Wie empfinden Wahl-Leipziger:innen ihre neue Heimat als clubkulturelle Wirkungsstelle? Das wollten wir anhand von drei Künster:innenporträts herausfinden.
Den Beweis für die Popularität Leipzigs bekommen wir auch noch Jahre nach dem Erfinden des Begriffs Hypezig zu spüren: Leipzigs Einwohner:innenzahl wächst seit Jahren – und auch 2021 haben wir abermals den ersten Platz auf der Liste der attraktivsten Städte Deutschlands ergattert. Es ziehen nach wie vor jedes Jahr viele Menschen aller Art zu uns. Unter ihnen einige Künstler:innen – wie auch drei Musiker:innen, die wir hier vorstellen möchten.
Inspiriert vom Text “Leipzig Export” meiner Kollegin Paula Charlotte Kittelmann, der 2019 in unserem frohfroh-Printmagazin gedruckt wurde, möchten wir die Wirkung Leipzigs als clubkulturelle Wirkungsstelle anhand ihrer Künstler:innen unter die Lupe nehmen. Diesmal jedoch nicht jene Künstler:innen, die aus Leipzig und Umgebung kommen, sondern die Leipzig als ihre Wahlheimat bezeichnen. Was macht Leipzigs Szene für Künstler:innen so attraktiv – wenn sie es überhaupt ist? Welche Wahrnehmung haben zugezogene Künstler:innen von der Stadt und wie schneidet sie im Vergleich zu anderen (deutschen) Orten ab? Hierfür haben wir drei deutschlandweit bekannte DJs und Labelbosse zum Interview gebeten, die alle aus unterschiedlichen Städten kommen und unterschiedlich lange schon in Leipzig leben.
Marie Montexier
Die erste Künstlerin, der wir uns widmen wollen, ist Marie Montexier. Seit Oktober 2020 ist sie in Leipzig ansässig. Um Marie als Künstlerin heute noch übersehen zu können, muss man wohl blind sein: Neben Auftritten im Boiler Room und Berghain sowie vielen, vielen internationalen Gigs hat sie nur aus den letzten Monaten einige Meilensteine vorzuweisen. Schon 2019 landete sie im GROOVE-Leser:innenpoll auf Platz 13 der besten Newcomer:innen, im letzten Jahr unter den Top 50 der besten DJs. Ihre vinyl-only Sets strotzen nur so vor Energie und werden durch punktgenaues Mixing charakterisiert; es scheint, sie darf als Headlinerin auf keinem Line-Up mehr fehlen.
Nachdem sie in Sankt Augustin, einem kleinen Ort in der Nähe von Bonn aufwuchs, zog Marie schnell nach Köln, wo sie auch vor drei bis vier Jahren mit dem Auflegen anfing. Sie merkt an, dass diese Anfänge nicht immer leicht waren – Technik und Platten sind schließlich nicht gerade günstig und eine männlich dominierte und musikalisch eher homogene Szene nicht bedingungslos unterstützend. Die Szene ist deutschlandweit krass privilegiert, macht Marie auch klar: mal hier tausend Euro für Plattenspieler, mal dort hundert Euro für Platten. Das ist nicht selbstverständlich und sie hat selbst lange sparen müssen.
Als wir uns darüber austauschen, kommt Marie sofort auf Leipziger Ressourcen wie den DJ-Proberaum im Conne Island zu sprechen. Sie freut sich, dass es hier solche Räume gibt, um nicht nur FLINTA*-Personen Zugänge zu ermöglichen, sondern auch Menschen, die geringe finanzielle Mittel haben. Junge Menschen, die Verantwortung übernehmen wollen, wären genügend da, man müsse ihnen nur den Zugang ermöglichen – so entsteht Nachwuchs, der auf die Szene Druck ausüben könne. Solche Projekte wären auch für Köln wünschenswert.
Leben und leben lassen?
