, Plug Dub Soundsystem, Toni Wobble, Miles One, Mrn + Selekta Pehle, Doc Dressla