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Jens
Im Stadtmagazin Kreuzer war irgendwann kein Platz mehr für die viele gute elektronische Musik aus Leipzig. Also hat Jens im Sommer 2009 frohfroh gegründet.

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Album-Backstock x Q1

12. April 2018 / Kommentare (0)

Die letzten drei Monate waren gute Album-Monate – acht Elektronik-Alben aus Leipzig können wir vorstellen.

Das Album bleibt ein wichtiges Format, trotz unzähliger Spotify-Playlisten und DJ-Podcasts. Und das ist auch gut so, denn hier können auf andere Weise Geschichten erzählt werden – und mehr Bandbreiten aufgezeigt werden, als es im DJ- und Live-Act-Alltag möglich ist.

Kassem Mosse „Chilazon Gaiden“ (Ominira)

Ich fange chronologisch an. Schon Mitte Dezember veröffentlichte Kassem Mosse ziemlich unerwartet sein drittes Album. Und dass nur knapp ein Jahr nach dem experimentellen „Disclosure“ auf Honest Jon’s. Mit „Chilazon Gaiden“ bewegt sich Kassem Mosse wieder mehr in Richtung Dancefloor. Ein Großteil der Tracks wird von geraden Bassdrums und reduziert aufflackernden Synths angetrieben – allerdings mit sympathischen Verschiebungen und nostalgischem Maschinenfunk. Kassem Mosse konzentriert sich auf wenige Loops, die er scheinbar sich selbst überlässt. In dieser unberechenbaren Eigendynamik liegt die große Anziehungskraft.

Besonders mag ich die Tracks, die dramaturgisch den Club anteasen, ihn aber nicht bedienen. „Terminal Bar“ etwa klingt wie ein überlanger Break, der aber plötzlich erlischt. Und auch „Nobody Has To Know“ hält mit den vergrabenen, aber gerade so noch wahrnehmbaren Basssdrums und rasenden HiHats, eine Spannung, die ebenfalls im Nichts endet.

Dafür mischen sich mit „Paradizer“ und „Holding Firm“ zwei überraschend klassische, klar geschnittene House-Tracks in den Kassem Mosse-Stream. Ohne große Kanten und Verwerfungen. Dafür wunderbar in sich ruhend. Die Klammer zwischen all dem liefert ein Synth-Plätschern, das den ersten und letzten Track maßgeblich prägt. Ein tolles Album, wieder einmal.

Hobor „Constellations“ (PH17)

Ein weiteres Album für Special-Dancefloors lieferte PH17 – das noch junge Label von Solaris und Stanley Schmidt. Nach der breitgefächerten Compilation zum Start, geht es mit dem ersten Artist-Album weiter – vom Leipziger Hobor, der auch bei der Experimental-Ambient-Band Songs For Pneumonia mitmischt. Seine Solo-Tracks greifen ebenfalls die Dynamik des Clubs auf, aber deutlich abstrakter als bei Kassem Mosse.

Hier vermischen sich verschiedene Sound-Schichten zu einem Kaleidoskop verschrobener Dancefloor-Assoziationen. In einen anderen Kontext gesetzt, wären wahrscheinlich sehr treibende Club-Tracks entstanden. Hobor seziert jedoch mikroskopisch und bringt die Einzelteile neu zusammen. Das geht teilweise schon ins Avantgarde, doch die Sounds für sich bleiben lose miteinander vernetzt, sodass sich eine trippige Atmosphäre ergibt.

Nur bei „In A Sentimental Bus“ bleibt der House-Bezug noch erhalten, wenn auch mit einem schleppenden Nachhall. Mein Hit aber ist „Parallel Limes“ – flirrende Synth-Schnipsel und ein mächtiger Subbass, addicted.

Das Album ist als limitiertes Tape und digital erhältlich.

Lootbeg „Stargazing“ (O*RS)

Ende Januar brachte Filburts Label O*RS das Debüt-Album von Lootbeg heraus. Der A Friend In Need-Label-Betreiber hatte selbst in den letzten Jahren einen enorm diversen Output. „Stargazing“ fokussiert sich auf Lootbegs House-Seite und erweitert den musikalischen Rahmen erfreulicherweise um Ambient, Electro und Electronica. Und das nicht nur als kurze Interludes: „Landed“, „The Truth Is Out There“ und „I’m Able To Choose“ erhalten mehr als 90 Sekunden zum Entfalten.

Dazwischen gibt es soliden Deep House mit gutem Oldschool-Einschlag und ausladenden Synth-Harmonien. Nicht zu glatt, aber auch überhaupt nicht kantig. Was ich an „Stargazing“ extrem mag, ist die in sich geschlossene Stimmung. Der Anfang ist von einer nächtlich gedimmten Ruhe und Schwerelosigkeit geprägt. Zum Ende hin dämmert bei „They Caught Me In Chicago“ die Sonne und „You Could Not Hear“ teast mit Acid-Knarzen die Tageshektik an. Doch bevor die wirklich beginnt, legt sich Lootbeg mit „I’m Able To Choose“ noch einmal hin.

Laut der Album-Info widmet er sich auf dem Album aber den größten Mysterien der Geschichte, UFO-Landungen etc. Im demnächst bei uns erscheinenden Interview erfahrt ihr mehr dazu. Ach: Das Album erscheint digital oder als Fanzine mit mystischen Grafiken und Fotografien verschiedener Künstler/innen.