Köln ist mit über einer Million Einwohner:innen zwar fast doppelt so groß wie Leipzig, was clubkulturelle Verhältnisse angeht jedoch deutlich weniger vielfältig. Aber keinesfalls vollständig abwesend: Da gibt es zum Beispiel etablierte Szenegrößen wie Kompakt – Plattenladen, Distribution und Label – den Gewölbe-Club oder das Hoove-Label, das Künstler:innen wie DJOKO released. Es gibt aber auch jüngere, diversere Projekte: zum Beispiel die Phonovision-Crew, die vor allem im letzten Jahr die Szene deutschlandweit aufgemischt hat, feministische Gruppen wie das Cumming Collective oder das DIANA-Kollektiv, breit aufgestellte Labels wie Spa Recordings und jüngere Clubs wie das Jaki.
Klar, ohne diese Stadt wäre Marie nicht dort, wo sie heute ist; als großen Einfluss nennt sie unter anderem den ehemaligen Kölner Plattenladen Topic Drift, der ihr dabei half, ihren Sound zu finden und ihre Liebe für Vinyl zu entdecken. “Leben und leben lassen,” so sagt sie, wäre das Motto der dortigen Szene. Nach ihrem Geschmack ist das nicht, denn dieses Motto bedingt die Stagnation der Nachwuchsförderung und dem somit fehlenden Druck auf geschlechtlich unausgeglichene Line-Ups. Junge Menschen würden sich dadurch seltener trauen, ihre Kolleg:innen und Vorbilder zu kritisieren; das Künstler:innendasein würde weniger als Beschäftigungsverhältnis und mehr auf emotionaler Ebene gesehen. Somit gäbe es gefühlt weniger Notwendigkeit, sich gegen Missstände auszusprechen.
“Leipzig ist dagegen ein gemachtes Nest.”
Das ist es auch, was Maries Umzug aus Köln nach Leipzig motiviert hat: Sowohl ihre politische- als auch ihre Lebenseinstellung. Abgesehen natürlich ihrem neu angefangenen Studium, das sie ohne der Pandemie aus Zeitgründen wohl nie angefangen hätte. Dass es hier günstigere Mieten, mehr Wohnraum und mit der Uni eine gute Infrastruktur als junge Person gibt, kann man natürlich auch als Vorteil betrachten. Aber: “Ein Ort ist immer nur so gut, wie die Menschen, die man dort kennt.”
Und warum nicht Berlin, vor allem als etablierte Künstlerin? “Klar wäre Berlin das Mekka der elektronischen Musik, ich wollte aber nicht in einer Metropole leben.” Dass Berlin manchmal doch einfach zu stressig ist, das bestätigt später auch ein weiterer Künstler.
“Mir ist die Decke auf den Kopf gefallen.”
Vor ihrer endgültigen Ankunft in Leipzig hatte Marie zwar schon zweimal hier gespielt, jedoch wenig von der Stadt mitbekommen. Dass sie keine großen Erwartungen hatte, machten die positiven Überraschungen umso angenehmer: “Ich hätte nicht gedacht, dass hier so eine große und junge Szene ist.” Sie betont die vielen Kollektive, von denen sie den Großteil nicht auf dem Schirm hatte, die eher miteinander statt gegeneinander arbeiten.
“Der Teich ist voller Fische!”
Auch, wie politischer Aktivismus in Leipzig innerhalb der Clubkultur gelebt wird, findet Marie bemerkenswert. Bei grenzüberschreitenden Situationen, die vor allem öfter sichtbar gemacht werden, ist viel Awareness und Solidarität da. FLINTA* wissen sich zu organisieren.
Dass die Clubkultur von der Stadtpolitik so viel Förderung erfährt, hebt Leipzig nicht nur innerhalb der eingeschlafenen sächsischen Gefilde hervor, sondern auch deutschlandweit. Denn, wie anfangs erwähnt: mangelnde Kulturförderung bedingt strukturelle Problematiken, wenn das Klassenthema unter den Tisch fällt und kulturelles Kapital nicht auf Anhieb gegeben ist. Inmitten all dieser Stärken bleibt für Marie aber doch ein Kritikpunkt: Auch in Leipzig wäre insgesamt, wie auch in anderen deutschen Städten, mehr Selbstreflexion in Bezug auf soziale Nachhaltigkeit wünschenswert – Stichwort finanzielle Privilegien. Klar ist aber, wie Marie betont, dass während ihrer kurzen Zeit hier, die Leipzig vor allem im Lockdown oder Teil-Lockdown verbracht hat, ihre Wahrnehmung immer noch limitiert ist.
