Wir gehen in Clubs, um Musik zu genießen, um zu tanzen, um Zeit mit Freund:innen zu verbringen, um Menschen zu treffen – um (kurz) abzuschalten und uns auszuleben. Teil V der Serie Clubkultur & Politik widmet sich dem neoliberalen und kapitalistischen System, in dem Clubkultur stattfindet.
Dieses eingangs beschriebene “Abschalten” ist, bei näherem und kritischerem Hinschauen, eine Notwendigkeit, die sich aus unserem täglichen Leben ergibt: Oft gehen wir in Clubs, um uns von der Realität zu befreien. Eine Realität in einem neoliberalen und kapitalistischen System, in der Leistungs- und Wettbewerbsdenken allgegenwärtig sind.
Warum können wir die neoliberalen Strukturen sowie Denk- und Handlungsmuster nicht einfach an der Clubtür abgeben? Es ist wichtig, Neoliberalismus zu verstehen, seine Logik und Funktionsweisen zu beleuchten – damit klar wird, wie neoliberale und, allgemeiner gesprochen, kapitalistische Denk- und Handlungsmuster reproduziert werden, auch innerhalb einer sich selbst als emanzipatorisch und alternativ bezeichnenden Szene und Clubkultur.
Es geht dabei nicht darum, mit dem Finger auf Clubs und Protagonist:innen der Clubszenen zu zeigen. Sondern darum, Mechanismen zu beleuchten, die trotz Bemühungen und bestem Willen vieler Clubbetreiber:innen und Besucher:innen weiterhin bestehen.
Neoliberalismus – was ist das und warum müssen wir darüber sprechen?
Das Wort “Neoliberalismus„ wird viel und gerne verwendet. Jedoch bleibt die genaue Bedeutung oft unklar und erscheint eher als ungenauer Sammelbegriff. Es geht um eine politische und vor allem wirtschaftliche Ideologie, die sich ab den 1970er Jahren schnell etablierte und deren Logik heute Wirtschaft und Gesellschaft bestimmt.
Der Neoliberalismus sollte nicht nur als Ideologie, sondern auch als konkretes politisches und wirtschaftliches Projekt verstanden werden, das durch Finanz- und Kommerzialisierung gekennzeichnet ist. Es ist eine Form des Kapitalismus, dessen Ziel die Reduzierung staatlicher Intervention und Präsenz in der wirtschaftlichen Sphäre zu Gunsten des sogenannten freien Marktes ist. Die neoliberale Ideologie beruht auf dem Vorrang des Marktes bei der Wertbestimmung und Verteilung von Ressourcen.
Diese Logik beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Wirtschaft. Vielmehr wurde es als Gesamtweltbild gedacht, dass das gesamte Leben nach dem Modell des wirtschaftlichen Wettbewerbs strukturiert und in einem Markt organisiert. Das bedeutet, dass nicht nur Konsumgüter nach Wettbewerbsprinzip und Angebot- und Nachfrage auf dem “Markt„ bereitgestellt werden, sondern dass diese Logik sich auch in unserem professionellen Leben sowie Privatleben manifestiert. Zum Beispiel im Studium, das fast immer nur dazu dient, Menschen “wertvoller” für den Arbeitsmarkt zu machen. Oder die Idee, dass Hobbies profitabel und monetarisiert werden sollten.
Die Gestaltung des privaten und sozialen Lebens ebenso wie unser Verhalten und unsere Mentalität werden in diesem Sinne beeinträchtigt. Solidarität, Selbst- und gegenseitige Fürsorge bleiben auf der Strecke zu Gunsten von monetärem und sozialem Kapitaldenken. Fame und Geld ist gleichbedeutend mit Glück, so sozialisiert uns der Kapitalismus.
Dabei wurde der Neoliberalismus in den 1970er Jahren von Intellektuellen und Akademiker:innen teilweise als eine Möglichkeit gesehen, eine neue gesellschaftliche Ordnung zu schaffen, die durch den Abbau und Rückzug staatlicher Autorität im wirtschaftlichen sowie sozialen Leben offener gegenüber individueller Autonomie und experimentellen Lebensweisen sein sollte.
So gesehen hätte der Neoliberalismus für Subkultur und alternative Orte durchaus von Vorteil sein können. Heute ist aber klar: diese Prognose ist unerfüllt geblieben, denn der Neoliberalismus ist voller Widersprüche.
Einerseits wird die Liberalisierung der Wirtschaft und des öffentlichen Raums gepredigt, andererseits werden Interventionen, sogar Zwang angewandt, um den “freien Markt” zu verteidigen. Weiterhin ermöglichte die Liberalisierung erst die Ausbreitung der Marktlogik und des Wettbewerb-Denkens in allen Aspekten des öffentlichen und privaten Lebens – welche letztlich Menschen zu einem bestimmten Verhalten bewegt, auf deren wirtschaftliches Umfeld einwirkt. Dazu später mehr.
