FEUERTANZ – Teil IV: Gedanken von Besucher*innen & Entwicklungen der letzten Jahre

Strobos, Wummern, Sekt, Kippen, Kaugummis und Schweiß – die Party läuft. Wie Mensch auf ein Open Air kommt, was einen Rave in Off-Location so reizvoll macht, wie es vor ein paar Jahren war und wie es möglicherweise in ein paar Jahren sein wird.

Ein Kurzurlaub in der Natur
02:00 Uhr. Südlich von Leipzig.
Sein Kopf wippt im Takt, der Gesichtsausdruck verrät seine Konzentration. Ein Scheinwerferspot erleuchtet den drahtigen Typ mit rotem Lockenkopf hinter dem hölzernen DJ-Pult. Er schaut kurz hoch, lächelt und setzt seine Kopfhörer auf, um den Übergang zum nächsten Track anzupassen. Die Menge der Tanzenden bewegt sich wie im Rausch zu den unnachgiebigen Bässen des treibenden Technos. Einige jubeln, reißen die Arme in die Luft. Es riecht nach Gras und Sommernacht.

Es beginnt zu nieseln, ein paar Tropfen fallen vom schwarzen Himmel. Das hemmt die Stimmung in keiner Weise, für die Leute ist der sanfte Schauer eine willkommene Erfrischung. Und auch der DJ lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Vor lauter Konzentration scheint er vom Wetterumschwung nichts mitzubekommen. Drei Leute eilen hinter das DJ-Pult, in der Hand eine riesige Plastikplane. Sie halten die Plane hoch über ihrem Kopf und schützen Mixer, Turntables und Anlage vor den kühlen Tropfen.

„Wir wussten nicht, was uns erwartet“ – Besucher

Trotz des leichten Regens und der nächtlichen Kälte wird mir ganz schön heiß hier zwischen den ganzen Körpern. Alles ist ständig in Bewegung – ich brauch mal eine Tanzpause. Ein Stück von der Tanzfläche entfernt setze ich mich auf die Wiese, zu einer kleinen Gruppe Menschen, die gerade erst angekommen sind.

„Der Weg mit dem Rad von der Stadt aus war ganz schön kräftezehrend. Aber wir haben es endlich hergeschafft. Jetzt müssen wir kurz durchatmen, bevor wir gleich tanzen gehen“, erzählt ein Typ in wildgemustertem, violetten Second-Hand Hemd im Achtziger-Look. Ich frage ihn, wie sie von dem Open Air erfahren haben. „Eine Facebook-Veranstaltung oder so gab es ja nicht. Meine Mitbewohnerin hat mir ein kleines, süßes Kärtchen in die Hand gedrückt, auf das nur die Koordinaten und das Datum gestempelt waren. Wir wussten gar nicht so wirklich, was uns erwartetet.“

Da Open Airs in den seltensten Fällen bei der Stadt angemeldet werden, müssen sich die Kollektive natürlich mit Werbung zurückhalten. „Die Infos über Open Airs bekomme ich meistens über drei Ecken. Irgendwer ist in irgendeiner Facebook- oder Whats-App-Gruppe, erzählt das dem nächsten und der erzählt das mir. Das läuft eigentlich immer über Mund-zu-Mund-Propaganda.“ Er nippt halbherzig an einer fast vollen Sektflasche und sieht ein wenig erschöpft von der langen Anfahrt aus.Wer unterm Sternenhimmel zu elektronischer Musik tanzen möchte, muss also die Ohren offenhalten und das Smartphone eingeschaltet lassen, um Koordinaten in Erfahrung zu bringen. Dann geht es über ewig lange, steinige Feldwege oder unbeleuchtete Wald-Pfade, weit außerhalb des Stadtgebiets. Bei den Ziel-Koordinaten angekommen, sind zwar dumpf pumpende Bässe deutlich durchs Gehölz zu vernehmen, aber rein gar nichts zu sehen. Also weitersuchen, durch die Dunkelheit.

„Das ist so ein Freundschafts-Gedöns“ – Besucherin

Da scheint ein Clubbesuch doch logistisch und organisatorisch viel entspannter. Wieso treibt es doch so viele auf Open Airs? „Da hat man Sonne, die Kommunikation ist einfacher, man ist freier – es ist ein bisschen wie ein kleines Festival“, erzählt mir ein Mädchen mit einer Sonnenbrille im Haar und strahlenden Augen. „Das ist mehr so ein Freundschafts-Gedöns, wo man sich trifft und gemeinsam zu der Mucke von Leuten abhängt, die man kennt. Manchmal fast wie ein Familien-Kurzurlaub in der Natur, du gehst mit deinen Freunden hin und dort sind überall noch mehr Freunde. Es ist echt schön.“

Mittlerweile hat der Typ im Achtziger-Hemd die Sektflasche zum Großteil geleert. Die Wangen leicht gerötet und ein leichtes Lallen in der Stimme ergänzt er: „Und es ist eine richtig geile Atmosphäre hier unter den Bäumen – das geht in keinem Club. Die Bäume sind beleuchtet, die Discokugel strahlt die Äste an. Mega schön!“ „Und fette Mucke!“, lacht das Mädchen mit der Sonnenbrille. Ein großer Typ mit Dreads fügt hinzu: „Die Kollektive nehmen sich den öffentlichen Raum zurück – das hat was von Unkontrolliertheit. Es ist fast schon kapitalismuskritisch, weil du keinen Eintritt bezahlst, es gibt keinen Türsteher. Es ist einfach anarchistischer, denk ich.“ Mein Hals trocken und mein Bier fast leer. Ich verabschiede mich von der kleinen Gruppe, schnappe meine leere Flasche und wage mich zurück ins Getümmel.Zukunftsmusik
Einen Fuß vor den anderen setzend tapse ich vorsichtig über den schmalen Pfad in Richtung Bar. Die bunten Lichter der Floors und der Bar sind zu weit entfernt, um den unebenen Boden genauer auszumachen. Nur der Vollmond spendet ein Minimum an Licht. Bloß nicht umknicken.

Gesund und munter an der Bar angekommen reihe ich mich in Schlange der Wartenden ein. Ich komme mit einem Typ mit braunem Lockenkopf ins Gespräch. Er besucht Leipziger Open Airs seit ein paar Jahren und prognostiziert eine gewisse Tendenz in ihrer Entwicklung: „Teilweise entwickelt sich mehr in der Szene, aber teilweise wird es auch schwieriger mit den Locations. Vor allem durch die steigende Gentrifizierung in vielen Teilen der Stadt und dadurch, dass die Polizei härter vorgeht. Ich schätze mal, dass es weniger werden wird in den nächsten Jahren, weil die Politik restriktiver wird.“Jetzt bin ich an der Reihe und lehne mich an die hölzerne Theke. „Bitte keine Fotos!“, steht auf den Tresen geschrieben. An der Retro-Lampe darüber ist mittlerweile ein Schild befestigt: „Bitte wendet euch an unser Awareness-Team, wenn ihr euch belästigt oder diskriminiert fühlt, oder solche Situationen beobachtet. Rassismus, Sexismus, Antisemitismus und andere Formen von Diskriminierung werden nicht toleriert.“ Der schlanke Typ mit Bandshirt, der hinter dem Tresen steht, schaut mich fragend an. Ich bestelle ein Bier und frage ihn, wie er den bisherigen Abend empfindet: „Läuft. Es sind genug Gäste da, alle haben viel Spaß. Ich fühle mich grad irgendwie beschwingt“, lacht er und prostet mir zu.

Morgendliche Idylle
05:30 Uhr. Südlich von Leipzig.
Die Erinnerungen an die letzten Stunden haben sich zu einer wabernden Wolke aus flackernden Strobos, stampfenden Basslines, Gesprächsfetzen und Stolpern durch die Dunkelheit vermengt; Einzelne, aufblitzende Szenen schwirren in meinem Kopf herum. Elena und Max habe ich seit Stunden aus den Augen verloren. Jemanden in der Dunkelheit zu finden scheint schier unmöglich, vor allem weil ein Großteil der Gäste fast vollständig in Schwarz gekleidet ist. Mittlerweile wird die Nacht vom Morgengrauen abgelöst. Die Luft ist angenehm frisch. Erste Sonnenstrahlen zeigen sich zögernd am Horizont und tauchen den blassen Himmel in warmes Licht.

Ich habe also wieder eine Chance, Max und Elena aufzuspüren. Ich lehne an der Bar und nippe an einer Wasserflasche. Mein Blick schweift suchend über das Gelände. Hier an der Bar stehen nur noch wenige Leute, niemand trinkt mehr Schnaps, stattdessen klammern sich die meisten wie ich an einer Wasserflasche oder einem Radler fest. Auf der Wiese sitzen kleine Grüppchen zusammen, die ersten Sonnenstrahlen genießend.Vom kleinen Floor zu meiner Linken tönt groovender Gute-Laune-House. Keine zehn Leute bewegen sich gemächlich und mit einem leichten Lächeln auf den Lippen unter dem großen Fallschirm im Takt der Musik. Ich erkenne Elena und Max. Zusammen mit ein paar anderen haben sie sich einen der steilen Hügel neben der Tanzfläche hochgekämpft, um von dort aus den Sonnenaufgang zu beobachten. Sie sehen mich und winken mir zu. Also mache ich mich an den Aufstieg – halte mich an Grasbüscheln fest und versuche, auf dem sandigen Untergrund die Balance zu halten, um den Hügel nicht Hintern voran wieder runterzuschlittern.

„Ich bin einfach mega euphorisch“ – Max

Oben angekommen setze ich mich zu Elena und Max. Den beiden geht es wunderbar, sagen sie. Die Anstrengungen der Nacht sind trotzdem an ihren müden, leicht geröteten Augen zu erkennen. „Die Party läuft echt super“, strahlt Max. „Ich habe so viele Leute kennengelernt, so viel getanzt, interessante Gespräche geführt und bin einfach immer noch mega euphorisch!“ „Ich bin so glücklich, dass die Polizei nicht kam“, lächelt Elena. „Ich hätte es echt nicht gedacht, in letzter Zeit lösen die ja fast jedes Open Air auf. Da haben wir wohl echt einen guten Spot erwischt.“

Vor zwei, drei Jahren störte es scheinbar niemanden, wenn ein paar Leute eine Anlage und ein paar Kästen Bier in den Wald schleppten. Rückte die Polizei dann doch mal an, setzten die Beamt*innen meist eine Frist von ein, zwei Stunden. Bis dahin solle die Musik aus sein. Manche standen auch nur am Rand der Tanzfläche und beobachteten das Treiben, sonst passierte nichts. Und hartnäckigen Gerüchten zufolge feierten einige sogar begeistert mit.Seit Sommer 2017 sieht das Bild anders aus. Die Polizei spürt fast jedes Open Air auf, beendet die Veranstaltung rigoros und beschlagnahmt manchmal auch Equipment, um das Weiterfeiern an dieser oder einer Ausweich-Location zu verhindern. Der Grund für diese Entwicklung: In den letzten Monaten gelang es der Polizei, mehr Personal für die Auflösung von Open Airs abzustellen. Gut für die Beamt*innen im Einsatz – das Gefühl, zu zweit oder zu dritt einer feiernden, von Alkohol und Wer-Weiß-Was berauschten Meute gegenüberzutreten, um den ganzen Spaß zu beenden, muss ziemlich unangenehm sein. In dem Fall müssen sich die Beamt*innen auf Beleidigungen und manchmal auch Angriffe gegen ihre Streifenwagen oder auch sich selbst einstellen. Das ist zwar nicht oft der Fall, aber es kommt vor.