Die Fotos, die wir von Marie für den Text machen, finden in ihrer eigenen Wohnung statt; einem Ort, an dem sie während der Pandemie viel Zeit verbracht hat, da ihr beruflicher Raum auch in ihrem privaten Raum stattfindet. Eine Grenze, die für Menschen, die sich hauptberuflich der elektronischen Musik gewidmet haben, schnell verschwimmt.
Eine notwendige Möglichkeit aus diesem Raum auszubrechen, ist für sie Sport, insbesondere Fußball, gewesen, den sie auf Plätzen in Plagwitz oder Lindenau gespielt hat. Marie ist eine außerordentlich aktive Person, die damals wie heute noch oft als einzige Frau im Team spielt. Dort, wie auch auf diversen Basketballplätzen oder beim Klettern, fühlt sie sich sehr wohl.
Im Ballsport ist der Gedanke des Teams elementar, egal ob man die gleiche Sprache spricht, aus derselben Bürger:innenschicht kommt oder nicht. Dass man keine Worte braucht, um zu kommunizieren, kann auch eine gute Gemeinschaft formen, meint Marie, und das gefällt ihr so am Fußball. Ähnlich wie auf dem Dancefloor; einem Ort, an dem es egal ist, wo man herkommt oder wer man ist.
Als Teamplayer würden sie sicherlich auch ihre Peers bei der Warning-Crew in Berlin bezeichnen, die Marie nicht nur als ihre Residency aufzählt, sondern auch ihre Family nennt. Mit ihrem damals noch sehr auf Newschool-Breaks fokussierten Sound, der heute deutlich technoider geworden ist, nahm die Crew Marie “unter ihre Fittiche” und pushte sie dorthin, wo sie heute ist. Dass sie in Köln zuerst musikalisch weniger Anklang fand, war wohl
ein Glück im Unglück.
Abgesehen von Warning nennt Marie ihre Zugehörigkeit bei Précey, einem FLINTA*-Kollektiv, das sie gemeinsam mit drei weiteren Frauen aus Köln heraus organisiert und mit dem sie hauptsächlich im Jaki Club eine Veranstaltungsreihe hosted. Abgesehen davon war eines ihrer größten Projekte 2021 das neu gegründete Label Paryìa, welches bisher ein Release und mit Paryìa FM eine Show bei HÖR verzeichnen kann. Und obwohl sie sich im Kölner Gewölbe-Club zuhause fühlt, freut Marie sich, bald einen Club in Leipzig zu finden, in dem sie sich als Besucherin genauso wohl fühlt.
Reece Walker
Einen deutlich weiteren Weg nach Leipzig hatte Reece Walker alias DJ Carmel, denn ursprünglich kommt er aus Perth in Australien. Was seinen Bezug zur Szene angeht, ist Reece praktisch ein Local. Obwohl es natürlich anfangs ganz anders aussah: “Coming to Leipzig first I was pretty nervous being in a city with not that many foreigners.”
Bevor er vor fünf Jahren hierher zog, wohnte er in Berlin, einer Stadt, die natürlich weitaus mehr englischsprachige Menschen beherbergt und im Gegensatz zu sächsischen Großstädten für ihre Weltoffenheit weitaus bekannter ist. Er meint, dass alles, was er an Berlin so gut fand, ihn auch an Leipzig reizte: günstige Mieten, geschichtliche Anhaltspunkte, eine gesunde Clubszene und generell weniger Druck, was das Künstler:innendasein anging.
“It’s a bit of a cliché – Australians moving to Berlin for more authentic parties.”
Er sagt, die Clubkultur spielte definitiv eine Rolle bei seiner Entscheidung umzuziehen, zwar nicht zentral, aber maßgeblich. Denn für ihn lag der Fokus stattdessen auf das Leben als Kreativschaffender, mit weniger finanziellen Zwängen und einer Szene, die zwar kein unbeschriebenes Blatt, aber noch beeinflussbar war. “It was more feasible to live off and create music here than a lot of other places. I just wanted to live somewhere I could enjoy myself and do my thing without too much pressure.”
