In dieser Woche haben wir gleich zwei neue Folgen unserer „Behind the nights“-Reihe parat. Diese hier liegt uns besonders am Herzen – Fiktion+Masse.
Es gibt nicht viele Konzert- und Party-Reihen, die sich konstant der experimentelleren elektronischen Musik widmen. In größeren Clubs lässt es sich wahrscheinlich kaum etablieren und in Bars ist es meist zu unruhig.
Doch Fiktion+Masse hat es geschafft, mit Live-Auftritten und DJ-Sets verschiedenen Stilen abseits von House und Techno einen Raum zu geben. Hauptsächlich im Leipziger Osten. Aber auch ins IfZ, wo die 10. Ausgabe der Reihe etwas größer aufgezogen wurde. Mit Tillmann vom Pracht-Kollektiv haben wir über Fiktion+Masse gesprochen.
Wer verbirgt sich hinter Fiktion+Masse?
Bei den Veranstaltungen wirkt eine wechselnde Mischung aus Mitgliedern des Pracht-Kollektivs und Musiknerds aus dem Freundeskreis mit – der personelle Hintergrund ist also recht familiär. Offensichtlich, aber trotzdem nennenswert ist natürlich die Mitgestaltung der jeweiligen Abende durch die eingeladenen Artists.
Ich selbst kümmere mich als Initiator in erster Linie um die Kuration, wobei mir auch hier Austausch und Zusammenarbeit wichtig sind. Für die Jubiläumsausgabe der Fiktion+Masse, die im Juni im IfZ stattgefunden hat, habe ich mich beispielsweise mit partner in crime Maria aka Solaris zusammengeschlossen. Von einer klassischen Crew kann aber nicht wirklich gesprochen werden – als solche nehme ich dann eher den Prachtzusammenhang wahr.
Wie gestaltete sich der Weg von der Idee zur ersten Umsetzung?
Die erste Ausgabe gab’s im Februar 2016 mit dem lokalen Ambient-Projekt Songs for Pneumonia und Pillowman von Pneuma-dor.
Ich fand die Idee gut, experimenteller elektronischer Musik einen eigenen, öffentlichen und vor allem wiederkehrenden Rahmen zu verpassen – also abseits von „Chillout-Floors“ als Nebenschauplätzen der „eigentlichen Party“ und der Wohnzimmercouch. Ich hatte damals wie heute Zugang zu einem für mich sehr wichtigen Veranstaltungsort im Leipziger Osten, wodurch die Umsetzung dieser Grundidee vergleichsweise unkompliziert verlief.
Interesse, Offenheit und Zuspruch durch Publikum und Artists haben mich danach darin bestärkt das Nischenprojekt weiterzuführen. Die Feinheiten des Veranstaltungskonzeptes haben sich dann auch erst über die Veranstaltungen hinweg herausgeschält.Was ist die musikalische Ausrichtung und generell das Konzept der Veranstaltung?
Fiktion+Masse ist ein Format, in dem in möglichst entspanntem Beisammensein außergewöhnliche elektronische Musik gespielt wird, je nach Gelegenheit ergänzt durch Visuals, Performances oder andere Themen-bezogene Inhalte. Musikalisch liegt der Schwerpunkt grob auf Ambient, Noise, Elektroakustischer Musik und Industrial, wobei es eigentlich mehr um einen roten Faden hinsichtlich der Ästhetik gehen soll, als um rote Linien im Hinblick auf Genregrenzen.
Die eingeladenen Artist kommen in der Regel aus sehr unterschiedlichen Backgrounds und bringen entsprechend auch unterschiedliche Vorlieben und Skills mit, wodurch jede Edition automatisch ihren eigenen thematischen Fokus bekommt.
Insgesamt ist die inhaltliche Ausrichtung bewusst nicht darauf ausgelegt, eine breite Masse anzusprechen, sondern ist klar nischenbezogen und edgy – wobei gleichzeitig schon auch versucht wird, das ganze möglichst zugänglich zu halten.