„Ich geh mal wieder tanzen!“, sagt Elena, steht auf und tastet sich langsam den Hügel runter. Ich kraxele hinterher.

Im fünften Teil unserer Reihe über die Leipziger Open Air-Kultur erfahrt ihr, wie ein Open Air schneller vorbei sein kann, als gedacht, ob der Notfallplan beim Besuch der Polizei aufgeht und welches Fazit die Crew aus dem ganzen Spektakel zieht.

FEUERTANZ – TEIL I: RISKANTE RAVES IM GRÜNEN

FEUERTANZ – TEIL II: DER PERFEKTE SPOT UND DISKUSSION IM PLANUNGSPLENUM

FEUERTANZ – TEIL III: BAUSTELLENABMIENTE, INVESTITIONEN UND POLIZEI-PRÄVENTION

FEUERTANZ – TEIL IV: GEDANKEN VON BESUCHER*INNEN & ENTWICKLUNGEN DER LETZTEN JAHRE

FEUERTENZ – TEIL V: ZU FRÜH GEFREUT – AUFTRITT POLIZEI

FEUERTANZ – TEIL VI: GESETZE VERSUS RECHTE

Fotos: M.L. (2, 3, 4), Lea Schröder (6, 7), Valerie Zöllner (1, 5)

FEUERTANZ – Teil III: Baustellenambiente, Investitionen und Polizei-Prävention

Die Crew hat in letzter Sekunde einen Generator aufgetrieben und im Transporter Tetris mit Baumaterial, Lichttechnik und Deko gespielt. Wie der Aufbau läuft, was das Kollektiv mit den Spenden der Gäste anfängt, wie sich die Leute auf die Worst-Cases vorbereiten und wieso sich der ganze Aufwand trotz Risiko lohnt.

Die Open Air-Killer Wind & Wetter
Samstag, 17 Uhr. Südlich von Leipzig.
Der Tag des Open Airs.
Ich schiebe mein Rad über den warmen Asphalt. Neben mir schlendern Elena und Max den Forstweg entlang. Links und rechts von uns Bäume. Vogelzwitschern und Autobahnbrummen. „Ob es den Leuten, die hier wohnen, wohl komisch vorkommt, wenn heute Abend hier plötzlich Scharen schwarz gekleideter, junger Leute durch die Straßen ziehen?“, grinst Elena. „Hoffentlich fällt das nicht mehr so auf, wenn es dunkel ist. Unsere Gäste sind ja auch nicht so die typischen Krawallmacher“, erwidert Max. Er ist zuversichtlich, dass das Open Air von den Anwohner*innen im Dorf nicht bemerkt werden wird. „Die Hügel wirken schallisolierend zum Dorf hin und die Autobahn liegt auch noch dazwischen. Ich denke, wir müssen uns erstmal keinen Kopf machen.“

„Wenn man erstmal das ganze Equipment dahingeschafft hat, setzt man wirklich alles daran, das Ganze durchzuziehen“ – Max

Auch jetzt in den frühen Abendstunden scheint die Sonne noch intensiv. Keine Wolke hängt am blassblauen Himmel. Gut für das Open Air: Neben der Polizei ist schlechtes Wetter der größte Feind eines Freiluftraves. Wer hat schon Lust, bei Regen und zehn Grad die Nacht draußen zu verbringen? „Wenn wir im Vorfeld kommen sehen, dass es am Tag eines Open Airs stürmen oder die ganze Zeit regnen wird, überlegen wir natürlich, ob wir abbrechen“, erzählt Max. „Kleine Regenschauer oder graues Wetter sind aber kein Grund dafür. Wenn wir erstmal das ganze Equipment dahin geschafft haben, setzen wir wirklich alles daran, das Ganze durchzuziehen.“

Elena lächelt. „Bei unserem ersten Open Air hat es viel geregnet. Wir hatten dann viele Planen mit Teppichen und Decken flach über dem Boden gespannt, dass da kein Wind und Wetter drunter kam. Wurde schön warm, als alle darunter gekuschelt haben.“Umzugsgefühle und Baustellenambiente
Wir biegen auf den Feldweg ab. Ein riesiger Transporter, fast schon ein kleiner LKW, parkt ein paar Meter entfernt. Einige Leute haben sich um den noch geschlossenen Kofferraum versammelt. Ich erkenne einige von Nebel, aber auch Freund*innen und Bekannte der Crewmitglieder, die beim Aufbau unterstützen. Till begrüßt uns grinsend: „Ihr kommt genau richtig. Der Transporter ist gerade angekommen.“

Schnell das Rad an einen der Bäume angeschlossen und dann geht es los mit dem Ausladen. Mit unserer Last schlurfen wir in einer langen Menschenkette die gut hundert Meter über einen schmalen Trampelpfad, vorbei an hüfthohem Gras, niedrigen Bäumen und Büschen, bis hin zu der Bucht zwischen den Hügeln. Und wieder zurück zum Transporter – der Vorrat an schweren Holzplatten, Technik, Paletten, Sofas, Teppichen, Kisten und Taschen scheint schier endlos zu sein. Schleppen und Schwitzen wie bei einem Umzug.Endlich ist es geschafft. Die Party hat noch nicht einmal begonnen und ich bin schon erschöpft. Die ersten aus der Crew haben schon gestern mit dem Aufbau begonnen und waren ziemlich fleißig. Auf dem Floor zwischen den Hügeln wurde das DJ-Pult gebaut: Einige Holzplatten und Paletten aneinander gezimmert, dann lange Stöcke im Wald gesammelt und zusammen mit ein paar kurzen Brettern an der Front befestigt – ein beeindruckender Anblick. Max und zwei andere Leute sind gerade damit beschäftigt, die Stöcke mit silbern-schimmernden CD-Rohlingen zu dekorieren. Elena sitzt im Schneidersitz auf dem Boden und knotet bunte, wildgemusterte Tücher aneinander, um sie in die Bäume zu hängen.

„Wir brauchen endlich Strom, sonst wird das hier nix mehr“ – Jonathan

Ich verlasse die Wiese zwischen den Hügeln und bewege mich in Richtung Bar, die Stück von dem ersten Floor entfernt ist. Auf dem Weg sehe ich zwei Köpfe aus dem Gebüsch am Wegrand ragen. Sie gehören Jonathan und Flo, beide schlaksig und nahezu zwei Meter groß. Auch sie tragen schwarze Sportkleidung.

„Was macht ihr denn da?“, frage ich amüsiert. „Wir versuchen den Generator in Gang zu bekommen! Wir brauchen endlich Strom, sonst wird das hier nix mehr“, entgegnet Jonathan. Er bittet mich zu sich. Ich schlage mich durch die Sträucher zu den beiden. Jonathan hat ein langes schwarzes Kabel um seinen Arm gewickelt. Er übergibt es mir und meint: „Kannst du das bitte zur Bar verlegen?“ Mit dem sich abwickelnden Kabelberg in den Armen stolpere ich durch das dornige Dickicht in Richtung Bar.„Danke!“, schallt es aus Jonathans und Flos Busch, als ich mit abgewickeltem Kabel an der Bar ankomme und jemandem das Kabelende in die Hand drücke. Erst jetzt kann ich die Bar bewundern. Die wurde gestern von Elena, Till und ein paar anderen errichtet: Sie haben ein gutes Dutzend Paletten zu einem Halbkreis zusammengeschreinert, sie mit fantasievollen Mustern in violett, schwarz und blau bemalt und mit Stickern mit den Schriftzügen „FCK AFD“ und „Refugees Welcome“ beklebt. Fertig ist sie jedoch noch nicht, die als Tresen dienenden Bretter werden gerade noch angebracht.

Eigentlich soll es in zwei Stunden losgehen – das kann ich mir jetzt allerdings noch nicht vorstellen. Trotz, dass ein großer Teil bereits aufgebaut ist, gleicht das Gelände einer einzigen Baustelle. Hämmer krachen auf Bretter, eine Säge kreischt durch ein Stück Holz. Etliche Menschen wuseln wie in einem Ameisenhaufen umher, schleppen Bretter, Kisten, Deko. Andere gönnen sich eine Pause, sitzen rauchend auf der Wiese und genießen das Kitzeln der warmen Abendsonne auf der Haut.Ein paar Meter weiter weg, beim zweiten Floor, wird ebenfalls noch fleißig geschraubt. Auch hier muss ein DJ-Pult stehen. Ein paar Leute versuchen gerade, einen riesigen Fallschirm über die Tanzfläche zu spannen.

Etwas abseits von dem regen Treiben schütteln zwei junge Männer ihre Graffit-Spraydosen: In der letzten Stunde haben sie zwei Holzpfähle in den Boden gesteckt und dazwischen etliche Schichten Frischhaltefolie ausgerollt – eine ideale Grundfläche für Graffiti-Kunst. Ich frage sie, welches Motiv es werden soll. „Ein riesiger Schriftzug in Blau – ‚Rave on‘ – kommt da hin“, erklären sie mir grinsend und legen los.Die Sache mit dem Geld
Max läuft über die Wiese auf uns zu. „Leute, kommt mal rüber! Der Transporter mit den Getränken ist grad angekommen.“ Also noch mehr schleppen. Der Transporter ist voll mit Bier, Mate, Schnaps, Softdrinks und Wasserflaschen. Wir reihen uns vor dem Kofferraum ein, um die Kästen entgegenzunehmen. Hinter mir steht Max. „Die Getränke geben auf Spendenbasis an der Bar raus. Also wir empfehlen, für ein Bier zwei Euro zu zahlen und so weiter. Können die Leute machen, müssen sie aber nicht. Und Wasser ist für alle komplett kostenlos“, erklärt er mir.

„Viele bezahlen sogar freiwillig viel mehr“, schaltet sich Elena ein. „Bei unserem letzten Open Air hat mir ein Gast zehn Euro für ein Bier in die Hand gedrückt. Er meinte, er will uns supporten und für den Aufwand, den wir betreiben, etwas zurückgeben.“

Da kommt sicher einiges zusammen. Was machen sie mit dem ganzen Geld, das sie einnehmen? „Also von uns einzeln verdient niemand etwas“, antwortet Elena. „Das ganze Geld kommt in einen Sammeltopf und wird für das nächste Open Air genutzt. Wir müssen ja die Miete für den Transporter, den Generator, die Anlage zahlen und das Geld für die Getränke vorstrecken. Da muss man schon zwischen 800 und 1000 Euro investieren.“

„Weil’s geil ist!“ – Elena & Max

Eine halbe Stunde später haben wir auch den letzten Kasten zur Bar geschafft. Von dem ganzen Geschleppe bin ich ziemlich fertig und setze mich zu Max, Elena und ein paar anderen auf einen dicken Orientteppich am zweiten Floor, um kurz zu verschnaufen. Eine Frage brennt mir schon die ganze Zeit auf der Zunge. Wochenlange Organisation, tagelanges Zusammenbasteln und wieder Auseinanderschrauben – nur für eine einzige Nacht. Und alles mit dem Risiko, dass es binnen Minuten vorbei sein und dafür ein Bußgeldbescheid in den Briefkasten flattern könnte. Wieso überhaupt Open Airs veranstalten?