Bevor er sich endgültig dazu entschied, hierher zu kommen, war er nur ein paar Mal zu Besuch, bei Freund:innen und auf Partys. Aber die Entscheidung zum Umzug bereut er bis heute kein bisschen: “It was one of the best decisions of my life to move here.”
Angekommen in einer fast zu gesunden Szene
Ohne Frage, ein Umzug bringt viele Veränderungen mit sich. In Reece’ Fall hieß das, erstmal klarzukommen: “I realized I had to sort my shit out – which is also, I think, a reason I’ve really done something here.” Something heißt in diesem Falle wohl a great deal: von seiner Arbeit bei R.A.N.D. Muzik (Presswerk und Label) und dem Vertrieb Inch by Inch Distribution, über seine zwei anderen Labels QC Records und Bitterfeld bis hin zu Releases bei KANN und Lobster Theremin, hat er sich fest in die DNA der Leipziger Szene integriert.
Eine zentrale Rolle spielt dabei sein Gespür für Qualität, egal ob es up-and-coming Locals aus Leipzig oder bekanntere Namen aus seiner Heimat sind – oder eben seine eigenen Produktionen. Ein neues Release bei R.A.N.D. ist für House-Heads weltweit so gut wie immer ein must-buy.
Vorteilhaft bei unserem Interview ist natürlich, dass Reece im Vergleich zu meinen anderen beiden Interviewgäst:innen Clubnächte ohne jegliches Anbahnen von Corona hat erleben können. Reece weiß als eingefleischter Leipziger Partygast, die Szene einzuschätzen. Die bezeichnet er vor allen Dingen als “gesund”, für seinen Geschmack vielleicht sogar zu gesund.
“Just before the pandemic I sometimes had the feeling that there were too many parties on for the amount of demand.” Im Februar 2020 war jeder zweite Dancefloor so gut wie ausgestorben, obwohl fast überall beeindruckende Line-Ups aufgefahren wurden. Stimmen Angebot und Nachfrage also überhaupt noch überein? Reece ist sich unsicher: “There’s a lot of clubs, maybe even too many for the size of the city. It’s not like we have the techno tourism Berlin does. […]
I’ve seen a few places come and go while I’ve been here.”
Clubschließungen waren in vergangenen Jahren in erster Linie der Gentrifizierung geschuldet: siehe das So&So, ein Ort, den Reece vermisst. Wir fragen uns, wie lange es also noch dauert, bis die ersten Clubs wegen mangelnder Wirtschaftlichkeit weichen müssen? “To have places that aren’t entirely commercial enterprises is pretty important for the dance scene here”; dass es überhaupt Orte gibt, die diesen Parametern nicht folgen müssen, – das Conne Island beispielsweise – schätzt Reece ebenfalls als elementar ein.
Das ist es auch, was Leipzig in Reece’ Augen inmitten anderer deutscher Städte auszeichnet: stadtpolitisches Engagement zur Förderung der lokalen Clubkultur und die Rolle des politischen Aktivismus in der Szene, gepaart mit fehlender Regulierung (insbesondere im Vergleich zu Städten wie München) und dem Angebot an noch bespielbaren Räumen. “I think we’re still at a point of the natural development of the city where it’s still possible to do things and not be too harassed by regulation or cost.” Spannend wird es, meint er, wie sich die Situation in weiteren fünf Jahren gewandelt haben wird.
Ein weiterer Punkt, der Leipzig in der deutschen Szenelandschaft hervorhebt und Reece gleichzeitig an seine Heimat erinnert, ist die subkulturelle Community. “There’s more of a community here than in other cities, which is what it’s like in Perth. […] Some people may think ‘Ugh, I go to the club and see all the same faces’, but it’s actually something I appreciate.” Natürlich ist es aber keinesfalls so, fügt Reece lächelnd hinzu, dass man irgendwo hingeht und automatisch jeden und jede kennt.
“There have been many artists from Leipzig that have been able to make a career out of here”
Ich möchte in dem Zuge von Reece wissen, welche Orte, Kollektive oder Projekte für ihn in Leipzig besonders bemerkenswert sind. Es platzt aus ihm heraus:
“I love Fäncy!”