So soll die Fiktion+Masse einen Raum schaffen, in dem sich sowohl Interessierte und Künstler*innen austauschen können, als auch Berührungspunkte für Leute entstehen, die mit dieser Art von Musik bislang vielleicht noch nicht so viel anzufangen wissen. Die Regelmäßigkeit ist für beide Punkte zuträglich, glaube ich.
Wie siehst du den Stellenwert bzw. die Notwendigkeit einer Reihe wie Fiktion+Masse im Leipziger Nachtleben?
Ich würde sich vom Mainstream abhebenden Formaten immer einen gewissen Stellenwert beimessen – schon alleine aus einer tiefen Ablehnung von kulturellem Einheitsbrei heraus. Für mich selbst hat die Fiktion+Masse im Speziellen natürlich einen sehr hohen Stellenwert, da sie einen Spielplatz für mich darstellt.
Ich habe hier die Möglichkeit, Artists, von denen ich Platten im analogen oder digitalen Regal stehen habe oder deren Sets ich auf Soundcloud rauf und runter gespielt habe, in meine Nachbarschaft einzuladen und mit ihnen einen schönen Abend zu verbringen. Ich kann mir wenig Cooleres vorstellen. Umso besser, wenn es dann noch andere gibt, denen das gefällt.
Dass es aber nicht allen so geht wie mir und nicht allen alles gefällt, ist klar und völlig legitim – Geschmäcker sind individuell und jede Person hat eigene Musikbereiche, die sie anziehen oder berühren.
„Cool finde ich, dass in den letzten Jahren das Interesse und die Offenheit gegenüber nischigeren Inhalten gestiegen zu sein scheint.“
Auf Partys sind zuletzt vermehrt „Ambient/Chillout Floors“ zu finden, lokale Labels wie Pneuma-dor, Holger Records oder neuerdings PH17 machen das Releasen von elektronischer Musik abseits des Clubmusik-Mainstreams zum Thema.
Und selbst in einem großen Laden wie dem Institut für Zukunft werden neben dem Techno/House-Programm auch beständig interessante abseitigere Acts eingeladen, etwa bei den Cry Baby-Veranstaltungen. Das von mir selbst als am interessantesten Empfundene findet aber nach wie vor eher in kleineren Läden und Off-Locations statt.Wie sieht die Zukunft aus?
Ich wünsche mir, dass auch in Zukunft noch genug Raum für abseitige Formate und allgemein „Experimente“ dahingehend besteht. Die Existenzen der meisten Orte, an denen eine Offenheit für solche Projekte da ist, sind leider keine Selbstverständlichkeit, genauso wenig wie die Arbeitskraft, die zumeist ehrenamtlich investiert wird, um diese zu betreiben und erhalten.
Vor ein paar Monaten musste aufgrund einer Mieterhöhung das Pferdehaus als einer der wichtigsten Clubs Leipzigs in den letzten fünf Jahren schließen, das mittlerweile weit über Leipzig hinaus bekannte und anerkannte Institut fuer Zukunft musste sich zuletzt aus heiterem Himmel mit abstrusen Sperrstundenauflagen arrangieren. Weniger im öffentlichen Fokus aber nicht weniger kritisch ist die Lage vieler kleiner Läden.
Es bleibt also nur zu hoffen, dass trotz der bekannten Entwicklungen möglichst viele interessante Orte erhalten bleiben. In dem Zusammenhang würde ich mich natürlich freuen, wenn radikalere Formate wie die Fiktion+Masse auch in Zukunft noch andere ermutigen können, eigene Projekte zu starten und ihre Ideen umzusetzen. Damit es hier ja nicht langweilig wird.
Ausblick:
Die nächste Ausgabe findet am 1. Oktober mit Elektroakustik-Koryphäe Valerio Tricoli (PAN) statt, dessen surreal-düstere Klangkollagen durch Live-Manipulationen von diversem Audiomaterial (Fieldrecordings, Mikrophon, Synth) mit Hilfe einer Tonbandmaschine geprägt sind. Neben ihm spielt der lokale Geheimtipp Hobor (PH17) ein ebenfalls elektroakustisches Live-Set mit dem Fokus auf Microsounds. Davor, dazwischen und danach bedienen Albina und Zond die Start/Stop-Knöpfe.