„Weil’s geil ist!“, antworten Max und Elena gleichzeitig. „Das ist etwas, das man übelst schön mit Menschen teilen kann. Feiern, Menschen treffen, Gespräche führen. Einfach einen Freespace außerhalb der Stadt, wo man einfach ein bisschen freidrehen kann“, fügt Elena hinzu. Sie kramt in ihrem Rucksack nach einem Clipper und zündet sich ihre Zigarette an.

Max streckt sich auf dem großen Teppich aus. Die Sonne scheint ihm ins Gesicht, er schließt entspannt die Augen und erzählt: „Bei einem unserer letzten Open Airs, so um vier Uhr nachts, standen ein Kumpel und ich am Rand des Floors und haben über die tanzende Menge geschaut. Die ganze Tanzfläche war gerammelt voll und es ging unglaublich ab. Wir beide haben uns nur angeguckt und in dem Moment realisiert: ‚Okay, das haben wir auf die Beine gestellt.‘ Und das macht natürlich schon unglaublich glücklich und auch ein bisschen stolz.“„Was tun, wenn die Cops kommen?“
Samstag, 21:30 Uhr. Südlich von Leipzig.
Die Sonne ist mittlerweile untergegangen. Der Strom läuft, Lichtanlage und DJ-Equipment sind einsatzbereit. Die Hämmer und Sägen schweigen schon seit einer ganzen Weile. Die ersten Gäste sind bereits vor einer Stunde aufgetaucht und haben sich wartend mit mitgebrachtem Bier und Sekt auf der Wiese niedergelassen. Auf dem Bartresen hat jemand einen Röhrenbildfernseher installiert, auf dessen flackerndem Bildschirm der Timetable für den Abend zu lesen ist. Mit blauem Licht beleuchtet wird er von einer mit bunten Perlen verzierten Retro-Lampe. Nach und nach versammeln sich alle Crew-Mitglieder und Helfer*innen, zusammen über zwanzig Leute, in einem großen Halbkreis vor der Bar.

„Die sollen niemanden haben, den sie als Veranstalter heranziehen können“ – Till

Till räuspert sich theatralisch und spricht mit erhobener Stimme: „Hallo miteinander, ich möchte euch nur nochmal kurz über den Ablauf informieren. Die Schichtpläne für die Bar liegen hier hinter dem Tresen. Bitte seid pünktlich, wenn ihr zu eurer Schicht kommt. Falls irgendwas passiert: Feuerlöscher und Verbandskasten findet ihr hier an der Bar. Wenn wir mitbekommen, dass die Polizei vorfährt, muss jeder, der oder die grad auflegt, vom DJ-Pult verschwinden. Dann haben die niemanden, den sie als Veranstalter heranziehen können. Und die Bar-Leute sollten die Kasse verstecken und die Getränke vor die Bar stellen, damit uns nicht nachgewiesen werden kann, dass wir Getränke verteilen – egal ob gegen Spende oder festen Preis. Ich werde mich aber trotzdem als Ansprechperson zur Verfügung stellen und ruhig mit denen reden, falls sie auftauchen.“

Dieser Plan könnte funktionieren. Stößt die Polizei auf ein Open Air, müssen die Beamt*innen aus der Masse an Tanzenden diejenigen herausfiltern, die für das ganze Spektakel verantwortlich sind. Diese Leute müssen dann mit dem Abbau des Open Airs beginnen und ihre Personalien angeben. Und ein paar Wochen später flattert ihnen ein Bußgeld-Bescheid in den Briefkasten.
Eine oft praktizierte Methode, das zu umgehen: Niemand gibt sich als Veranstalter*in zu erkennen. Die Polizei reagiert darauf meist mit der Drohung, die Anlage oder die Getränke zu beschlagnahmen – die Besitzer*in wird sich dann sicherlich zu erkennen geben. Das sollte die betreffende Person auch tun, kann dann jedoch erklären, dass die Anlage nur zum Verleih zur Verfügung gestellt wurde und sie sich nicht selbst belasten müsse. Damit sind der Polizei zumindest vorerst die Hände gebunden.Das Briefing ist vorüber und die Gruppe zerstreut sich nun über das weitläufige Open Air Gelände. Zwei, drei Leute begeben sich hinter den Bartresen und stellen den durstigen Gästen, die sich bereits in einer Schlange eingereiht haben, Bier, Mate oder einen Shot auf die Theke.

Clara*, eine junge Frau mit kurzem, hellblonden Topfschnitt und silbernem Nasenring begibt sich hinter das DJ Pult auf dem großen Floor zwischen den Hügeln. Es ist ihr erster Auftritt, die Aufregung steht ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Ihre Hände zittern leicht, als sie den Lautstärkeregler auf dem Mixer langsam nach oben schiebt. Die Wiese füllt sich schnell. Die Leute mussten eine Weile auf den Beginn der Party warten und sind voller erwartungsvoller Energie. Als eine Hi-Hat einsetzt, gewinnt die Musik an Dynamik und reißt auch noch die letzte Person mit, die bisher noch vserhalten im Takt wippend und ihr Bier fest umklammernd am Rand des Floors stand.

Im vierten Teil unserer Reihe über die Leipziger Open Air-Kultur erfahrt ihr, wie Mensch auf ein Open Air kommt, was einen Rave in Off-Location so reizvoll macht, wie es vor ein paar Jahren war und wie es möglicherweise in ein paar Jahren sein wird.

FEUERTANZ – TEIL I: RISKANTE RAVES IM GRÜNEN

FEUERTANZ – TEIL II: DER PERFEKTE SPOT UND DISKUSSION IM PLANUNGSPLENUM

FEUERTANZ – TEIL III: BAUSTELLENABMIENTE, INVESTITIONEN UND POLIZEI-PRÄVENTION

FEUERTANZ – TEIL IV: GEDANKEN VON BESUCHER*INNEN & ENTWICKLUNGEN DER LETZTEN JAHRE

FEUERTENZ – TEIL V: ZU FRÜH GEFREUT – AUFTRITT POLIZEI

FEUERTANZ – TEIL VI: GESETZE VERSUS RECHTE

Fotos: M.L. (7, 8), Lea Schröder (1-6)

Im Herbst wieder zurück: Die Elektronische Schallplattenbörse

Zuviele Platten im Schrank? Am 06.10. könnt ihr sie mit etwas Glück loswerden.

Ihr kennt das Spiel inzwischen: Platten aussortieren, in Kisten packen und in die Feinkost fahren. Ein paar Kaffee und Bier trinken, mit anderen Musik-Nerds über allerlei spannende Musik quatschen, das sauer verdiente Geld in neue Schätze investieren und vielleicht sogar die eigene Sammlung etwas verkleinern. Oder einfach als Gast in den Sammlungen diverser Leute stöbern und neue Lieblingsmusik entdecken. Das alles geht ganz wunderbar zur Elektronischen Schallplattenbörse in der Feinkost.

Hier die Fakten:

Wann? Am Samstag den 6.10.2018, 10-16 Uhr.
Wo? In der Feinkost, Karl-Liebknecht-Straße 36.
Wie? Standanmeldung unter espb-at-vinyl20-dot-com.

Und wie immer: Es muss nicht nur Vinyl sein und es dürfen sich auch nicht-elektronische Klänge dazwischenmogeln.

Saisonstart der Ableton-Workshops

Am Dienstag startet die Ableton User Group nach ihrer Sommerpause wieder in die Saison. Die Referentin Donna Maya wird etwas zu Beat Produktion erzählen.

Schon seit einiger Zeit stehen FLTI* im Fokus der Gruppe, was sich zum Beispiel darin äußert, dass es bisher vor allem Frauen waren, die als Referentinnen im Institut fuer Zukunft gesprochen haben. Auch jetzt kommt mit Donna Maya die erste Ableton Certified Trainerin zum Talk. Die Macher_innen des Workshops schreiben dazu in ihrer Einladung:

„Liebe Freund*innen der elektronischen Musik – insbesondere Frauen, Lesben, Trans*- und Inter*-Menschen ohne Plan von Musikproduktion, 

die Ableton Live User Group Leipzig (AUGL) ist der Ort an dem du zur Produzent*in werden kannst.
Ob Filmmusik oder Techno, wir sind offen für alle Styles, Musikproduktions-Programme und Menschen. Die meisten Besucher*innen der AUGL sind zur Zeit männlich. Treue Besucher: Kommt weiterhin an jedem letzten Dienstag im Monat ins Institut für Zukunft und bringt gerne eure zukünftigen Musikproduktionskolleg*innen mit! Wir möchten in den nächsten Jahren mehr Frauen* in der DJBooth sehen. Komm vorbei, sprich bei uns erfahrene Produzent*innen an, vielleicht hat jemand Lust, die ersten Schritte zu deinem ersten Track mit dir gemeinsam zu gehen. Du bist schon fortgeschritten? Super, komm vorbei und tausch dich mit anderen Produzent*innen aus, mit der Musikproduktionssoftware Ableton Live lernt man nie aus. Vorsichtig abchecken, vernetzen, lernen, Produktionen auf dem Kirsch-Soundsystem des IfZ testen: Die AUGL bietet dir dafür ein Forum.“

Nächste Gelegenheit: Am 25.09. ab 19 Uhr wird Donna Maya ’kreatives Beat Programming‘ bei uns in der AUGL im IfZ sprechen. Gerade Menschen mit wenig und sogar gar keiner Erfahrung eröffnet die Veranstaltung einen allgemeinen Einblick ins Produzieren mit Musiksoftware, speziell mit dem Programm Ableton Live – also alle Interessierten, kommt vorbei!“

Pop-up-Club im Leipziger Norden

Das Kunstfestival Monumenta in Leipzig-Wahren präsentiert nicht nur 6.000 Quadratmeter Kunst „zwischen Street und Fine Art“, sondern bietet seinen Besuchern auch eine Außenbar und einen eigenen Club. Ob und warum sich ein Besuch in Leipzigs erstem Pop Up Club lohnt, lest ihr hier.

Neun Minuten vom Hauptbahnhof mit der S-Bahn in Richtung Halle, zwei-drei Schritte um die Ecke, im gefühlten Nichts, gerade aus, da drängt sich schon von weitem ein riesiges Gelände und eine monströse Graffitiwand ins Sichtfeld. Hier muss es sein, das Monumenta Festival.

Das Gelände des Festivals erinnert an die Spinnerei in Plagwitz – weitläufig, Backstein, Backstein, Backstein, von außen etwas kaputt und verlassen, innen belebt und mit Kunst gefüllt. Dazu endlos hohe Decken. Im Hof der ehemaligen Pittlerwerke findet sich eine Außenbar, gleich daneben die Tür zum Monumenta-Club. In eben diesem Club finden noch bis zum Ende des Festivals, also bis zum 13. Oktober, Konzerte, Partys, Label Nights und ein Open-Air statt.Motto: „Intelligence of Many“
Der Monumenta-Club ist also etwas „ab vom Schuss“, dafür umgeben von Kunst, in einer alten Halle untergebracht. Herzstück sind Bar und DJ-Pult, die wie eine Jenga-Wand aus ineinander geschobenen Holzstücken bestehen. Zur Eröffnung gaben sich hier Radio Slave und Anja Zaube die Ehre. Ein guter Start für einen Club, der geradezu aus dem Nichts gestampft wurde.