Der Vibe, der auf Fäncy-Partys transportiert wird, ist genau das, wofür er als Szeneakteur arbeitet. “First and foremost it’s about party! Everything we work for, all the records and music, it works best in spaces where people can enjoy themselves and be free.” Eine Fäncy-Party als Ort der persönlichen Selbstentfaltung.
Er spricht auch das Waldbrand-Kollektiv an, das er vor allem mit Open Air-Veranstaltungen in Verbindung bringt und symbolisch für kommende Generationen sieht. “It’s important to bring the next generation in”; motiviert und risikobereit. Und wenn wir schon bei kommenden Generationen sind – die werden bald einen brandneuen Ort zum Feiern haben. Für Reece stellt die frisch eröffnete “Neue Welt” eine Lückenschließung in der Clublandschaft dar: “Leipzig needs this space. An intimate space for partying that’s not a bar.” Er möchte zudem alle drei Szene-Plattenläden erwähnt haben, das Vary, das Inch by Inch und das Sleeve++, von denen er froh ist, dass sie alle ihre eigene Nische bedienen. Das trägt für ihn zur besonders diversen Musikkultur in dieser Stadt bei.
Wenn es darum geht, wo Reece sich selbst im Konglomerat der Clubkultur einordnet, findet er simple Worte: “I feel like I do my own thing a bit.” Nichtsdestotrotz sagt er folgendes von seiner präferierten Arbeitsweise:
“first and foremost I like making music with other people a lot.”
Und wie ist er überhaupt zur Musik gekommen? Ein Blick in seine Geschichte offenbart: Bis er mit der High School fertig war, widmete Reece sich “guitar music”, vor allem im Math Rock- und Indie-Bereich. Dann ging es mit elektronischer Musik los, zu der er erstmal einen Bezug durch das Feierngehen und Hip-Hop-Hören aufbaute. Als besonders einflussreich zu dieser Zeit nennt er die Labels Brainfeeder, Warp und Stones Throw.
Platten sammelte er zwar schon seit dem Teenager-Alter, doch mit 22 fing er schließlich mit dem Produzieren und mit 23 mit dem Auflegen an. “Obviously I knew what house and techno sounded like, but I wasn’t that drawn to it”, stattdessen sagte ihm Dubstep zu, der sich durch eine andere Art von Beat auszeichnete und sich geschwindigkeitsmäßig zwischen Drum & Bass und House bewegt. Das war auch das erste, was er zu produzieren begann, worüber es dann zu härterem Techno ging. Übersteuerte, schroffe Sounds charakterisieren für ihn sein erstes Dance Music-Projekt, auf dem er mit einem Freund unter dem Namen Senate Platten veröffentlichte. Und nun – obviously – ist er seit einigen Jahren bei House-Musik angekommen, die er mal alleine, mal in Kollaboration mit Künstlern wie Qnete oder Salomo produziert.
Mit Salomo ist im Januar unter dem Namen Bumper 2 Bumper ein weiteres Release bei Long Vehicle erschienen und bei R.A.N.D. Muzik Recordings ist von Reece als Head-Kurator wohl auch noch einiges zu erwarten. Nach fünf Jahren ist er mit Leipzig noch lange nicht fertig geworden, so viel steht fest.
Cyan85
Auch Yannick, bekannt als Cyan85, ist inzwischen Wahl-Leipziger. Aufgewachsen in Erfurt, der Landeshauptstadt Thüringens mit zweihunderttausend Einwohner:innen, kennt er sich im Gegensatz zu meinen anderen beiden Interviewgäst:innen mit den neuen Bundesländern aus – und bezeichnet sich nichtsdestotrotz als “Provinzler”.
Wie Reece ist Yannick Vollblutmusiker, sobald es irgendwie möglich war, saß er vor einem Instrument. Es fing an mit dem Schlagzeug, wobei er schnell entdeckte, dass er lieber mit anderen Menschen zusammen Musik macht – und so ging es für ihn von “Bandgeschichten” im Grunge-, Indie- und Mathrock-Bereich zu “Programmarbeit”, wie er sie nennt. Für ihn ein Gamechanger.