Neoliberale Strukturen im Clubkontext
Ähnlich wie bei Rassismus und Sexismus in der Clubkultur stellt sich die Frage: Wie kann ein Club außerhalb der herrschenden Machtstrukturen existieren?
Clubs bieten oft den Raum für Eskapismus und ermöglichen einen vermeintlichen Ausbruch aus dem neoliberalen Leistungsdenken, der in den meisten Teilen der Gesellschaft nicht denkbar wäre. Die Möglichkeit dafür entsteht aus der kritischen Stellung gegenüber sozialen Verhaltensnormen sowie dem emanzipatorischen und widerständigen Grundgedanken der elektronischen Musik. Verhaltensweisen und Bestandteile der Clubkultur gingen historisch häufig Hand in Hand mit dem Hinterfragen von gesellschaftlichen Konventionen, Funktionsweisen und sozialen Erwartungen.
‘Der Club’ stellt einen Raum dar, indem unter anderem das Ausleben der eigenen Sexualität, Substanzkonsum und der Ausbruch aus der gesellschaftlich für angemessen gehaltene Tagesstruktur und dem permanenten Anspruch, leistungsfähig zu sein, ermöglicht werden könnten.
Doch was ist mit den wirtschaftlichen Normen? Das Hinterfragen dieser Normen scheint im Prozess bisher wenig stattzufinden. Vielmehr haben diese Wirkmechanismen des Neoliberalismus und Kapitalismus die ursprünglichen Prinzipien der elektronischen Musik und Clubkultur beseitigt.
Rave und Clubkultur hörten zum Großteil auf, eine Utopie zu sein, sobald sie etabliert genug waren, um kommerzialisiert zu werden und finanzielles sowie soziales Kapital zu generieren. Mit Utopie sind hier Räume gemeint, die im Zuge des Aufstiegs der Underground-Rave- und Clubkultur entstanden sind: Räume, die außerhalb des rassistischen, sexistischen, queerfeindlichen und kapitalistischen Systems aufgebaut werden sollten, um politische Schutz- und Entfaltungsräume für marginalisierte Menschen zu erschaffen.
Die Kommerzialisierung ist die Konsequenz des Erfolgs der Clubkultur, da die Popularisierung elektronischer Musik, der Szene und Orten innerhalb eines profitorientierten Systems grundsätzlich zu Kommerzialisierung führen wird.
Die Tatsache, dass Clubs und Menschen, die diese betreiben oder besuchen, zwangsläufig innerhalb des neoliberalen Systems (weil innerhalb unserer Gesellschaft) existieren, bedeutet, dass sie keine andere Wahl haben, als dem wirtschaftlichen Denken zu folgen. Konkret bedeutet das, dass Clubs finanzielle Einnahmen brauchen, um zu überleben, und Clubbesucher:innen Geld in Clubs ausgeben können müssen. Klingt logisch und einfach, ist aber der Kern des Problems.
Eintritt- und Getränkepreise, die Taxifahrt (die für viele, und vor allem marginalisierten Menschen, die einzige Möglichkeit ist, nachts sicher nach Hause zu kommen), – all das sind finanzielle Barrieren für Clubbesucher:innen. Andererseits sehen sich Clubs meistens gezwungen, hohe Preise zu verlangen, um Qualität zu gewährleisten und attraktive Line-Ups anzubieten – um den Club voll zu kriegen und finanziell überleben zu können. Qualität zu gewährleisten bedeutet teure Technik und ausgebildetes Personal.
Attraktive Line-Ups heißt (leider) meistens bekannte Künstler:innen zu buchen, die höhere Gagen verlangen. Ob sie es wollen oder nicht, müssen Clubs bis zu einem gewissen Punkt der Logik des Marktes folgen, um zu existieren, was bedeutet, dass Menschen beim Feiern dieser Logik ebenfalls ausgesetzt werden. Wie sollen sich also Protagonist:innen der Clubszene von der kapitalistischen Realität befreien, wenn deren Existenzen von dieser abhängig ist?
Neoliberales Denken und Handeln/Neoliberale Mentalität
Das volle Ausmaß der Problematik wird deutlich, wenn Auswirkungen des neoliberalen Kapitalismus auf individuelle und kollektive Handlungen und Denkweisen thematisiert werden. Wie schon erwähnt, handelt es sich beim Neoliberalismus um ein Weltbild, das alle Aspekte des Lebens nach der Logik des Marktes ausrichtet. Es findet zwar nicht unter konkretem Zwang wie Repressionen statt, vor allem aber indirekt: Im Neoliberalismus werden beinahe alle Lebensbereiche unter dem Aspekt der Wirtschaftlichkeit und des Profits betrachtet. Kurz gesagt: Unser komplettes Umfeld ist auf Profit ausgelegt.