Das hat dem ein oder anderen Clubbetreiber in Leipzig sicher auch ein paar Schweißperlen auf der Stirn beschert. Aber keine Sorge, der Monumenta-Club ist nur temporär. „Wir wollen keinem die Butter vom Brot nehmen“, erzählt Kristina Jahreis, die im Club mitarbeitet und die Events mitgestaltet.

Support der Leipziger*innen
Viel eher möchten sie mit den bestehenden Clubs im Austausch sein und gleichzeitig ein Alternativprogramm zu den üblichen Verdächtigen bieten. Gelungen ist die Annäherung mit dem Institut fuer Zukunft und dem So&So sowie verschiedenen Leipziger Crews, darunter die omnipräsente Strich Kreis – Crew (deren Sticker es nun mittlerweile in wirklich alle Ecken Leipzigs geschafft haben), Young Shields, der Fäncy-Crew und den Macher*innen von Limited Gold Edition und Transcendance. Die Liste wird noch durch Manamana ergänzt, die am 3. Oktober ein Open-Air vor und im Club bespielen werden.

Was es aber auch für eine gute Party in einem neuen Club braucht: Leute. Das schwankt von knackig-voll bis mittel-mau, was schade ist, denn der Monumenta-Club wird so schnell wie er kam auch (leider) wieder gehen. Bis dahin freuen sich die Macher*innen, darunter Sabrina Martkuzyk, natürlich „über Gäste, Feedback und gut besuchte Nächte“. Wirtschaftlichem Druck sind sie dabei nicht ausgesetzt, eine Null auf der Endrechnung reicht.Neun Minuten, Yes-Photo und draußen sitzen
Wem nun die neun Minuten mit der S-Bahn „nur“ für eine Party zu weit erscheinen, der sollte zwei Stunden extra einplanen, um vor Partybeginn (und der ist schon um 22.00 Uhr) die Ausstellung in den übrigen Hallen zu besuchen. Für 5 Euro kann man Basketbälle durch insgesamt 100 bemalte Körbe werfen („Play with Art“), raumfüllende Installationen anschauen, Werke von 1 UP bis Jan Kuck und eine zerstörte Polizeidirektion hautnah erleben (klingt komisch, ist aber so).

Fotos für die Daheimgebliebenen sind übrigens in allen Kunsträumen und auch im Club erlaubt.

Die erfrischende Yes-Photo-Policy ist nicht das einzige, womit sich der Monumenta-Club abhebt.

Die Lage außerhalb des Leipziger Zentrums erlaubt den Clubbesuchern auch nachts gut-launiges Rumlungern und draußen sitzen. Und wer doch nach Hause will, den fährt die S-Bahn bequem an den Hauptbahnhof zurück. Voilà, alles da. Jetzt muss das Angebot nur noch von den Leipziger Feiermenschen genutzt werden. Wer also nach dem 13. Oktober wieder über die Alternativlosigkeit zu den zwei, drei netten Clubs in Leipzig meckert, ist selbst Schuld, wenn er_sie nicht wenigstens einmal im Monumenta-Club gewesen ist. Denn ob es den Club und das Kunstfestival noch einmal geben wird, ist ungewiss.Programmausblick
21.09. ab 20.00 Uhr in Concert: Dolphins / Balcony DC anschließend ab 22.00 Uhr Party mit INAR und Transzendånce
22.09. ab 16.00 Uhr Fäncy
23.09. ab 16.00 Uhr Paters Birthdaybash
28.09. ab 22.00 Young Shields
29.09. ab 22.00 OMAD x VBA
30.09. ab 15.00 Limited Goldedition Greatest Summerhits
03.10. Open Air Mannamenta
, kuratiert von den Manamanas und der Monumenta
05.10. ab 22.00 Uhr Girls United
0
6.10. ab 22.00 IfZ X Monumenta
07.10. ab 16.00 Uhr Ambient Afternoon X
/\\ <•> /\\ (Bodo Hansen/Jonas Wehner)
13.10. ab 22.00 Uhr Monumenta Closing mit Marshall Jefferson, Tyree Cooper, Sportbrigade Sparwasser

FEUERTANZ – Teil I: Riskante Raves im Grünen

Eskapismus in der Natur: Die unangemeldeten Open Airs in den Wäldern und Parks Leipzigs. Für die beteiligten Kollektive bedeutet das Tanzen unter freiem Himmel ein permanentes Risiko – jede Sekunde kann die Polizei auftauchen und alle beenden. Ein Problem für die Öffentlichkeit oder ein unkonventioneller Beitrag zur Leipziger Kulturszene?

Wenn es in warmen Sommernächten in den Clubs zu schwitzig wird, geht es raus in die Leipziger Natur, auf ein Open Air. Klar, so ein Freiluftrave kann ziemlich viel Spaß machen. Die friedliche Feierei verletzt allerdings einige Gesetze – und ist damit illegal.

Unsere neue Autorin Lea lässt in ihrem sechsteiligen Feature alle Perspektiven zu Wort kommen: Von den Veranstalter*innen und den Gästen eines Open Airs über den Anwalt Jürgen Kasek und die Stadträtin Juliane Nagel (Die Linke) bis hin zu einer Stimme aus der Polizeidirektion Leipzig. Zum Schutz der Beteiligten wurden die Namen der Crewmitglieder geändert und Gesichter unkenntlich gemacht.


Friede, Freude, Sternenhimmel – und Gesetzesbrüche
Sonntag, 03:30 Uhr. Südlich von Leipzig.

Der Bass pulsiert. Tief und drückend ergreift er alle, die sich auf der kleinen Wiese zwischen den Hügeln der Musik hingeben. Synthesizer surren wie Wespenschwärme, unbarmherzig peitschen glasklare Hi-Hats die Tanzenden durch die Nacht. Dicht an dicht gedrängt bewegt sich die Menge ekstatisch im Rhythmus, 130 Beats pro Minute. Violette und blaue Lichtsäulen durchdringen die Dunkelheit des klaren Nachthimmels, erhellen schlanke Bäume und dichte Sträucher an den Hängen der beiden Hügel, die den brodelnden Dancefloor einrahmen.

In der ersten Reihe vor dem hölzernen DJ-Pult flammt ein Feuerzeug auf. Das kleine Licht erhellt das leicht gerötete Gesicht einer jungen Frau. Kurze, schwarze Locken, bauchfreies Top, weiße Sportshorts. Die Zigarette zwischen ihren Lippen beginnt zu glimmen. Sie nimmt einen tiefen Zug. Dann schließt sie ihre fast schwarzen Augen. Tief in die verschlingenden Bässe eintauchend, wiegt sie sich im Rhythmus. Ihre Bewegungen werden immer dynamischer, fließender. Sie wirft ihren Kopf leicht hin und her und reckt ihre Hände anmutig in die Luft. Über ihrem Gesicht breitet sich ein seliges Lächeln aus. Es scheint zu sagen: Dieser Moment ist perfekt.Sobald sich im Frühling erste Sonnenstrahlen durch den bedeckten Februar-Himmel mogeln, spielen sich solche Szenen so gut wie jedes Wochenende in Wäldern, auf Wiesen, unter Brücken und an Seen ab. Wer plant das alles, organisiert, bastelt, baut, dekoriert, macht Musik, verteilt Getränke, baut ab und räumt auf? Meist sind es Leute, die Bock haben, Partys zu veranstalten und sich dafür zu Kollektiven zusammenschließen. Zurzeit gibt es in Leipzig um die fünfzehn Crews, die sich regelmäßig mit einer Anlage, Deko und ein paar Flaschen Bier ausgestattet auf eine Wiese stellen und die Umgebung beschallen – ohne dabei Geld zu verdienen.

Diese Partys finden meist unter dem Radar der Öffentlichkeit statt. Denn um eine ganze Menge Geld und bürokratischen Aufwand zu vermeiden, sparen sich die Kollektive eine Anmeldung bei den Behörden. Darüber hinaus scheint besonders die friedliche Idylle von Naturschutzgebieten zum Tanzen und Feiern einzuladen – Crews und Gäste tun dies mal aus Unwissenheit, mal aus Ignoranz.

Hinzu kommt, dass die Hände des einen oder der anderen DJ* im Auflege-Flow nicht stillhalten können und die Lautstärke immer weiter aufdrehen. Die dumpf pumpenden Bässe dringen oft auch in die Schlafzimmer manch hellhöriger Anwohner*innen, selbst wenn diese Kilometer entfernt wohnen. Sie suchen Hilfe bei Polizei oder Ordnungsamt, die in der Regel wenig später erscheinen und dem Tanzvergnügen ein schnelles Ende machen. Open Airs sind also illegale Veranstaltungen – die Menschen in den Kollektiven machen sich damit strafbar.Hier auf der Wiese zwischen den Hügeln scheint sich jedoch niemand die Laune von dem Risiko verderben zu lassen: Die Leute feiern, als gäbe es kein Morgen – und keine Polizei, die dem ganzen Treiben ein Ende setzen könnte. Die Gruppe etwas hippiesk anmutender Leute in schreiend-bunter Vintage-Kleidung springt ausgelassen und lachend im Kreis, eine fast leere Sektflasche über ihren Köpfen schwenkend. Die beiden Jungs vorne links knutschen wild rum, während sie sich smooth im Rhythmus der Musik bewegen. Ein Mädchen mit Zigarette in der linken und Wasserflasche in der rechten Hand juchzt entrückt und jubelt der DJ zu.

Der düstere Klangteppich aus brachialen Kickdrums, diffus-verschwommenen Basslines, wabernden Synthesizern und klirrenden Hi-Hats schwillt zu einem immer heftiger zirkulierenden Wirbelsturm. Menschen, Wald und Musik lösen sich auf und verschmelzen in einem einzigen Flow. Dann eine Break, die Kickdrum setzt aus. Die DJ dreht kurz am Filter und lässt den Bass mit einem Grinsen wieder reinknallen.

Im zweiten Teil unserer Reihe über die Leipziger Open Air-Kultur erfahrt ihr, worauf die Crews bei der Spotsuche achten müssen und wieso mit Bier und Kippe im Stuhlkreis sitzen so wichtig für den fetten Rave am Ende ist.

FEUERTANZ – TEIL I: RISKANTE RAVES IM GRÜNEN

FEUERTANZ – TEIL II: DER PERFEKTE SPOT UND DISKUSSION IM PLANUNGSPLENUM

FEUERTANZ – TEIL III: BAUSTELLENABMIENTE, INVESTITIONEN UND POLIZEI-PRÄVENTION

FEUERTANZ – TEIL IV: GEDANKEN VON BESUCHER*INNEN & ENTWICKLUNGEN DER LETZTEN JAHRE

FEUERTENZ – TEIL V: ZU FRÜH GEFREUT – AUFTRITT POLIZEI

FEUERTANZ – TEIL VI: GESETZE VERSUS RECHTE

FEUERTANZ – TEIL VII: KEINE ZUKUNFT IN DER GEGENWART

Fotos: M.L.