2009 circa bekam er seinen ersten Laptop, von da aus ging es sowohl mit dem Produzieren, als auch dem Auflegen los, während er auf Partys in Erfurt und Weimar elektronische Musik entdeckte. Diese Erfahrungen verarbeitete er naturgemäß in seinen eigenen Produktionen, zuerst in Form von House, dann Techno und schließlich Electro. Im letzteren Genre ist er mit seinem Alias heute einer der bekanntesten Produzent:innen Deutschlands geworden, immer raw und funky unterwegs.
Aber auch eine weitere Musikrichtung, fernab von Clubs und illegalen Raves, war für ihn immer ein großer Einfluss: Hip Hop. Seitdem er denken kann, sagt er, hört seine Mutter Gangsta Rap, welcher für ihn die Grundlage weiterer elektronischer Genres bietet. “Ghettotech”, zum Beispiel, “habe ich schon viel früher immer gehört, aber nie produziert oder aufgelegt, weil ich dachte das versteht keiner. Das war eher Homeparty-Musik”.
Breaks, breaks, breaks
Als Yannick das sagt, driften wir kurz ab und unterhalten uns über das erneute Aufleben von Breakbeats. Seit Pandemiebeginn hat sich da gefühlt mehr Akzeptanz aufgetan – aber warum? “Wahrscheinlich das Internet”, meint Yannick. Das kann an großen Namen liegen, denn solange es sich nur im Underground bewegt, gewinnt es nur schwer an Popularität. Oder es kann an einzelnen Tracks liegen, die Welle gemacht haben, breakige Bootlegs und Edits eben. “Breakbeat-Tracks basieren ja häufig auf Sample-Arbeit. Das ist vor allem auch für Einsteiger:innen interessant, weil man schnell einen tauglichen Grundbeat bauen kann. Man hat eine Struktur vorgegeben, das macht das Ganze einfacher.”
In dem Zuge holt Yannick eine Anekdote aus Erfurt heraus und erzählt, dass er oft donnerstags auf einer Tischtennisparty in seinem Stammclub gespielt hat. Dort war gemischtes Publikum anzutreffen: Leute, die gerne zu Techno feiern gehen, Hip Hop hören oder eben gar keinen musikalischen Anspruch haben. “Und wie kriegst du die alle unter einen Hut, dass alle geil feiern können?” 80’s Classics kennen und lieben zwar viele, können einen Floor aber nicht immer zum Kochen bringen, meint er, zumindest oft nicht all night long. Edits bringen das alles eben doch unter einen Hut: Tracks und Lyrics, zu denen Menschen bereits einen Bezug haben, gepaart mit tanzbaren Beats. “Du hast ‘ne ganz andere Bandbreite an Leuten, die du ansprechen kannst und die sich vielleicht durch die bekannten Lyrics auch an eine schnellere BPM gewöhnen können”. Das macht allen Beteiligten – Crowd, DJs und Producer:innen – Spaß.
Vor ein paar Jahren war es jedoch nur begrenzt möglich, mit Breaks in bestimmten Städten den Floor voll zu spielen, wie auch Yannick bestätigt: “In Erfurt war ich mit Electro nicht unbedingt angesagt”. Trotzdem war die Zeit für ihn dort prägend und richtungsweisend; Erfurt bot ihm die Möglichkeit, sich in jungen Jahren auszuprobieren. Er landete mit seinem Studio zum Beispiel im Zughafen, einem Künstler:innennetzwerk und Kulturzentrum, das von Clueso gegründet wurde. Auch im Kalif Storch, dem wohl bekanntesten Club der Stadt, wurde er Resident und hostete mit Freunden eigene auf Electro und Breakbeat fokussierte Clubnächte namens Aquatic. Es entstanden jede Menge Chancen, Output zu generieren, in welcher Form auch immer. Chancen, für die er bis heute dankbar ist.
“Leipzig war für mich immer die Electro-Stadt.”
Yannick zog zwar zeitgleich mit Marie schließlich Ende 2020 nach Leipzig, war aber schon deutlich vertrauter mit der Stadt. Viele Erfurter:innen aus dem Bekannten- und Freundeskreis wohnten bereits hier, die räumliche Nähe bedingte viele Besuche. Was ihn zum Umzug motivierte, war letzten Endes nicht nur die musikalische, sondern vielmehr die kulturelle Vielfalt, wie auch die Infrastruktur und
“eine gewisse vertraute Ost-Optik”.