Und da wir als Menschen immer in Wechselwirkung mit unserem Umfeld denken und handeln, existieren wir gezwungenermaßen als Bestandteil dieses Systems und verinnerlichen dessen Funktionsweise. Ein Beispiel: Wir alle wissen, dass unser Körper sich ausruhen muss – ebenfalls unser Geist. Häufig sind „Auszeiten“ jedoch entweder als Langeweile deklariert, werden mit Faulheit gleichgesetzt oder aber „Auszeiten“ und „Selfcare“ werden zu Luxusgütern, die sich nur diejenigen gönnen können, die es sich auch leisten können.
Dies ist nun insofern bei alternativen Milieus wie die elektronische Musikszene besonders von Bedeutung, da das Wirken des neoliberalen Gesellschaftssystems nicht unmittelbar als autoritär wahrgenommen wird. Das würde wohl vor allem in linken Kreisen schnell auf starke Ablehnung stoßen. Dadurch, dass wir von klein auf im System der Wirtschaftlichkeit aufwachsen, verinnerlichen wir es indirekt und nehmen dessen Wirkprinzipien teilweise nicht einmal wahr.
Verdeutlicht an unserem Beispiel: Meistens steht niemand neben uns und droht mit Strafen, wenn wir uns eine Auszeit nehmen. In unserem Kopf tauchen aber Sätze wie “Erst die Arbeit, dann das Vergnügen” auf – oder aber wir möchten uns einen Urlaub leisten können und wissen: Nur wenn ich genug arbeite, also genug verdiene, kann ich mir das ermöglichen.
In diesem Prozess wird alles (und am wichtigsten: Menschen) zur Ware und in einem Markt organisiert. Die Konsequenz ist die Notwendigkeit sich gegenüber anderen Menschen oder Einrichtungen (zum Beispiel Clubs, Kollektiven…) zu beweisen und durchzusetzen – was maßgeblich zum Individualismus beiträgt. Das Überleben der:des Stärkeren, der:des Erfolgreicheren.
Also: Individualistisches Denken und Handeln reproduzieren die Logik des Marktes und steht in direktem Widerspruch zu einem solidarischen Handeln, was wohl in dem bestehenden System einer der einzigen Wege ist, sich aus der neoliberalen Marktlogik zu befreien. Ohne konkretes solidarisches Handeln reflektieren Eskapismus und Befreiung im hedonistischen Clubkontext einen neoliberalen Freiheitsbegriff, der hauptsächlich aus individueller und oft egoistischer Freiheit auf Kosten anderer besteht.
Dadurch besteht die Gefahr, dass eine sich als inklusive, antirassistische und feministische verstehende Clubkultur trotzdem und weiterhin auf Kosten marginalisierter Menschen stattfindet, weil Ausgrenzungsmechanismen reproduziert werden, die tief im individualistischen, neoliberalen System verankert sind. Es werden Rassismus, Sexismus und nicht zuletzt Klassismus reproduziert, was beispielsweise bei der Türpolitik oder beim Booking sichtbar wird.
Was bedeutet das konkret für uns?
Eine solidarische, antirassistische und feministische Clubkultur muss es sich zur Aufgabe machen, sich der neoliberalen und kapitalistischen Logik des Marktes entgegenzustellen. Denn darin liegen die Ursachen der sozialen und wirtschaftlichen Ausgrenzungen marginalisierten Menschen, auch in unserer linken Clubkultur. Auseinandersetzungen mit solchen Fragen sowie Maßnahmen gegen Vermarktungslogik und die Konsequenzen gibt es durchaus schon.
Dieser Artikel soll nicht als Anklage verstanden werden, sondern als Anregung, sich noch kritischer und aktiver mit den Orten und Strukturen, in denen wir feiern, auseinanderzusetzen. Damit elektronische Musik, die Orte und die Kultur, die sie umgibt, weiterhin radikal bleibt oder es (wieder) wird. Radikal indem sie Räume schaffen, in denen bestehende Verhältnisse und Normen hinterfragt werden, und in denen neue Organisationsformen entstehen können, die Emanzipationsmöglichkeiten und Alternativen zu Vermarktungslogik bieten.
Partys auf Spendenbasis, kostenfreie DJ-Workshops oder Soli-Partys sind nur ein paar existierende Beispiele und zeigen, dass es bereits Ansätze gibt, die Marktlogik zu umzugehen oder zumindest zu minimieren. Es ist klar, dass vorerst alles weiterhin im bestehenden System stattfinden muss. Dennoch können neue Organisationsformen und Denkweisen Räume innerhalb des Systems schaffen, die nicht einer kapitalistischen Logik folgen, sondern Orte, die einen möglichen Ausweg zeigen und damit hoffentlich den Grundgedanken elektronischer Musikkultur:
Solidarität und die Möglichkeit, aus dem Alltag auszusteigen – geprägt von Leistungsdenken und Erfahrungen von Diskriminierung – für alle Menschen gleichermaßen zu ermöglichen.
Alle Fotos von Paula Kittelmann, die ihr als frohfroh-Autorin und Fotografin kennt. Hier findet ihr Artikel und Fotoserien von Paula.