FEUERTANZ – Teil II: Der perfekte Spot und Diskussion im Planungsplenum

Eine Anlage, etwas Bier, eine Handvoll DJs, eine Prise Glitzer – et voilà, ein Open Air. Um einen ordentlichen Rave im Grünen auf die Beine zu stellen, braucht es jedoch mehr. Worauf die Crews bei der Spotsuche achten müssen und wieso mit Bier und Kippe im Stuhlkreis sitzen so wichtig für den fetten Rave am Ende ist.

Auf Entdeckungstour im Leipziger Outback
Dienstag, 16:30 Uhr. Südlich von Leipzig.
Drei Wochen bis zum Open Air.

Unsere Räder holpern über die schmale Schotterpiste, die sich durch einen lichten Birkenwald schlängelt. In der Ferne das leise, konstante Brummen der Autobahn. Vogelgezwitscher im Ohr, die sanfte Sonne auf der Haut.

Vor einer Dreiviertelstunde ging es mit der S-Bahn in Richtung Süden. An einem kleinen, wie ausgestorben daliegenden Bahnhof angekommen, schnell auf die Räder geschwungen und losgefahren – über eine Landstraße, an einem See vorbei, durch einen Wald. Immer Max hinterher, denn er hat die Koordinaten auf seinem Handy. Sie zeigen uns den Ort an, zu dem wir wollen.

„Wie weit ist es noch?“, stöhnt Elena auf dem Rad hinter mir. Die Erschöpfung in ihrer Stimme ist nicht zu überhören. Max dreht sich zu uns um: „Die Koordinaten zeigen noch ungefähr dreihundert Meter. Der Spot müsste gleich da vorne hinter der Biegung sein.“

Max, Elena & Nebel
Max – Anfang zwanzig, feuerrotes, kurzrasiertes Haar, immer ein breites Lächeln auf den Lippen. Auf seiner Nase eine silberne Nickelbrille, in den Grübchen seiner Wangen silberne Piercings. Die mit Ornamenten verzierte Kette am Lederband um seinen Hals gibt ihm etwas Hippieskes. Er ist in Leipzig aufgewachsen und studiert hier an der Universität Psychologie.

Elena ist eine sympathische, etwas verpeilte, junge Frau mit dunklem Lockenschopf. In ihrem Haar steckt eine schwarze Sonnenbrille. Dazu trägt sie etwas ausgelatschte Sneakers, schwarze Sportshorts und ein weißes T-Shirt, ihre schwarze Bauchtasche um die Schultern gegürtet. Sie ist vor ein paar Jahren wegen ihres Politik-Studiums nach Leipzig gezogen.

Die beiden sind Mitglieder des Kollektivs Nebel. Das Kollektiv hat sich vor ungefähr einem Jahr gegründet und besteht aus gut fünfzehn Leuten. Allesamt sind ziemlich verschiedene Charaktere – mit einer Gemeinsamkeit: Die Liebe zur elektronischen Musik. Vergangenen Sommer hat die Crew zwei Open Airs veranstaltet, dann kam der Winter und sie mussten wetterbedingt in die Keller der Clubs ausweichen. Für dieses Jahr ist es an der Zeit, sich wieder in Sonne und Natur zu begeben, finden die Mitglieder.Gefährliche Spuren und kritische Outdoorjacken
Max und Elena sind gerade auf der Suche nach einem geeigneten Ort für das nächste Open Air. Sie sind gewissermaßen die Kundschafter*innen für die ganze Crew und sollen verschiedene Spots auf ihre Tauglichkeit prüfen. Der Wald lichtet sich, der Schotterweg mündet in eine Kreuzung. Max wirft einen Blick auf sein Handy. „Hier ist es!“, ruft er triumphierend. Er springt von seinem Rad und lehnt es an einen Baum.

Wir stehen vor einer großen Lichtung, die zum Großteil von einem Zaun umgeben ist. Der Boden ist vom Regen der vergangenen Tage aufgeweicht und morastig, welkes Laub und Moos bedeckt den Boden. Im Matsch zeichnen sich Wildschweinspuren ab. Wir begeben uns auf Entdeckungstour, stapfen auf dem Gelände umher und schlagen uns durch das dichte Unterholz. „Hier wäre vielleicht Platz für das DJ-Pult, dann könnten wir daneben die Bar stellen“, schlägt Elena vor und zeigt auf die Grenze zwischen Lichtung und Wald.

„Wir brauchen einen Platz, an dem wir ungestört sind – aber das ist hier nicht der Fall.“ – Max

Ziemlich schnell zeigt sich jedoch, dass dieser Spot für das Open Air ungeeignet ist: Der Boden ist zwar flach und wäre demnach eine solide Tanzfläche, allerdings liegen überall Schuttberge herum, die eine mögliche Gefahrenquelle darstellen. Noch viel problematischer ist jedoch die Lage nur wenige Meter von einem See entfernt.

Ein Pärchen mittleren Alters, das sich für den Spaziergang um den Baggersee in volle Outdoor-Montur geworfen hat, spaziert am Zaun entlang, bleibt kurz stehen und beäugt uns kritisch. „Hier ist es nicht abgeschieden genug. Wir brauchen einen Platz, an dem wir ungestört sind – aber das ist hier nicht der Fall“, kommentiert Max ernüchtert.

Damit fällt dieser Spot bei einem der wichtigsten Kriterien durch: Die Sicherheit vor der Öffentlichkeit. Ist die Location nah an einem belebten Wanderweg oder ähnlichem gelegen, riskiert die Crew einen schnellen Besuch der Polizei. Darüber hinaus ist das Gelände zum Teil umzäunt, juristisch gesagt: umfriedet. Diese Umfriedung kennzeichnet ein Privatgelände. Würde die Crew das Open Air dort veranstalten und erwischt werden, würde sich die Strafe durch den Tatbestand des Hausfriedensbruchs noch erhöhen. Und die Wildschweinspuren im Matsch lassen darauf schließen, dass die Verursacher nicht weit sind. Das ist einerseits aus Tierschutzgründen problematisch, andererseits könnte ein wütendes Wildschwein, das seine Jungen verteidigen möchte, auch zur Gefahr für die Gäste des Open Airs werden.

Die Mücken, die permanent um unsere Köpfe schwirren und uns mit ihren Stichen traktieren, machen die Situation nicht gerade besser. Leicht frustriert sammeln wir unsere Räder wieder ein und fahren weiter. Ein weiterer Spot steht noch auf unserer Liste.

Idylle in der Abendsonne
Einige Minuten später biegen wir von einer breiten, geteerten Forststraße auf einen unbefestigten Feldweg ab. Die Abendsonne wirft ihr warmes Licht auf eine kleine Hügelkette zu unserer Linken. Es sind vier oder fünf Hügel, die sich in einer Reihe aneinanderschmiegen und mit Gras, Dornengestrüpp und niedrigen Bäumen bewachsen sind. Zu unserer Rechten ein Acker, ein paar Obstbäume, ein kleiner Tümpel. „Wow – mega schön hier!“, entfährt es Elena. Auch über Max‘ Gesicht breitet sich beim Anblick dieser idyllischen Kulisse ein begeistertes Lächeln aus.

Die Hügel bilden kleine Buchten – perfekt für einen gemütlichen, geschützten Floor. „Das hier muss auf jeden Fall noch weg“, sagt Max und zupft mit kritischem Blick an den langen Grashalmen, die ihm bis zur Hüfte reichen. Auch die Lage ist ideal: Recht nah an der Bahn-Station, aber dennoch weit außerhalb der Stadt und ein gutes Stück entfernt von Wohngebieten. Elena strahlt: „Um die Lautstärke müssen wir uns wohl keine Sorgen machen.“ Die Forststraße scheint ebenfalls verlassen zu sein, und auch sonst zeigt sich keine Menschenseele.

Das einzige Manko: Zwei Hochsitze flankieren den Acker unmittelbar neben den Hügeln. „Hoffentlich taucht Sonntagmorgen nicht der kurzsichtige Förster auf und macht mit seiner Flinte Jagd auf verwirrte Raver“, grinst Elena. Die beiden fotografieren und filmen die Location, um den anderen Crewmitgliedern beim nächsten Plenum einen fundierten Eindruck verschaffen zu können. Die beiden sind sich sicher: Sie haben den perfekten Spot gefunden.„Hallo und herzlich willkommen zu unserem heutigen Plenum“
Freitag, 21 Uhr. Leipzig-Volkmarsdorf.
Drei Wochen bis zum Open Air.

Drei Tage sind vergangen, seit Max, Elena und ich den malerischen Spot bei der Hügelkette entdeckt haben. Ich sitze auf einem roten Perserteppich in einer verwinkelten Ein-Zimmer-Wohnung im Leipziger Osten. Die sanfte Wärme des Tages staut sich hier im Dachgeschoss zu schweißtreibender Hitze. In einer Ecke des Zimmers sind zwei Plattenspieler, CDJs und ein Mixer, sowie analoges Equipment zum Produzieren elektronischer Musik aufgebaut. Auf dem alten DDR-Fliesentisch vor mir: Drehzeug, Aschenbecher, leere Bierflaschen, volle Bierflaschen. Im Hintergrund läuft leise ein Techno-Set.

Wir sitzen in einem großen Kreis. Ein paar auf einem zerschlissenen Ledersofa, der Großteil auf dem Boden. Elena schaukelt auf dem Schaukelstuhl neben mir entspannt vor und zurück. Fast alle aus der Crew sind da, das Open Air steht schließlich kurz bevor und es gibt einiges zu besprechen. Gerade ist der Lärmpegel noch recht hoch: In kleinen Grüppchen werden amüsiert Geschichten des vergangenen Wochenendes ausgetauscht, gefragt, wo man am Abend feiern gehe und über Gott und die Welt geschnackt. Till, ein großer Typ mit blondem Dutt und Dreitagebart, ergreift das Wort. Die Gespräche verstummen, alle schauen ihn erwartungsvoll an.„Hallo und herzlich willkommen zu unserem heutigen Plenum“, leiert er in gespielt-seriösem Ton und lacht dann. Er kratzt sich nachdenklich am Kinn und blickt auf den vollgekritzelten Zettel, der auf dem leeren Pizzakarton auf seinem Schoß liegt. „Wir haben heute relativ viel auf dem Programm, im Vergleich zu den letzten Wochen.“ Neben dem anstehenden Open Air wird auch die Planung einer Party in einem Club angegangen, die ebenfalls kurz bevorsteht.

Elena beugt sich zu mir herüber. Flüsternd erklärt sie: Das Plenum von Nebel findet fast jede Woche statt. Es gibt immer etwas zu besprechen, mal mehr, mal weniger. Wenn mehr, dann kann sich die Diskussion auch mal bis Mitternacht ziehen. Wenn weniger, wird die Agenda innerhalb einer halben Stunde abgearbeitet und danach einfach zusammengesessen, geschnackt und aufgelegt. Bei jedem Plenum wird Protokoll geführt, damit diejenigen, die es mal nicht zum Plenum schaffen, sich ohne Schwierigkeiten auf den aktuellen Stand bringen können.