5HTTP „Since Then“ (A Friend In Need)

Und wo ich gerade bei Lootbeg bin: Sein eigenes Label feiert in diesem Jahr den fünften Geburtstag. Aus diesem Anlass gibt es zugleich das erste Album und das erste physische Release – ein Tape. 5HTTP aus Washington erhält hier also viel Platz. Und er versteht ihn gut zu füllen. Schon auf seiner ersten EP auf A Friend In Need ließ sein ebenso musikalischer wie druckvoller House-Sound aufhorchen.

Auf „Since Then“ führt er diese Mischung fort, mit stoischer Ruhe und ohne große Höhepunkte. Vielmehr gleiten die zwölf Stücke durch verschiedene House-Sphären. Überall schwingt eine nostalgische Melancholie mit, manchmal auch etwas Kitsch. Am besten finde ich die Tracks, bei denen die Bassdrums dreckig und angezerrt scheppern – konkret: „Den“ und „No“. Mit dem Titeltrack geht es schließlich noch kurz ins Poppige über. Doch auch hier: Leichte Übersteuerung und alles wird gut.

Severnaya „Polar Skies“ (Fauxpas Musik)

Mit gleich zwei neuen Alben ist Fauxpas Musik ins neue Jahr gestartet. Und dieses hier ist ein echtes Highlight: Denn Severnaya ist das Ambient-Projekt von Boris Bunnik. Einige dürften ihn als Conforce kennen und seine Delsin-Alben schätzen. Dort forscht er an den experimentellen Rändern von Techno. Zuletzt ging er also auf Ambient-Reise – mit den russischen Severnaya-Inseln als Assoziationsrahmen.

Einsame Eislandschaften und arktische Wildnis, Schönheit und Rauheit, all das vertont Bunnik sehr treffend und schlüssig in sieben Tracks. Heraus kommen einerseits super grazile, kristalline und meditative Soundskulpturen, andererseits auch dunklere und bedrohlich klingende Momente.

Mit „Terramodis“ dringt dann doch ein Stück Conforce hervor – und es erinnert daran, dass in vielen Conforce-Tracks der Ambient-Einfluss eine große Rolle spielt.

Irrelevant „Vague Memories II“ (Fauxpas Musik)

Anfang März folgte dann auf Fauxpas Musik ein Mini-Album des Briten Irrelevant – in Kooperation mit dem Label Absolute Loss. Nur zwei Tracks sind darauf, beide aber jeweils 17 Minuten lang. Und die haben es in sich.

In einem Fluss wechselt Irrelevant zwischen Ambient- und sphärischen, melancholisch eingefärbten Breakbeat-Parts. Gerade bei letzteren ist der Einfluss von Burial sehr deutlich herauszuhören – das Düstere und Mystische, die Art der Samples und Beats.

Doch was soll das Copy Cat-Lamentieren: „Vague Memories II“ entfaltet eine große Anziehung, wenn es ruhiger und dunkler wird. Die Zutaten und deren Mischung stimmen einfach. Und so kann ich nicht anders, als das Album sehr zu mögen.

Philipp Rumsch Ensemble „Reflections“ (Denovali)

Damit zu einem Album, an dem zwölf Musiker/innen beteiligt waren – mit Philipp Rumsch an der Spitze. Wir hatten bereits von dem Projekt berichtet, das mit großem Instrumentarium die repetitive Ästhetik von elektronischer Musik aufgreift. Das renommierte Denovali-Label war davon offensichtlich so angetan, dass es die Aufnahmen aus dem Herbst 2016 nun veröffentlichte.

„Reflections“ bewegt sich strukturell tatsächlich in der Elektronik, klangästhetisch aber im Jazz – in erster Linie natürlich durch die echten Drums, Bassgitarren, das Vibrafon und verschiedene Bläser. Statt digitaler und analoger Synthese, entstehen die Töne hier in einer anderen Unmittelbarkeit. Zugleich bleiben viele Stücke in ihrer Ausbreitung abstrakt, ohne Pop- und Club-Dramaturgie. Nur beim Cover „At Your Enemies“ widmet sich das Ensemble offensiv dem Pop.

Was mir ein wenig fehlt, ist der Crisp, die Reibung. Es ist schon alles recht geschmeidig – mit Ausnahme von „Interlude“ und „Part II“.

Octave Diesis „Telluric“ (Kontrapunkt)

Geschmeidig ist auch die zweite Veröffentlichung von Kontrapunkt, einem Leipziger Label, das wir im letzten Herbst erstmals vorgestellt haben. Nun also das erste Artist-Album von Octave Diesis aus Frankreich – nach der sehr bemerkenswerten Compilation waren die Erwartungen durchaus groß.

Dadurch aber auch die Fallhöhe: Denn leider verfangen sich die Stücke mit Piano und Ambient-Elektronik in ätherisch-orchestralem Kitsch und einer Naivität, die sich nicht mehr mit Minimalismus-Assoziationen entschärfen lässt. Da klingt keine Ironie durch, nur ernstgemeinte Ernsthaftigkeit, die jedoch auf dünnen Beinen steht. Mehr fällt mir dazu nicht ein. Schade.

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