Mit der Clubkultur hatte der Umzug aber nicht allzu viel zu tun: “Ich wusste, dass es hier ‘ne interessante Szene gibt und dass hier bestimmt einige Symbiosen entstehen, aber das war nie mein Hauptfaktor.”
“Man war voll heiß, hierher zu kommen, die Stadt und ihre Leute kennenzulernen – das ging aber gar nicht, es war halt nichts los”, bemerkt Yannick als wir von seinen bisherigen Erfahrungen in Leipzig sprechen, die pandemiebedingt begrenzt sind. Im Sommer 2021 hatte er dann trotzdem seinen ersten Gig als Leipziger in den Pittlerwerken und bestätigt: “Leipzig hat soundtechnisch viel zu bieten, das habe ich auch nochmal im Sommer gemerkt, als es dann endlich losging”. Vor 2020 hatte er erst ein- oder zweimal hier gespielt und entgegen meiner Vermutungen keinen großen Erwartungen an die Szene. Außer, was ein Genre angeht angeht:
“Clear Memory waren für mich immer das ausschlaggebende Label für Electromusik in Leipzig”.
Bei der Frage danach, was Leipzig von anderen deutschen Städten unterscheidet, nennt Yannick erneut die musikalische Vielfalt, die für ihn besonders prägnant ist. Hierbei verweist er allen anderen Clubs voran auf das mjut als Anlaufstelle für diversere Musikrichtungen. Für ihn ein Ort, an dem er sich clubtechnisch seit seiner Ankunft besonders wohl fühlt – vielleicht auch, weil es ihn durch die Gleisnähe an das gewohnte Habitat im Zughafen erinnert. Und, grinst er: “Vor allem im Vergleich zu Erfurt geht es in Leipzig länger, das ist schon mal schön!”
Als weiteren Ort, der ihm in Leipzig wichtig ist, nennt er seine Stammbar: Die Liqwe auf der Zschocherschen Straße, welche ebenfalls von befreundeten Erfurtern betrieben wird. Tipp! Und wenn es um Plattenläden geht, taugt ihm vor allem das Sleeve++ im Osten, zu dessen Betreiber:innen er schon länger Kontakt hat, zum Beispiel über das Clear Memory-Label oder fellow Thüringer DJ Maik. Von Ost bis West ist überall etwas dabei.
Ich frage mich, ob Yannick sich nach knapp anderthalb Jahren schon als Teil der Szene angekommen und aufgenommen fühlt. “Ich fühle mich als Teil einer Teil-Szene”, erwidert er; nur weil man bekannt ist, ist man nicht automatisch integriert. “Auf einmal ist man Teil des Kulturprogramms, obwohl man noch gar nicht wusste, worauf man sich einlässt. Man muss ein neues Umfeld erst selbst richtig kennenlernen, bevor man sich dort angekommen oder zugehörig fühlen kann”.
Umgekehrt dürfte Leipzig sehr wohl im Bilde sein, worauf sie sich bei Yannicks Präsenz in der Stadt einlassen dürfen: tighte Productions straight aus 0341, wie sein aktuelles Release auf Curtis Electronix bestätigt. Auch die gemeinsame Plattform Habibi Bass mit seinem Kollegen Turk Turkelton liefert ständigen Output, fokussiert auf Digital Releases von unbekannteren Künstler:innen. Kommende Releases versüßen Hörer:innen währenddessen nur das Warten während des erneuten Clublockdowns, bis die Stadt von Yannick endlich standesgemäß partytechnisch entdeckt werden kann.
Vielen Dank an alle Künstler:innen für ihre Zeit und vielen Dank besonders an Sam Müller, die für diesen Artikel alle Fotos beigesteuert hat.
Dies sind nur drei Beispiele von vielen Artists, die in Leipzig eine neue Heimat gefunden haben – vielleicht wird aus Leipzig Import ja eine neue frohfroh-Reihe? Wenn es Künstler:innen gibt, die ihr hier sehen möchtet, lasst es uns in den Kommentaren oder über unsere Social Media Kanäle wissen.