„Bitte tragt euch in die Liste mit euren Verfügbarkeiten ein“, fährt Till mit der Open Air-Organisation fort. „Dann können wir effektiv planen, welche Bauprojekte sich schon an den Tagen vor dem Open Air umsetzen lassen. Außerdem müssen wir eine Materialübersicht erstellen, in die wir sowohl Baumaterial als auch Werkzeug eintragen können.“

Danach geht es um den Spot. Till übergibt das Wort an Max, der von unseren Abenteuern im Leipziger Süden berichtet und schließlich von unserer Entdeckung erzählt und Fotos zeigt. Begeisterung macht sich breit, die Leute beginnen in Einzelgesprächen abzudriften. Till ruft sie jedoch wieder zur Räson. „Also wir haben uns darauf geeinigt, dass wir zwei Floors haben, eine richtig große Bar, wo vier Leute bedienen können, mit Backstage für unseren Kram.“

Wraps oder Kartoffelsalat?
Ein Finger tippt sachte auf meine Schulter. Ich drehe mich zu Elena. „Till moderiert da Plenum, hat eine Agenda ausgearbeitet und sagt Leuten, dass sie die Klappe halten sollen, wenn es hier zu laut wird. Aber trotzdem ist er auf keinen Fall unser ‚Chef‘ oder so“, erzählt sie mit gesenkter Stimme. Im Kollektiv wird alles gemeinschaftlich und demokratisch entschieden. Egal ob das Auflegen, die Logistik, die Bar-Organisation, die Deko oder die PR der Schwerpunkt der Tätigkeiten ist, alle stehen auf der selben Stufe – das macht ein Kollektiv aus, erklärt sie.

In unserem Sitzkreis wird gerade diskutiert: Wer legt wann auf und auf welchem der beiden Floors? Sollen Soundanlage und DJ-Equipment gemietet oder von Crew-Mitgliedern geliehen werden? Welche Getränke und müssen gekauft und welche Snacks zubereitet werden? Wann und wo werden alle Paletten, Sofas, Holzbretter und Werkzeuge gesammelt und zusammen mit dem DJ-Equipment und der Anlage zum Spot gebracht? Und vor allem: Wer bleibt nüchtern und wird nach dem Abbau alles zurückfahren?

Donnerstagabend. Zwei Tage bis zum Open Air.
In den Plena wurden die wichtigsten Entscheidungen und Absprachen getroffen, die konkreten Details werden jedoch erst in den Tagen vor dem Open Air in einem Messenger-Gruppenchat besprochen. Im Minutentakt ploppen auf meinem Handy neue Nachrichten auf: Über Nacht- und Nebelaktionen zur Beschaffung von Baumaterialien für die Deko, über die besten Läden auf der Eisenbahnstraße, um günstiges Fladenbrot für den Essensstand zu kaufen, über Barschichtpläne und ob eigentlich jemand einen Generator besorgt hat.

Im dritten Teil unserer Reihe über die Leipziger Open Air-Kultur erfahrt ihr, wie die handwerklichen und künstlerischen Talente vor Ort zum Einsatz kommen, was das Kollektiv mit den Spenden der Gäste anfängt, wie sich die

FEUERTANZ – TEIL I: RISKANTE RAVES IM GRÜNEN

FEUERTANZ – TEIL II: DER PERFEKTE SPOT UND DISKUSSION IM PLANUNGSPLENUM

FEUERTANZ – TEIL III: BAUSTELLENABMIENTE, INVESTITIONEN UND POLIZEI-PRÄVENTION

FEUERTANZ – TEIL IV: GEDANKEN VON BESUCHER*INNEN & ENTWICKLUNGEN DER LETZTEN JAHRE

FEUERTENZ – TEIL V: ZU FRÜH GEFREUT – AUFTRITT POLIZEI

FEUERTANZ – TEIL VI: GESETZE VERSUS RECHTE

Fotos: Lea Schröder

Hommage an die Komfortzone – Mauro Caracho

Gamal aka Mauro Caracho lebt seinen Traum. Er ist DJ, Resident, Labelbetreiber und Booker. Wie es dazu kam, was ihn und seinen Sound auszeichnen, haben wir in einem Interview erfahren. Als passende Lesebegleitung zum Portrait empfehlen wir sein Set „It‘s been a while!“.

„Ich weiß zwar nicht, was es über mich zu schreiben gibt, aber klar“, so lautete Gamals Antwort auf die Interviewanfrage für frohfroh – nur wenige Tage nach seinem Gig im Berghain. Eine Woche später erwartet er mich im weißen Sweater und schwarzer Feel Good-Hose im Vary. Gastfreundlich kümmert er sich um Getränke, um den perfekten Platz, geht zum Tresen, plauscht kurz mit den Vary-Leuten. Er agiert leichtfüßig, wirkt souverän. „Ich bin voll aufgeregt“, sagt er, als er sich hinsetzt und zur Ruhe kommt.

Der sportive Street-Style lässt heute nichts mehr von der Zeit als dreizehnjähriger Trance-Boy erahnen – außer vielleicht das Jersey-Beinkleid als Huldigung der 90er. Mit Plateaus, aufgestellten Haaren, Piercings und Schlaghosen waren das Gamals erste Berührungspunkte mit elektronischer Musik. Nach zwei Jahren zog es ihn kurz in die Rockszene, um vor sechs Jahren nach seinem Studium wieder zum zarten, zukunftsbejahenden Genre zurückzukehren. Über all die Jahre und unterschiedlichen Richtungen sammelte Gamal Musik. „Ich war schon immer Musik-Nerd, kannte die Labels, die Künstler, die Tracks, habe mir das alles gemerkt und gesammelt.„

Das zweite Kapitel seiner Feierzeit – diesmal ohne Schlaghosen – verlief nun weniger temporär: „Dann habe ich die Fäncys entdeckt, oder besser gesagt, die Fäncys haben mich entdeckt.“ Er wollte nicht mehr nur das konsumieren, was andere erschaffen, sondern half beim Auf- und Abbau der Fäncy-Partys – jene überschaubaren, familiären Veranstaltungen mit Privateinladung, die vor vier Jahren noch in engen Kellerräumen, Abrisshäusern oder staubigen Dachgeschossen passierten.

Zum ersten Crew-Meeting traf er auf fünfzehn unterschiedlich durchgeknallte Leute und fühlte sich wohl. Die Partys wurden größer, die Deko bunter, Mauro Caracho begann aufzulegen: „Martin sagte irgendwann: ‚Wir machen nächste Woche eine Party, du legst jetzt einfach mal auf, du hast so viel Musik.‘ Der hat mir dann einen Controller ausgeliehen. Wie ich so bin, habe ich dann täglich drei Stunden zu Hause aufgelegt.“

Nach zwei Jahren fragte das erste Mal die Distillery an. Wie hast du das erlebt?

„Nach zwei Jahren Auflegen ist es super zeitig, in einen Club, wie die Tille eingeladen zu werden. Der Club bedeutet für mich auch sau-viel. Ich bin gebürtiger Leipziger, meine Mutter war in der Tille feiern. Hans, der alte Grillmann, war jahrelang mein Stiefvater. Als dann der Ruf aus der Tille kam, waren wir alle super aufgeregt. Wenn man realisiert, dass das echt was werden kann. Als wir dann nach einem Jahr sogar Residents wurden, hat mir das die Ernsthaftigkeit gezeigt. Es ist eben nicht nur Jux und Tollerei, sondern das kann ja wirklich was werden.

Ich versuche immer, es nicht zu sehr zu forcieren und hatte bisher das Glück, dass es von alleine ging. Natürlich habe ich Erwartungsdruck und einen Anspruch an mich selbst. Die ersten Male vor dem Auflegen in der Tille habe ich regelmäßig gekotzt – vor Aufregung. Ich will Sachen gut machen und steigere mich dann auch rein, ich saß tagelang vorher da und fragte mich: Was kann ich spielen, was kann ich mal besonderes machen.“Platten-Handwerk versus USB-Stick – du lebst die digitale Freiheit beim Auflegen. Existieren dazu kritische Stimmen?

„Ich bewundere es, wenn Leute mit Platten auflegen können. Aber das ist nicht die Form, wie ich mich als DJ verstehe. Ich spiele Musik, damit die Leute dazu tanzen. Daran wird es doch gemessen, nicht an der Art und Weise, wie ich das mache. Wenn bei mir am Ende alle im Raum tanzen und eine sau-gute Zeit haben, dann fragt keiner mehr, ob ich eine Platte oder MP3 gespielt habe.

So habe ich viel mehr Freiheiten beim Auflegen. Ich bin viel variabler, weil ich viel mehr Musik mitnehmen kann. 1.600 bis 1.700 Lieder habe ich dabei. Darüber dann den Überblick zu behalten, ist meine Aufgabe. Ich gehe mindestens einmal pro Woche ins Atelier, um dort drei bis vier Stunden aufzulegen – immer wieder durchhören, immer wieder radikal aussortieren, immer wieder Selbstkontrolle. Die Lieder habe ich in 40 Ordner eingeteilt, so wie ich Musik höre – Afrobeat, Weltmusik, Elektronische und Nichtelektronische Musik zum Beispiel. Dann gibt es noch Ordner mit aktueller Musik der letzten drei Monate, die ich mir gerade gekauft habe und die ich gerade in der Rotation habe.“

In deinen Sets schwingt immer etwas Sphärisches mit. Kannst du erklären, woher das kommt?

„Wahrscheinlich weil ich eine verträumte Meise habe. Früher fand ich schon Trance geil. Es ist schwierig, mich in ein Genre einzuordnen, weil ich immer das spiele, worauf ich gerade Bock habe. Das kann dann schon quer durch den Gemüsegarten gehen. Die verträumten Flächen ziehen sich allerdings durch.“

„Ich mag emotionale Musik, die etwas auslöst.“

„Auch wenn ich funktionale Musik verstehe und verstehe warum Leute das mögen. Ich selbst brauche aber das Emotionale und das kommt eben durch die Flächen und verträumten Sounds.“

Dein Sound wirkt heute harmonischer und erwachsener. Wie hat er sich nach fünf Jahren verändert?

„Ich habe seit einem halben Jahr das Gefühl, dass ich endlich ankomme, auch mit meinen Fähigkeiten. Eigentlich ist alles super jung. Darum ist es schwer, selbstvertraut zu sein. Mittlerweile habe ich akzeptiert, dass mein Sound nicht einzuordnen ist. Ich ruhe mehr darin und setze mehr Vertrauen in den Sound.

Einerseits weil ich mittlerweile die Anerkennung bekommen habe, andererseits weil ich es auch selbst abfeiere. Das ist meine Prämisse und mein Auswahlkriterium bei den Tracks. Selbst wenn ich denke, der Track könnte funktionieren – wenn sich bei mir nichts regt, fliegt er weg. Dort steckt auch die Grundidee dahinter, dass ich endlich mal die Musik spielen kann, auf die ich Bock habe und derjenige bin, der im Raum am meisten ausrastet – eben weil es meine Musik ist.

Gerade stehe ich auf Afrobeats – das ist auch gerade der Zeitgeist. Die lassen sich gut mit meinem organischen Sound verbinden. Ich stehe aber auch auf Roman Flügel Sounds – DeepHouse, TechHouse oder Techno. Tracks, die viele Höhen haben – die dir eigentlich deinen Verstand kaputt machen. Genauso mag ich fette Bassflächen. Prinzipiell muss es sich gut anfühlen – das ist meine Prämisse.“

Wie entscheidest du dich, welches Genre du spielst? Ist es situativ, vom Club, vom Publikum abhängig oder nur von deiner eigenen Stimmung geprägt?

„Beides. Es ist natürlich auch die Stimmung, die ich versuche aus den Leuten zu lesen. Der Club macht 10 % aus, die Stimmung der Leute 50 %, der Rest meine Stimmung. Die Idee, die ich von einem DJ-Set habe, ist gleich: Leute abzuholen, dazubehalten und im besten Fall ein bisschen zu hypnotisieren.

Dabei will ich sie aber auch immer mal in Feier-Ekstasen lassen. Darum lege ich auch gern allein auf. Dann habe ich die Chance eine Geschichte zu erzählen. Den Tänzer auch mal zu nerven, die Spannung auszureizen, um ihn dann auch wieder zu erlösen. B2B lege ich aber auch super gern auf. Dabei kann man sich inspirieren lassen und in eine Ecke kommen, in die man von allein nie vorgedrungen wäre.“Wie wichtig ist eine Crew heutzutage im DJ-Business?

„Es gibt so viele DJs heutzutage. Die Möglichkeiten sind einfach da. Wenn man sich nicht selbst eine Bühne schaffen kann, ist es relativ schwer. Außerdem bekommt man auch regelmäßiges Feedback von seinen Freunden. Die sagen dir auch mal, wenn was scheiße ist oder wenn etwas geil ist und man dranbleiben sollte. Durch die Bestätigung von meiner Crew habe ich mir auch erst den Mut entwickelt, das Ding weiterzumachen. Vor allem für einen Rudelmenschen, der sich gern mit Leuten umgibt – wie ich einer bin – ist das super wichtig.

Außerdem hat unsere Szene in Leipzig bestimmte Mechanismen. Man braucht auch Leute, die einen zeigen, wie das so langläuft. Zum einen war das Martin, der quasi die Idee geschaffen hat, nicht nur Musik zu sammeln, sondern auch aufzulegen. Zum anderen war das Hendrik, der mir ultra-viel beigebracht hat – beispielsweise wie er DJ-Sets begreift. Von ihm habe ich so viel gelernt und Mut gefasst, auch heute noch.

Aktuell kann ich auch Markus als Mentor bezeichnen. Für die Distillery haben wir anlässlich des 25-jährigen Geburtstags ein Label gegründet – Distillery Records. Außerdem gründe ich gerade eine Booking-Agentur. Ich bin jetzt Booker von Vincent Neumann für Europa und von Filburt.

Dabei ist Markus gerade voll meine Muse. Er hat Ideen und ich habe immer Bock es umzusetzen. Da kommt bestimmt auch noch eine Menge. Wir sind beide immer ‚an‘ und das macht Spaß. Mit ihm kann ich das endlich mal ausleben. Das ist Verwirklichung. Die Energie dazu war schon immer in mir.“

„Durch Markus habe ich jetzt gelernt, die Energie auch in die richtige Richtung zu schießen. Ich bin dankbar, dass er in mein Leben getreten ist.“

Was sind deine persönlichen Ziele bei deiner Booking-Agentur?

„Mit der Booking-Agentur investiere ich das erste Mal in mich und meine etwaige Zukunft, auch mit finanziellem Aufwand, wie für das Logo oder die Homepage. Meine Prämisse war es, mit Leuten zusammenzuarbeiten, die ich mag – dieses Buddy-Business, das auch Markus mit Riotvan hat. Dabei ist die Arbeit vielmehr das Produkt von dem, was man sowieso zusammen hat.

Zuvor bin ich immer von einem Job zum anderen gerannt. Ich habe Zelte in der Schweiz gebaut, Boote verliehen, im Callcenter gesessen, auf dem Bau gearbeitet, Pizza ausgefahren. Bis jetzt das kam, worauf ich immer gewartet habe. Das zu machen, was ich gern mache – mit den Skills, die ich zwar nicht studiert habe, aber in mir trage. Ich könnte mich nie dem festen Angestellten-Verhältnis unterwerfen, wenn ich das Selbstständige, was mich im Herzen berührt, nicht wenigstens einmal probiert hätte – auch wenn das bedeutet, auf Sicherheit zu verzichten. Beim Auflegen heule ich immer noch regelmäßig, weil es so schön ist, weil es mir so gut dabei geht. Dafür bin ich dankbar. Dass ich mit dem Geld verdienen kann, was ich zu meiner Leidenschaft rausgearbeitet habe, ist ein Geschenk.“

Uhrzeit und Hunger fordern mittlerweile einen Umzug ins gegenüberliegende „Damaskus“. Während Gamal den letzten Satz beendet, tritt er unglücklich an das Tischbein – Tassen und Teller klappern kurz: „Masel tov!“. Sein Lächeln verzaubert wie sein Optimismus, der es trägt.

„Es kann nur gut werden und wenn es nicht gut wird, dann ist es nicht schlimm.“ Es scheint, als würde das Grundvertrauen tief in ihm ruhen – Grundvertrauen in sich selbst, genauso wie in seine engste Umgebung. Jeder seiner Freunde muss durch ein Werte-Cluster, Indikator ist das Ethos. Erst im Veranstaltungstext seiner Geburtstags-Fäncy ehrte ihn der Spitzname „Gerechtigkeits-Gamal“.

Gamal ist streng. Streng mit seinen Engsten und noch strenger mit sich selbst. „Ich mache mir das Leben zwar schwer dadurch, aber ich bin der Meinung, dass sich jeder das Leben schwer machen muss. Es funktioniert ja offensichtlich so in der Gesellschaft nicht.“

Mittlerweile klingelt sein Handy zum zweiten Mal. Er entschuldigt sich und ruft seine Großmutter zurück, die er seit einigen Jahren umsorgt. Neben seiner Mutter ist sie in Leipzig das zweite Familienmitglied – im genetischen Sinne. Bereits als Achtjähriger verbrachte er mehr Zeit mit Freunden als im erblichen Kollektiv, suchte seine Familie außerhalb seiner Genetik. „Jetzt ist der Gipfel erreicht. Eine bessere Familie gibt es nicht, als die, dich jetzt gefunden habe.“

Allein sieht man Gamal nicht oft. Im Clubkontext unterhält er sich an der einen Ecke, organisiert an einer anderen – sei es im IfZ im Rahmen der Artist-Care oder in der Distillery als Resident und Label-Betreiber. Netzwerk-Boy. Trotz aller Professionalität zeichnet ihn eine charmante Flapsigkeit aus, mit der er Nervosität überspielt. Mit Künstlern*innen, bei denen er sich einst als aufgeregter Fan vorstellte, hat er Augenhöhe erreicht und bleibt dennoch auch Fan-Boy. Vielleicht ist es genau diese Mischung, die ihn in solche Situationen bringen, wie auf seiner Couch mit Moscoman Fifa zu zocken.

„Ich weiß nicht, warum alle immer sagen ‚raus aus der Komfortzone‘. Ich bin voll in meiner Komfortzone angekommen und fühle mich sau-wohl.“

So&So muss dicht machen?

„So&So macht dicht“ hieß die letzte Party vor der Sommerpause. Mittlerweile scheint in dem Titel eine Vorahnung dabei gewesen zu sein. Dem Club wurde zu Ende September gekündigt.

Es stand schon länger im Raum: Das riesige Areal zwischen der Bahnstrecke nach Norden, der Eutritzscher Straße und Theresienstraße soll in den nächsten Jahren zu einem neuen Quartier ausgebaut werden.

Am Rand, aber irgendwie trotzdem mittendrin liegt das So&So. Und das sollte eigentlich auch so bleiben. Aber scheinbar konnten sich beide Seiten nicht einigen bzw. konnte der jetzige Besitzer des Geländes, die CG Gruppe, keine adäquate Alternative anbieten. Mit einer bitteren Zuspitzung: Der Mietvertrag wird nicht verlängert. Das heißt: zum 30. September 2018 muss das So&So geräumt sein.Ganz aufgeben möchten die beiden Betreiber Johannes Reis und Robin Meneses jedoch nicht. Mit einer umfangreichen Pressemitteilung dürften sie doch einiges lostreten. Hier ist sie im kompletten Wortlaut:

„Das Kulturzentrum „So&So“ auf dem Areal des ehem. Eutritzscher Ladebahnhof im Leipziger Norden muss am 30.09.2018 schließen. Der Vermieter, die CG Leipzig City Nord GmbH & Co. KG, hat entgegen allen öffentlichen Aussagen im Planungs- und Bürgerbeteiligungsverfahren um das Vorhaben „Leipzig 416“ auf dem Areal Eutritzscher Ladebahnhof und trotz der erklärten Unterstützung der Bürgermeisterinnen der Stadt Leipzig für Kultur, Dr. Skadi Jennicke, und Stadtentwicklung und Bau, Dorothee Dubrau, das Mietverhältnis mit dem Kulturzentrum So&So einen Tag vor Ablauf der Frist zum 30.9.2018 aufgelöst. Begründet wurde die Kündigung mit voranschreitenden Planungen und Maßnahmen auf dem Areal.

Mit dieser Entscheidung handelt die CG-Gruppe entgegen dem Ergebnis und dem konkreten Wunsch des Bürgerbeteiligungsprozesses. Bislang schlossen die Planungen das Kulturzentrum „So&So“ als möglichen Bestandteil einer Kulturmeile mit ein. Es sollten in den nächsten Monaten Nutzungskonkurrenzen geprüft werden.

Das Team des So&So erklärt: “Mit unserer Schließung geht der Stadt ein weiterer Ort gelebter Utopien verloren. Wir werden nicht nur unseren Veranstaltungsbetrieb einstellen müssen, sondern auch unsere gemeinnützige Musikschule, unsere Proberäume und unsere offene Werkstatt schließen müssen. Nach all dem persönlichen Einsatz tut das einfach nur weh! Es ist ernüchternd, dass sich Unternehmensinteressen trotz Unterstützung der Stadt und Bürgerbeteiligung am Ende doch durchsetzen. Wir hoffen, die CG-Gruppe mit diesem Appell an die Öffentlichkeit doch noch zu einem Umdenken bewegen zu können. Wir sind uns sicher, dass wir ein wertvoller Bestandteil des neuen Quartiers sein können.“Die folgenden Behauptungen wurden zudem von der CG-Gruppe ins Feld geführt und fanden sich auch im Kündigungsschreiben, sind aber sachlich falsch:

1) „Es gab in den letzten 1 ½ Jahren Bemühungen seitens der CG-Gruppe eine Umzugsmöglichkeit für uns zu finden und uns wurden mehrere Objekte angeboten.“

Wir haben in den letzten Jahren drei Gespräche mit der CG-Gruppe geführt. Zu keinem Zeitpunkt wurde uns ein Angebot gemacht, dass eine Fortführung unseres Kulturzentrums ermöglicht hätte. Eine ausführliche Beschreibung hierzu finden sie in den Anhängen.

2) „Voranschreitende Planungen und Maßnahmen machen eine Verlängerung unseres Mietverhältnisses nicht möglich.“

Wir sind laut dem letzten öffentlich gemachten Stand der Planungen vom 08.12.2017 fester Bestandteil der Planungen. Nach unserem Kenntnisstand befinden sich die Planungen immer noch im Status der Masterplanung. Dem folgen würde erst noch das eigentliche B-Planverfahren. Mit dem Beginn des B-Planverfahrens ist nicht vor Frühjahr 2019 zu rechnen. Unser Mietvertrag hätte sich lediglich um ein Jahr bis zum 30.09.2019 verlängert. Die Planungen werden bis dahin nicht abgeschlossen sein. In den veröffentlichten Planunterlagen ist um unser Gebäudeensemble ein Park vorgesehen. Deshalb scheinen auch Maßnahmen wie ein Abbruch nicht nötig und jederzeit zu einem späteren Termin möglich.“

Neuer Plattenladen: Inch By Inch

Ende Juni hat er aufgemacht – Inch By Inch, ein neuer Plattenladen in Lindenau. Wir haben ihn und Betreiber Philipp Weißbach besucht.

Es ist laut an der Lützner Straße 60. Dutzende Autos quetschen sich vor zum Abzweig in die Merseburger Straße und raus nach Grünau, Straßenbahnen rattern im Minutentakt vorbei. Hier ist beileibe nicht die schönste Ecke von Lindenau – aber die, wo der Stadtteil ein wenig nach Großstadt wirkt. Und davon gibt es nicht so viele.

Seit Ende Juni gibt es in der schmalen Straßenflucht auch eine Anlaufstelle, um nach gebrauchten House- und Techno-Platten zu diggen. Und diggen passt perfekt zu Inch By Inch. In mehrere Regalen reihen sich tausende Platten aneinander. Teilweise nach Labels sortiert, teilweise nach Preisen – 1,50 € oder 3 € etwa. In einem Fach gibt es auch ein paar Trance- und Ambient-Platten.

Rechts vom Eingang führen ein paar Stufen hoch zu den Plattenspielern zum Vorhören und zu einem Sofa. „Good Vibes“ gibt die Fußmatte unten an der Treppe vor. Und die Vibes sind tatsächlich good im Inch By Inch.Der Laden wirkt angenehm aufgeräumt, oben mit dem Sofa und altem Eichenparkett fühlt man sich fast wie in einem Wohnzimmer. Von dort aus hat man auch einen guten Blick auf ein starkes, großformatiges Bild des Leipziger Künstlers Konstantin Rosenkranz.

Aufgemacht hat ihn Philipp Weißbach. Einige dürften den gebürtigen Leipziger unter seinem DJ-Alias kennen: Als Drunkenstein legt er House, Electro und Techno auf. Vor knapp zwei Jahren stellten wir ihn auch in unserer „Neues aus der Wolke“-Reihe vor – denn er produziert nebenbei auch eigene Tracks.

Seit 20 Jahren sammelt Philipp selbst Platten und arbeitete fünf Jahre in einem Leipziger Second Hand-Musikladen. Zusammen mit frohfroh-Autorin Rebecca organisiert er auch das Vinylbuffet, eine Plattenbörse im Schnellbuffet Süd. Klar, dass er sagt:

„Es war immer mein Traum, einen eigenen Plattenladen zu haben.“

Nachdem der Job in dem anderen Plattenladen weg war, kam er diesem Traum bei Discogs näher. Dort verkaufte er bereits vor der Inch By Inch-Eröffnung Vinyl, Tapes und CDs. Aktuell ist sein Online-Backstock mit über 2.000 Platten ebenso gut gefüllt wie der Laden.

Offline sind es sogar noch dreimal mehr. Philipp schaut nach Auflösungen von alten Sammlungen mit elektronischer Musik. Eine große fand er in Finsterwalde. Er holte sie nach Leipzig, hörte fast überall rein, reinigte jede Platte und sortierte sie. Viel Arbeit, die aber dafür sorgt, dass im Inch By Inch eine hohe Second-Hand-Qualität zu finden ist.„Ich hatte amerikanische Plattenläden als Vorbild: Schön voll und raus damit“, meint Philipp. Durch die günstigen Second-Hand-Preise dürfte es einen schnellen und ständigen Durchlauf geben.

Zu durchweg günstigen Preisen. Die EPs kosten maximal sechs Euro, Alben etwas mehr. Und wer selbst nicht mehr diggt, kann die eigenen eingestaubten Platten in verantwortungsvolle Hände geben: Als Second-Hand-Shop kauft das Inch By Inch selbstverständlich auch kleine und große Sammlungen an – wenn es inhaltlich und qualitativ stimmt.Nebenbei gibt es auch die Shirts und Sweater von 6step im Inch By Inch zu entdecken, einem Modelabel mit HipHop-Appeal, das Philipp vor einigen Jahren mit einem Freund gründete. Das Interieur besteht außerdem aus Leuchten und Kleinmöbeln des Leipzigers Frank Horn. Unter dem Label Neo Antik recyclet er Weggeworfenes zu neuen, schönen Gegenständen für die Wohnung.

Yes, das Inch By Inch sollte auf keiner Platten-Digger-Tour durch Leipzig fehlen.

Inch By Inch
Lützner Straße 60
04177 Leipzig

Mi/Do 14-19 Uhr / Fr 11-19 Uhr / Sa 11-16 Uhr
Facebook / Instagram

Bilder: Misserabel

Nachtrauschen auf Mephisto 97.6

2018 ist für Leipzigs Lokal- und Ausbildungsradio ein großes Jahr. Erstmals wird 24/7 gesendet. Und es gibt ein neues Format für den Samstag Abend, das zugleich der lokalen Clubmusikszene eine neue Plattform bietet.

Seit Ende Januar sendet Mephisto 97.6 nun nonstop – zumindest online und via DAB. In den bisherigen vier Sendestunden (10-12 und 18-20 Uhr) läuft das Live-Programm wie bisher, außerhalb dieser Slots sind Wiederholungen oder vorproduzierte Sendungen zu hören. Das hat Raum für neue Konzepte und Formate geschaffen.

Eines davon ist „Nachtrauschen“. Jeden Samstag ab 21 Uhr beschäftigen sich unter diesem Banner fünf Sendungsmacher*innen mit elektronischer Musik im weitesten Sinne. Und dazu gehört nicht nur das Vorstellen und Abspielen neuer Tracks und DJ-Sets, sondern auch das Berichten über Menschen, Clubs, Open Airs sowie deren politische und gesellschaftliche Hintergründe.Vier Sendelinien teilen sich in „Nachtrauschen“ ein: Einmal die Reihe „Dunkelgluehen“, die u.a. von unserer neuen Autorin Lea Schröder kuratiert wird. In ihr kommen verschiedene Akteure*innen der Nacht zu Wort. In der ersten Folge ging es um Kollektive. Dabei ging Lea selbst zu einem Open Air, das vom Waldbrand-Kollektiv organisiert wurde. Außerdem sprach ihre „Dunkelgluehen“-Kollegin Valerie Zöllner mit dem Nebula-Kollektiv. Und mit Andy vom Elipamanoke sowie mit Xavi und Moritz vom IfZ erzählen auch etablierte Clubbetreiber über ihre Erfahrungen mit Kollektiven und als Teil derselben.

Ein super spannender Start also, der bei Soundcloud nachgehört werden kann, bzw. hier:

Neben „Dunkelgluehen“ wird es drei weitere interessante Formate geben, die sich jedes Wochenende abwechseln: Zum einen zieht Redakteur Nico van Capelle in „Nachtecho“ mit dem Mikro durch die Freitagnacht – eingefangen werden Sets aus Leipziger Clubs und Stimmen aus der Einlassschlange oder dem Backstage. Alles läuft dann einen Abend später auf Mephisto.

Die erste Ausgabe lässt sich ebenfalls bei Soundcloud nachhören, allerdings kommen die nächtlichen Eindrücke etwas zu kurz, in erster Linie gibt es die Sets aus einer So&So-Nacht.

Zum anderen spaziert Lena Hähnchen immer mal wieder durch die Stadt. Nicht allein: Sie lässt sich für ihre Sendung „An die frische Luft“ von Musikern*innen der Leipziger Musikszene wichtige Orte zeigen, die für deren eigenes Schaffen und den bisherigen Werdegang wichtig waren oder sind.

Und auch Ramin Büttner, einer der Musikressortleiter*innen, steuert etwas bei: Er stellt – ganz klassisch – aktuelle elektronische Musik vor, nicht zwingend aus Leipzig, dafür ausschließlich auf Vinyl. Sein Format wird wahrscheinlich am häufigsten bei „Nachtrauschen“ zu hören sein. Denn: die anderen Formate sind mit viel Aufwand verbunden, dafür umso spannender.

Auf jeden Fall klingt das „Nachtrauschen“-Programm nach einer inhaltlichen Bereicherung für alle, die mehr über die Leipziger Clubszene erfahren möchten und lieber hören als lesen.

Redaktionsfoto: Theresa Willkomm

Bald zu Besuch: Die Demo Dandies

Kramt eure verstaubten Demos raus! Die Demo Dandies zum Hörspielsommer und wollen euren Sound spielen.

Ihr habt noch skurrile Klangexperimente auf euren Festplatten herumliegen, Probeaufnahmen längst begrabener Band-Projekte oder habt keinerlei Erinnerungen, wie eure letzten Songaufnahmen entstanden sind? Vielleicht ist das das perfekte Material für die Demo Dandies, die am 8. Juli beim Hörspielsommer zu Gast sind.

Die Demo Dandies, das sind Felix Kubin und Istari Lasterfahrer, die nicht nur als Musiker aktiv sind, sondern auch mit ihren Labels Gagarin Records und Sozialistischer Plattenbau ihr Expertentum für mehr oder weniger abseitige Musik unter Beweis stellen. Wahrscheinlich ist auch gerade aus ihrer Label-Aktivität die Idee für die Demo Dandies entstanden: Einen ganzen Abend legen die beiden nur unveröffentlichte Musik auf, die ihre Gäste mitgebracht haben – also ihr! Dabei kommt es eher nicht auf ausgefeilte, perfekt produzierte Tracks an, die die Clubs rocken, nein, Dilettantismus und krude Ideen werden bevorzugt, wie die beiden es z.B. im Interview mit der Spex beschreiben. Und ob elektronisch oder nicht, das spielt eher keine Rolle.

Nach Abenden in Hamburg, Berlin, Halle und Luxembourg ist am 8. Juli Leipzig im Rahmen des Hörspielsommers an der Reihe. Auf dem Richard-Wagner-Hain wartet „die Kirche des Lärms“ ab 21:00 Uhr auf euch. Hier erfahrt ihr, wie ihr teilnehmen könnt und welche Formate akzeptiert werden. Hinweis: Eine Mail mit Infos und Musik zu euren Projekten ist im Vorfeld erwünscht. Und wer weiß, vielleicht landet eure Musik auf der kommenden zugehörigen Tape-Compilation, welche auf dem von den Demo Dandies eigens für dieses Projekt ins Leben gerufene Label Wir rufen zurück erscheinen wird. Die ersten vier Tapes sind jedenfalls klasse: