Clubkultur & Politik IV: Diversität? Rassismus.

Man könnte sagen “aus gegebenem Anlass” müssen wir über rassistische Strukturen in der Clubkultur sprechen. Allerdings sind Demonstrationen um “Black Lives Matter”, die Morde an Schwarzen Menschen im Jahr 2020 und das posten schwarzer Quadrate in sozialen Netzwerken nicht der gegebene Anlass.

Es ist längst überfällig, dass wir über Weißwaschen, Gatekeeping, Aneignung und Sichtbarkeit sprechen, dass wir Schwarzen Menschen und Personen of Color zuhören, wenn sie über ihre Erfahrungen sprechen und nicht davon ausgehen, dass die elektronische Musik- und Clubkultur ein Raum ist, in dem alle Akteur*innen sich gleichermaßen befreit fühlen können. Die Tatsache, dass das noch nicht oder bei weitem noch nicht ausreichend geschehen ist, ist der gegebene Anlass. 

Dieser Artikel soll Teile der rassistischen Strukturen aufzeigen, die es in der Clubkultur und der Szene elektronischer Musik gibt – denn Rassismus existiert überall in der Gesellschaft, und dennoch tun wir gerne so, als wäre die Clubkultur ausgenommen davon, befreit von Diskriminierung und ein Raum für Eskapismus für jede*n, ein Raum für Solidarität. 

Hier sollen oben genannte Begriffe aufgeklärt werden, Akteur*innen der Szene zu Wort kommen, die von Rassismus betroffen sind und Handlungsmöglichkeiten sowie Überlegungen zu längst überfälligen Konsequenzen genannt werden.

Fragen

Dabei wird versucht, folgende Fragen zu beantworten: Wie zeigt sich struktureller Rassismus in der Clubkultur und welche Ebenen lassen sich aufzeigen, welche Erfahrungen machen Schwarze Menschen und Personen of Color als Besucher*innen, Akteur*innen, Labelbetreibende, Produzent*innen? Wie kommt es zu fehlender Sichtbarkeit? Was gibt es zur Leipziger Szene zu sagen?

Carina (o.l.), Marielle (u.l.), Dennis (Mitte), Sinh (u.r.), Ramin (o.r.)
Foto von Paula Kittelmann

Und das sind die Personen, mit denen wir gesprochen haben:

Shuray (Shuray & Walle), Mustapha aka Traxx Jr., Sarah Farina, Carina aka Carool, Marielle aka Zyber, Sinh Tai (fka DJ MinusMinus), Dennis aka AGYENA und Ra-min (fka Raminski).

Short catch-up: Die Ursprünge von House und Techno

Sinh: Ich finde es fehlt eine Auseinandersetzung mit den Ursprüngen und der Kultur an sich. Techno wird so oft angesehen als „es ist so frei von allem“ dabei wird in der Clubkultur ja auch viel Diskriminierung reproduziert. 

Über die Ursprünge von House und Techno müssen wir sprechen, um einen Teil der diskriminierenden Strukturen zu verstehen, die heute in der Clubkultur existieren. Die Tatsache, dass Rassismus so massiv in der Szene um elektronische Musik reproduziert wird, spiegelt zum einen die allgemeinen gesellschaftlichen Strukturen wider, zum anderen fehlt basales Wissen, woher House und insbesondere Techno stammen (explizit wenn Techno als „weiße“ Musik angesehen wird) – oder aber die Ursprünge der Musik werden ausgeblendet, um diskriminierende Strukturen und die eigene Rolle als weiße Person darin nicht hinterfragen zu müssen.

Deswegen gibt es an dieser Stelle eine Empfehlung. Ausführlich und sehr gut sind beispielsweise diese Dokus: I Was There When House Took Over the WorldCan you feel it – How dance music conquered the world Pt IHigh Tech Soul Detroit: The Creation of TECHNO Music

Shuray: “House is a feeling” und das ist für mich auf jeden Fall ein Lifestyle. Das ist eine gute Ausdrucksform, da hört man ganz klar raus: Da wird viel Schmerz und Leid auf schöne Art und Weise verarbeitet und wieder so zusammengeführt, dass man eine Gemeinschaft spürt, einen Zusammenhalt. Da ich mich schon immer mit Schwarzer Geschichte beschäftigt habe, habe ich schnell gemerkt: “Die Musik bringt für mich irgendwas rüber, ich fühl mich auf jeden Fall. Ich höre so den Schmerz daraus, aber auch die Stärke des Schwarzen Mannes.” Und das ist genau der Punkt, an dem so ‘ne Schwarze Kultur so richtig aufblüht. Das ist Soul, Funk und kommt so aus dem Herzen.”

House Music

Bei der Entstehung von House Music in den 1970/80er in Chicago und New York war vor allem eines zentral: Die Schwarze und Lateinamerikanische homosexuelle Community prägte die frühe Diskoszene.

Der sogenannte Eskapismus spielte eine große Rolle, ermöglichte er den Menschen zumindest für eine kurze Zeit, die Kämpfe, die sie im Alltag begleiteten, in den Hintergrund treten zu lassen; Eskapismus bedeutete sexuelle Befreiung und Zuflucht von Rassismus. Die Musik sowie die Idee, im Club durch elektronische Musik ein Gefühl von Freiheit von Diskriminierung zu erhalten, kommt von Schwarzen Menschen. 

Whitewashing des Techno

Auch Techno mit seinen Ursprüngen in Detroit mit Einfluss europäischer European Electronica stammt aus der Black Community und hängt mit gesellschaftlichen Umwälzungen zusammen (Segregation und Exklusion, Wirtschaftskrise, willkürliche rassistische Polizeigewalt, Aufstände und dem Erstarken des Civil Rights Movement). Urbane Technologie wurde verknüpft mit kulturellen Elementen, zurückerobert durch die Menschen, die dort lebten. 

„Rich people don‘t make funky music“ – Mike Banks

Sarah: Die Musik und Kultur, die in Detroit entstanden ist, war eine spirituelle Antwort auf die Umstände, durch die die Leute gehen mussten und müssen. Mike Banks meinte zu mir „rich people don‘t make funky music“ und ich glaube da ist sehr viel dran. Man merkt einfach, dass da ganz viel Seele drin ist, wenn Menschen etwas kreieren das von einer gewissen Tiefe kommt. Dass wir uns überhaupt die Frage stellen müssen, woher Techno kommt, ist total problematisch.

Selbst in der Black community gibt’s Menschen, die nicht wissen, dass Techno Schwarze Musik ist. Und ich kann das verstehen, Schwarze Personen fühlen sich oft in Techno Clubs nicht sicher und die Geschichte des Techno ist ja auch total weißgewaschen.

Sarah Farina: “Schwarze Personen fühlen sich oft in Techno Clubs nicht sicher.”

Die Ursprünge von Techno und House, die in der Clubkultur (vor allem in Leipzig) die vorherrschenden Genres sind, zu kennen, ist der erste, beinahe basalste Schritt. Um rassistische Strukturen zu erklären, aufzudecken und zu verändern, reicht das Wissen darum aber nicht aus. Mechanismen rassistischer Diskriminierung, die in unserer Gesellschaft stattfinden, sind vielschichtig.

Im Folgenden sollen einige davon erklärt und durch die Erfahrungen von Schwarzen Menschen und Personen of Color für weiße Menschen erkennbar gemacht werden. Nicht, dass von Rassismus betroffene Menschen darüber nicht schon immer sprechen – weiße Menschen müssen sich als Akteur*innen der Clubkultur jedoch fragen: Warum habe ich bisher nicht zugehört? Warum genieße ich Privilegien, warum kann ich das Freiheitsgefühl im Club, die Kultur elektronischer Musik genießen und hinterfrage nicht die Machtverhältnisse, in denen sich die Szene bewegt, die Rassismen, die reproduziert werden?

Weißwaschen, Gatekeeping, Aneignung und Sichtbarkeit – Mechanismen rassistischer Diskriminierung in der Clubkultur

Ramin: Für mich sagt es schon aus: Überall spielt Rassismus eine Rolle, nur bei der Polizei und in der Musikszene nicht? Das ist für mich schwer vorstellbar. Wir leben in einer rassistischen Gesellschaft und man muss sich in allen Bereichen damit auseinandersetzen – natürlich auch in der linken -, Kultur- und Musikszene.  

Struktureller Rassismus äußert sich nicht zwangsläufig in unmittelbar für Außenstehende sichtbarer Gewalt. Er äußert sich (um in der Unterhaltungsbranche zu bleiben) in fast ausschließlich weißen Line-Ups, in racial profiling an Clubtüren (ja, that’s a thing, sogar in linken Clubs), in Fragen wie „Wieso spielst du denn Techno, wenn du Schwarz bist?“ und der Tatsache, dass Schwarze Menschen und Personen of Color sich auf den meisten Dancefloors nicht sicher fühlen. 

Sichtbarkeit 

Bei “Sichtbarkeit” geht es darum, welche Mitglieder einer Gesellschaft in Medien, Politik usw. anteilig abgebildet werden: In Europa sind das vorrangig weiße Menschen. Fehlende Sichtbarkeit bedeutet, dass Schwarze Menschen und Personen of Color unsichtbar gemacht werden, indem sie nicht abgebildet werden. Das vermittelt den Eindruck, diese Menschen seien “ein unbedeutender [nicht abbildungswürdiger] Teil der Gesellschaft”. Cave: Rassismus!

Wie in allen anderen Bereichen des Lebens gilt: representation matters. Wenn Menschen sich nicht repräsentiert fühlen, werden sie nicht empowert, glauben nicht daran, dass sie selbst auch an dieser Stelle stehen könnten. Es wird suggeriert, dass sie nicht Teil dieser Gesellschaft (oder Szene) sind, sein sollten.

Leider ist es immer noch so, dass die Menschen mit dem Privileg entscheiden, wer gesehen wird (stellt euch vor, die Menschen mit dem Privileg bedienen den Scheinwerfer und entscheiden, auf wen der gerichtet wird: Auf sie selbst? Auf Freunde/ Freundesfreude, auch Menschen, die vielleicht den Scheinwerfer als Gegenleistung auch auf sie richten? Oder entscheiden sie sich, marginalisierte Menschen sichtbar zu machen? Es besteht ein Abhängigkeitsverhältnis, ein Machtverhältnis. 

Sarah: Ich glaube Menschen unterschätzen, wie wichtig es ist, dass Menschen sichtbar sind, die anders aussehen als du selbst. Es gibt doch das Sprichwort:

“You can‘t be what you can‘t see.”

Dennis: Für mich zeigt es sich darin, dass ich mir als ich angefangen habe aufzulegen oft Gedanken darüber gemacht hab, ob Leute es komisch finden, was ich für Musik spiele. Ich spiele House, Techno, bin aber eher frei in Genres. Als ich mal in Nürnberg aufgelegt habe, kam jemand auf mich zu und hat gefragt, wie ich dazu komme, Techno aufzulegen, weil sie noch nie einen Schwarzen Techno DJ gesehen hätten. Und das ist mir nicht nur einmal passiert. Beispielsweise die Tatsache, dass ich in Nürnberg eigentlich nie einen Schwarzen DJ gesehen habe, ist die implizite, strukturelle rassistische Hürde, die sich dann bei mir als Selbstzweifel manifestiert hat: “Will mich als Schwarzen DJ überhaupt jemand sehen?”

Tokenisierung

m Zusammenhang mit Sichtbarkeit müssen wir aber auch über Tokenisierung sprechen. Von Tokenisierung spricht man, wenn Mitglieder einer marginalisierten Gruppe instrumentalisiert werden, “um nach Außen eine antidiskriminierende Haltung zu suggerieren, während hierarchische und ausschließende Strukturen intakt bleiben. [Das führt] in der Regel langfristig zu wenig bis keiner strukturellen Veränderung. Im Gegenteil werden sie nicht selten instrumentalisiert, um einen Haken unter das Thema Diversity setzen zu können.” (Vgl. kubi-online.de)

In der Clubkultur zeigt sich Tokenisierung z.B. in Fe*male oder DJs of Color, die gebucht werden, um das Line-Up ‘diverser’ zu gestalten oder eine Quote zu erfüllen. Dabei werden diskriminierende Strukturen nicht tatsächlich hinterfragt sondern aufrechterhalten und reproduziert. Zum Beispiel wenn die betreffenden Personen Diskriminierungen vor Ort ausgesetzt werden, indem stereotype Genrezuschreibungen getätigt werden (wie beispielsweise die Annahme, Schwarze Frauen würden ausschließlich R’n’B auflegen), in dem der Club zwar „antirassistisch“ im Selbstverständnis verzeichnet, jedoch kaum danach arbeitet.

Das eigene Image mit (vermeintlicher) Diversität aufpolieren

In diesem Fall wird unter dem Deckmantel der vermeintlich guten Intention, Sichtbarkeit zu schaffen, letztendlich nur am eigenen Image gearbeitet. Damit werden Betroffene “benutzt”, wiederum eine Reproduktion von unterdrückenden Machtstrukturen, wie wir sie auch überall sonst in der Gesellschaft finden. 

Carina: Oftmals ist man dann der Exot, zum einen weil man Schwarz ist, zum anderen weil man eine Frau im Hip-Hop ist. Ich habe das Gefühl, dadurch werde ich auch häufiger gebucht. Nur wegen meiner Hautfarbe und meinem Geschlecht, nicht wegen dem, was ich mache. Wenn ich für eine Veranstaltung gebucht werde, wissen die Veranstalter ja eigentlich, was ich für Musik spiele – aber auf dem Flyer steht dann R’n’B und Soul. Das spiele ich nicht! Aber weil ich eine Schwarze Frau bin wird das einfach angenommen.

Gatekeeping & Profit

Wir bemühen Wikipedia: “Unter Gatekeeper (englisch: “Schleusenwärter”, “Torwächter”) werden in der Soziologie Personen verstanden, die aufgrund von Fähigkeiten oder Positionen die Möglichkeit haben, den Aufstieg [Anm. d. R.: Teilhabe] von Menschen, zu beeinflussen.”

Das heißt bei Gatekeeping sorgen Menschen in Machtpositionen (Macht ist ein Privileg, welches in diesem Fall weiße Menschen haben) dafür, dass ihre gesellschaftlich privilegierte Position gewahrt wird, in dem sie anderen Zugänge verwehren – sei das nun bewusst oder unbewusst. Die Machtposition geht dabei mit einem Profit einher: Entweder tatsächlich monetär (Clubbetreiber*innen, DJs…) oder sozialem Profit, sprich Anerkennung, “fame” – und damit letztendlich weiteren Profitmöglichkeiten. 

Viele weiße DJs spielen House, Techno. Musik die, wir wie gelernt haben, von Schwarzen Menschen kommt. Clubs in Europa wurden in den 90ern von weißen Menschen eröffnet, weiße Menschen besuchten sie. 
Auch heute noch sind die Strukturen ähnlich: Booker*innen, Promoter*innen, DJs – sie alle sind meistens weiß. Sie verdienen damit Geld oder gewinnen soziales Kapital – schließlich ist der DJ der neue Rockstar, wie auch schon Westbam sagte. Also selbst wenn man sich als DJ nicht zwangsläufig eine goldene Nase verdient, Anerkennung bekommt man – und damit die Möglichkeit auf mehr Gigs. 

Geld und Fame: “Wer ist gerade der Shit in der Szene?”

Shuray: Die Szene hat im Allgemeinen so nen Drive angenommen, es geht viel um Geld, es geht viel um Fame. Die, die mit ner guten Einstellung und nem schönen Herz, die einfach nicht so laut sind wie manch anderer, die gehen in der ganzen Sache unter. Es geht nur darum: “Wer hat schon den größten Bekanntheitsgrad? Wer ist gerade so der Shit in der Szene?”, und nicht unbedingt, weil er mit absoluten Produktionen überragt hat, sondern einfach nur, weil er sich gut nach außen projizieren kann. Genau davon muss man wieder mal wegkommen. Ich denke, es ist wichtig, dass sich damit intensiver beschäftigt wird und wir einfach von solchen Sachen wie Geld und Likes einfach wieder ein bisschen mehr Abstand nehmen, uns wieder ums Eigentliche bemühen.

Shuray: “Die, die mit ner guten Einstellung und nem schönen Herz, die einfach nicht so laut sind wie manch anderer, die gehen in der Szene unter.”
Foto von Paula Kittelmann

Mustapha: This is such a sensitive topic but yes. It’s like that: As a manager or booker you don’t have to be DJ but to take control of the booking of DJs that fit in the concept of your club. When you see Clubs taken by DJs – which is often the case in Leipzig – you book them to play at your club and a few months later you’re booked to play at their parties.  It feels like everyone is just looking to become famous. I don’t know what they are looking for, but it feels like that things are getting done really wrong. It’s like we said, “I book you, you book me„ but that’s not what music is about.

Booking: eine Hand wäscht die andere? Kumpels buchen Kumpels, whities buchen whities.

Damit gilt das gleiche wie für die sexistischen Strukturen in Clubs: Old Boys Network is a a thing. Kumpels buchen Kumpels, whities buchen whities, wir sprechen hier von Gatekeeping. 

Oft wird mit dem Profit des Clubs argumentiert, den Booker*innen im Hinterkopf behalten müssen – der Club muss voll werden, damit sich der Abend lohnt, also muss ich Personen buchen, die einigermaßen bekannt sind. „Es gibt einfach nicht so viele Personen of Color, die auflegen und die Tanzfläche vollbekommen“ – das ist just not true, und selbst wenn es das wäre: Wie sollen die Menschen die Chance bekommen, einen Bekanntheitsgrad zu erreichen, der für den Club rentabel wäre, wenn ihnen die Möglichkeit dazu, überhaupt anzufangen, verwehrt wird?

Um tatsächlich etwas gegen Diskriminierung zu tun muss die privilegierte Mehrheit (weiße Menschen) etwas von dem Kuchen abgeben, den sie letztlich durch die Unterdrückung anderer bisher für sich alleine hatten. Doch wenn es um Geld und Fame geht – wer gibt da gerne etwas ab? 

Mustapha: “When you see Clubs taken by DJs – which is often the case in Leipzig – you book them to play at your club and a few months later you’re booked to play at their parties.”
Foto von Paula Kittelmann

“We need more action, less pretention.” – Mustapha

Mustapha: During the last weeks here in Leipzig when everyone was involved in the topic of racism – all the persons on social media were posting about black lives matter, clubs were talking or texting about it, posting black squares. Sure. But then, when you go to their websites and check how many black DJs they got to play for example last year: believe me, you see maybe one or two. So if you have a club and you’re spending thousands of euro every weekend for bringing the DJs, and most of them are german DJs (often white german DJs) from Berlin, Frankfurt, sometimes from France or England. But what are you doing for the Black Community, are you bringing the DJs to play here? For sure not. So why are you posting the black square with Hashtag black lives matter? We need more action, less pretention. 

Und nicht nur die Line-Ups und Mitarbeitenden in Clubs sind von diskriminierenden Strukturen geprägt – auch das Publikum. Schaut euch auf der Tanzfläche um, erinnert euch an die Zeit im Club vor Corona. Wie viele nicht-weiße Menschen sind da? Habt ihr euch jemals gefragt, warum?

Türpolitik & Publikum

Mustapha: Having a Black, Asian or Arabic face gives you less chances to get in clubs here. Not only in Leipzig, in most of the clubs in Europe. I’m talking about door policy. I know a lot of people who always get rejected at the doors. Also I had a talk with someone working in security and they told me something I was really shocked about: They said when you get hired for this work, you are asked not to let “north-African„ in, cause they are troublemakers. (Talking about left clubs in Leipzig)

Ja, es gibt racial profiling an Clubtüren. Das bemerken weiße Menschen jedoch nicht. 

Racial profiling (ja, auch in unseren geliebten, linken Clubs)

Oder, wenn Black, Indigenious und Personen of Color in Clubs sind, machen sie, egal als wie aware der Club sich bezeichnet, oft Rassismuserfahrungen. Und nicht nur das, sie werden damit – wie auch an anderen Stellen in unserer Gesellschaft – nicht ernst genommen. 

Ramin: Ich werde beispielsweise auf Veranstaltungen, die ich selbst kuratiere im IfZ, jedes Mal ungelogen – gefragt, ob ich Drogen verkaufe. Als Veranstalter. 

Marielle: “Wie die Clubs davon profitieren, dass sie Schwarze Musik spielen, „das ist so super cool“, aber eigentlich einen Fick auf Schwarze Menschen geben oder darauf, dass Menschen da Rassismuserfahrungen machen.”
Foto von Paula Kittelmann

Marielle: Ich finde es immer wieder krass, zu sehen, selbst im Hip-Hop, wo die Leute ja wissen, dass die Musik aus der Schwarzen Kultur kommt, wie Veranstaltungen so krass whitewashed sind. Wie die Clubs davon profitieren, dass sie Schwarze Musik spielen, „das ist so super cool“, aber eigentlich einen Fick auf Schwarze Menschen geben oder darauf, dass Menschen da Rassismuserfahrungen machen. Eine Schwarze Freundin von mir wurde auf einer Trap-Party rassistisch beleidigt und körperlich angegriffen und hat keinerlei Solidarität erlebt. Das ist für mich so repräsentativ dafür, dass die Leute gerne die Musik nehmen, spielen und davon profitieren, aber who gives a fuck about the black people.

Leere Worthülsen

Carina: Und ich finde diese Labels „Wir sind gegen Sexismus, gegen Rassismus“ – das ist eine richtig leere Worthülse. An deiner Erfahrung sieht man es ja auch wieder: Der DJ und der Veranstalter in einem Club der sich antirassistisch positioniert. Allein dass ich noch erklären muss, dass das was mir da gerade widerfahren ist Rassismus ist, anstatt dass die Leute mich direkt rausnehmen und unterstützen. 

Marielle: Ich finde das ist auch dabei wichtig, wie die Gäste angesprochen werden, wie kann die Crowd diverser werden, wie können Menschen mit diversen Hintergründen angesprochen werden? Sonst steht man auf der Tanzfläche und stellt fest man ist eine von zwei Schwarzen Menschen, ansonsten ist alles eine weiße, homogene Masse.

Aneignung: 

Sarah: Der Unterschied zwischen Aneignung und Wertschätzung ist das Machtverhältnis. Es gibt es den Spruch:

„People love Black culture but not Black people.“

ze.tt schreibt: „Wenn Menschen aus dominanten Gesellschaftsgruppen beispielsweise Frisuren, Kleidungsstücke, Accessoires oder markante Slangs aus einer marginalisierten Kultur zu ihrem eigenen Nutzen übernehmen, ohne dabei den Wert der jeweiligen Kultur zu respektieren, handelt es sich um Kulturelle Aneignung.“

Das heißt: Weiße Menschen nehmen etwas von Schwarzen und Menschen of Color, eignen es sich an, und geben denjenigen, von denen es kommt, keine Anerkennung, Entlohnung oder sonstiges, im Gegenteil: Sie gewinnen etwas daraus (siehe oben, monetäres oder soziales Kapital) und reproduzieren Unterdrückung und Machtstrukturen. 

Sarah: Ich denke es ist grundlegend, dass mehr Menschen verstehen, dass strukturelle Unterdrückung, wie zum Beispiel Rassismus, erfunden wurden, um die Ausbeutung, die den Kapitalismus möglich macht, zu rechtfertigen.

Sinh: DJs ermächtigen sich der Musik anderer, nutzen sie, um erfolgreich zu werden, verändern das Bild nach außen – und im nächsten Schritt setzen sich Konsument*innen nicht damit auseinander, woher die Musik kommt. Die Musik wird so whitewashed und inhaltsleer, weil der Ursprung nicht anerkannt wird. 

Oft wird an dieser Stelle gefragt: “Wie kann dann kultureller Austausch stattfinden, wie können sich Subkulturen bilden, dürfen wir dann überhaupt nichts mehr konsumieren, produzieren?”

“Entweder ich mache es so wie bisher oder ich lasse es ganz!” is not the answer…

Das vereinfacht die Strukturen und zeugt von Faulheit, Schwarz/Weiß-Denken: Entweder ich mache es so wie bisher oder ich lasse es ganz, entweder ich nehme etwas ohne die Herkunft zu würdigen oder ich nehme es einfach nicht – das dazwischen ist komplexer und es braucht eine differenziertere, bewusstere Auseinandersetzung.  

Ramin und Sinh (v.l.n.r.)
Foto von Paula Kittelmann

DJs verdienen Geld damit, Musik zu spielen, die andere Menschen produziert haben oder aber bewegen sich in einer Szene, die ohne den Protest und das Bedürfnis nach Freiheit von Schwarzen Menschen (!) nie entstanden wäre.

Das heißt nicht, dass weiße Menschen die Musik nicht spielen dürfen, nicht konsumieren dürfen. Jedoch müssen wir uns immer fragen: Wird genug dafür getan, darüber aufgeklärt, woher die Musik kommt? Werden die Menschen, die dazu beitragen, von denen wir die Musik nehmen (bspw. Schwarze Produzierende), dafür entlohnt? Oder wird sich im Licht der Scheinwerfen hinter dem DJ Pult gesonnt und alles andere vergessen?

Und noch etwas: 

Sarah: In der Clubkultur, im Techno und House, gibt es ein Phänomen: Weiße DJs geben sich Artist-Namen, die sehr Schwarz klingen, und erstellen damit sogar manchmal auch ein Narrativ. Es gibt auf NPR eine Podcast-Folge dazu, die heißt „Give it up for DJ Blackface“. Das bereitet mir total Bauchschmerzen. Da werden Samples von Künstler*innen genutzt, ohne dass die Credit bekommen, es wird released, es wird damit Geld gemacht. Das ist einfach nicht cool. Es wäre so einfach, diese Menschen mit einzubeziehen, aber es ist diese weiße Überlegenheit, dieses Privileg „ich kann mir einfach alles nehmen“ und man kommt gedanklich gar nicht dahin, darüber nachzudenken, ob das jemanden verletzen könnte und dass es rassistisch ist.“

Und was jetzt?

Mit dem Wissen um die Ursprünge der Musik, der Perspektive Betroffener und dem Wissen um rassistische Strukturen in unserer Gesellschaft und der Clubkultur – wie geht es weiter?

Der erste Schritt muss sein, Betroffenen mehr zuzuhören. Menschen in Machtpositionen müssen sich dafür entscheiden, welcher Stimme Gehör geschenkt wird. Das genau ist Privileg: Die Person, die den Scheinwerfer bedient und entscheidet, wer im Spotlight steht. Und an dieser Stelle müssen Musikjournalist*innen, und das meint auch unsere Redaktion – sich fragen, wie das bisher in ihrer Arbeit stattgefunden hat und wenn nicht – warum nicht. Und lasst uns den Satz “Wir geben Betroffenen eine Stimme” nicht mehr verwenden. Menschen haben eine Stimme. Wir müssen nur zuhören. 

Mit den eigenen Rassismen auseinandersetzen

Als nächste Schritte müssen Clubs und Akteur*innen der Clubkultur Selbstreflektion betreiben: Sich mit den eigenen Rassismen auseinandersetzen. Eins ist klar: Alle weißen Menschen reproduzieren Rassismen. Das macht sie nicht zu “schlechten” Menschen, das bedeutet einfach, dass weiße Menschen ihr Ego beiseite stellen und sich fragen müssen, an welcher Stelle sie Rassismen reproduzieren, an welcher Stelle sie etwas ändern können, wann sie den Scheinwerfer bedienen können so to say.

Clubbetreiber*innen und Promoter*innen müssen sich fragen: Wem gebe ich Geld, woher kommt mein Geld? Investiere ich Zeit und Energie, wirklich diverse Line Ups auf die Beine zu stellen, oder stereotypisiere ich, instrumentalisiere ich? Haben wir ein antirassistisches Selbstverständnis und wenn ja, wie zeigt sich das wirklich in unserer Arbeit: Beim Booking, an der Tür, auf der Tanzfläche, bei der Bezahlung und bei der Bildungsarbeit?

Produzent*innen und DJs sollten sich fragen, von wessen Arbeit sie profitieren, ob die betreffenden Personen Anerkennung oder Entlohnung erhalten. Sie sollten sich fragen, ob sie etwas von anderen nehmen und als das Eigene ausgeben. Wem nehme ich diesen Platz gerade weg? Was repräsentiere ich, indem ich als weiße Person in einem all-white Line Up spiele? Suche ich das Gespräch mit Veranstalter*innen, werde ich aktiv und ziehe Menschen in die Verantwortung? 

Sarah: Es gibt in Bezug auf Inklusion den Spruch „We want a seat at the table“ – ich frage mich dabei aber, an was für einem Tisch wir sitzen. Ist der rund oder länglich, so dass jemand an der Stirnseite sitzt? Deswegen denke ich: Der Tisch muss weg. Wir setzen uns im Kreis auf den Boden. Das hilft vielleicht ein bisschen, zu verstehen, wie ich es mir in Bezug auf die Clubkultur vorstelle. So kann es schon in der Struktur inklusiv gestaltet werden, so dass man einen Ort schaffen kann, der für möglichst viele Menschen eine Art safer space sein kann. 

“Was für eine Art Club wollen wir sein?”

Wir brauchen vor allem Menschen in bestimmten Positionen, die feministisch intersektional kritisch denken und handeln können. die Wahrscheinlichkeit, dass etwas falsch läuft, ist schon niedriger, wenn es ein diverses und inklusives Team gibt. Ich glaube, es hilft, sich immer wieder Gedanken zu machen, was das eigene Wertesystem ist, als Mensch, aber auch bezüglich der eigenen Arbeit, wenn man Clubbesitzer*in ist beispielsweise: “Was für eine Art Club wollen wir sein und für wen? Wie kann man das nachhaltig gestalten? Wie kann der Dancefloor, der Raum genutzt werden, um Menschen zu educaten? Kann man Dokumentationen über Musikgeschichte zeigen? Kann man in den Facebook-Events auf das Wertesystem hinweisen?”

Durch so viele Kleinigkeiten kann man sich positiv aktivistisch positionieren. 
Ich wünsche mir, dass Menschen, sich committen und sich bewusst sind, dass es eine lebenslange, persönliche und interne Arbeit ist, die überall mit einfließt. Es reicht nicht, sich einen Monat lang mit Antirassismus zu beschäftigen, sondern es muss Teil deines Lebens werden, wenn du Teil der Lösung sein willst. Es ist ein Prozess.
 

“Haben die Gäste verstanden, wo Techno herkommt?”

Ramin: Ich wünsche mir Antirassismus AGs in jedem Club. Außerdem wünsche ich mir kritische BIPoC in leitenden Positionen. Ich wünsche mir, dass Vernetzung unter BIPoC, die Akteure in der Clubkultur sind, unterstützt wird. Außerdem wünsche ich mir DJ-Workshops für nicht-weiße Menschen. Weiterhin sollte bei Veranstaltungsreihen darauf geachtet werden, ob gewisse Inhalte vermittelt werden – zum Beispiel ob die Gäste danach verstanden haben, wo Techno herkommt. Darauf sollte mehr Wert gelegt werden und nicht nur darauf, ob Geld verdient wird. 

Dennis: “Es geht nicht nur um mich, sondern auch darum, dass andere Menschen, denen es so geht wie es mir ging, einen einfacheren Einstieg zu ermöglichen. Ich denke auch, dass da viel mehr Edukationsarbeit geleistet werden sollte.”
Foto von Paula Kittelmann

…über den hedonistisch-kapitalistischen Aspekt von Techno hinweg

Dennis: Ich hab so viele Sachen für mich kategorisch ausgeschlossen weil ich nie eine Person, die aussieht wie ich, in diesen Positionen gesehen habe. Ich glaube, es ist wichtig, zu zeigen, dass das verschiedene Menschen Akteur*innen sein können, sodass andere leichter den Weg sehen, selbst mitwirken zu können – und dann eben die Struktur auch von Innen wieder verändern zu können.

Ich glaube aber, dass das nicht reicht, es müssen auch Wege eingeleitet werden, es zu ermöglichen. Und da bin ich wieder an dem Punkt zu sagen: Es geht nicht nur um mich, sondern auch darum, dass andere Menschen, denen es so geht wie es mir ging, einen einfacheren Einstieg zu ermöglichen. Ich denke auch, dass da viel mehr Edukationsarbeit geleistet werden sollte und es über den hedonistisch-kapitalistischen Aspekt von Techno hinausgehen sollte, dass wir wegkommen müssen von Clubkultur so wie wir sie aktuell kennen.


Want more?

Interview OK Williams

Nina Cravitz Cornrows

A letter to Resident Advisor (and the rest of the UK music press)

UK Dance Music History (Longread/DJ Mag)

The History of Housemusic (long)

History of House

Black roots, white fruit

Moodmat: An Interview with House Artist Theo Parrish “black roots, white fruits

Annäherung an einen diskriminierungskritischen Kulturbereich (Kubi Online)

Diversity Arts Culture (Wörterbuch)


Anm.: In diesem Artikel schreiben wir „weiß“ kursiv und „Schwarz“ groß um zu kennzeichnen, dass es sich hierbei um einen gesellschaftspolitischen Ausdruck handelt, also nicht die Hautfarbe oder andere äußerliche Merkmale beschreiben, sondern die sozialen Positionen in einer rassistischen Gesellschaft. 

Vektor wird ins Digitale verlegt

Wir müssen unsere Veranstaltung am 7.11.2020 im Institut fuer Zukunft absagen. Wir werden an einem digitalen Programm für euch arbeiten, um die Musik, die wir für diesen Abend geplant haben, zugänglich zu machen.

Alle Informationen dazu werdet ihr hier bei uns, auf www.frohfroh.de, finden. Wer ein A1-Plakat mit dem Vektor-Design von Tine Pascoe haben möchte, schreibt bitte eine Mail an hello@frohfroh.de – das war zwar als kleine Überraschung für den 7.11. geplant, wir verteilen die Plakate natürlich trotzdem gerne an euch. 

Design von Tine Pascoe

Wir freuen uns darauf die Arbeiten der Künstler*innen mit euch zu teilen. Danke für eure Unterstützung.

Stay safe!

Solidaripod #33 – Club-Kultur supporten

Wir wurden zum Solidaripod, dem Podcast zu Solidarität, eingeladen. Die aktuelle Folge beschäftigt sich mit der Leipziger Club-Kultur, Schnelltests an der Clubtür und “privaten” Raves während Corona.

Seit Monaten ist es nicht mehr möglich in Clubs zu feiern. Und so schnell werden sie auch nicht wieder aufmachen. Für viele fehlt dadurch ein elementarer Bestandteil ihres Lebens. Einige sind auf “private” Raves ausgewichen. Aber schaden die der Szene? Und wie können Clubs eigentlich den Corona-Winter überleben?

Hier geht’s zur Folge mit Antoinette Blume und Steffen Kache von der Distillery.

Talk Talk – Selbstausbeutung in der Clubkultur – Neele & Antoinette

Das ist eine ganz besondere Ausgabe unseres Talk Talk-Podcasts. Erstens feiern wir das erste kleine Jubiläum, denn nach vier Jahren ist die 20. Folge fertig. Warum das in der langen Zeit “so wenige” Ausgaben sind, wird in der neuen Folge klar.

Zweitens ist Neele zu Gast, die zur allerersten Folge zusammen mit Emilia sehr spannende Einblicke über Geschlechtergerechtigkeit gab, denn wir sprachen damals über das Thema: Wie Frauen in der Clubkultur präsenter werden. Damit waren wir ziemlich früh dran! Auch wenn sich mittlerweile einiges in Leipzig getan hat, sind die meisten Aussagen im Podcast leider immer noch aktuell.

Und drittens haben wir diese Folge live mit Publikum aufgezeichnet. Deswegen kommt ihr auch zu Wort und seid erstmals direkt mit dabei! Diese Art von Talkrunden möchten wir in den nächsten Monaten gerne etablieren. Auf unserer Facebook-Seite und bei Instagram informieren wir euch über unsere kommenden (weiterhin kleinen) Veranstaltungen.

Selbstausbeutung in der Clubkultur

Unser Thema in der neuen Ausgabe Talk Talk ist die Selbstausbeutung in der Clubkultur. Denn dass in der Szene das Geld nicht gerade locker sitzt, weiß wohl jeder, der schon mal an der Bar, an der Tür, hinterm DJ-Pult oder im Büro eines Clubs gearbeitet hat.

“Arbeiten in der Clubkultur wird oft als Freizeitspaß abgetan, wodurch dann viele nicht bereit sind, Geld dafür zu geben.” – Neele

Der Talk Talk Live-Podcast

Wenn es überhaupt Geld gibt, ist die Summe meist nicht verhandelbar. Oder es werden nur symbolische Summen ausgezählt, wie sogenannte Aufwandsentschädigungen oder Taxigeld. Vielleicht bekommt noch der*die Headliner-DJ eine feste Gage, alle anderen machen das aber scheinbar aus Spaß. Im Talk fragen wir uns, warum das so ist und was uns antreibt, trotzdem für die Szene unsere Zeit zu opfern.

Hier geht’s zur 20. Folge Talk Talk:

Antoinette Blume hat bereits Ende letzten Jahres bei DJ LAB über das Thema geschrieben. Hier geht’s zum Text.

Ihr könnt unsere Arbeit bei frohfroh übrigens bei Steady wertschätzen. Danke an alle Unterstützer*innen!

Egotrip der Szene – “Private” Raves während Corona

Insta-Shots, ein Schwenk durch die Menge, schwitzende Körper, Hände nach oben, geile Stimmung, toller Vibe – ein Bild aus alten Tagen? Throwback 2019? Na ja, nicht so ganz. Letzte Woche, vorletzte Woche, in Clubs, in WGs, 2020. Ist das richtig, annehmbar, vertretbar? Antoinette Blume hat ihre Gedanken zu “privaten” Raves in Leipzig aufgeschrieben.

Wir alle wollen feiern. Ich schließe mich da gar nicht aus, überhaupt nicht. Tanzen, ungehemmt, Menschen kennenlernen, rummachen, Drogen nehmen, Afterhour, Prehour, dunkel, laut, the heat of the moment spüren, da sein, frei sein, mit anderen. Die Sehnsucht ist groß, das Verlangen wurde im Sommer mit Treffen in Biergärten, Open Airs und Sessions am heimischen Wohnzimmertisch nur semi befriedigt.

Ich verstehe das zu gut, kein Zweifel. Ich habe aber kein Verständnis für Partys mit hundert(en) Leuten, “mit” und ohne Hygienekonzept – “mit” Codewort, wenn la policia aka dein Freund und Helferlein vor der Tür steht und die Masken schnell vom Hals über Mund und Nase wandern. Wir müssen dafür nicht vorwurfsvoll nach Berlin schauen, wir können diese Diskussion hier in Leipzig führen. 

Was uns allen derzeit fehlt

Um eines vorweg zu nehmen: Veranstaltungen können stattfinden, wenn sie den Anspruch haben, das Miteinander so safe wie möglich zu machen. Dass das leider bedeutet, dass es keine Veranstaltung sein wird, die nur annähernd an “früher” rankommt, ist damit besiegelt. Das ist schade, das ist ein Verlust, das fehlt. In Anbetracht der Situation in Sachsen, in Deutschland, in den Nachbarländern, auf der Welt, sollte das jedoch irgendwie klar sein. Es sollte selbstverständlich sein, keinen fucking Egotrip zu fahren. Muss es.

Ich habe mich auch schon dabei erwischt, dass ich kurz davor war, mich für eine Party in Leipzig-Nord anzumelden. Irgendwas hielt mich dann doch davon ab. Einen Tag später wurden kurze Snaps in meinen Story-Feed gespült: ein Schwenk durch die Menge, schwitzende Körper, Hände nach oben, geile Stimmung, toller Vibe, mega voll.

Bisschen zieht es im Bauch, nicht wegen Corona, wegen the fear of missing out. Raven, Spaß haben, du bist nicht dabei. Andere erleben das, was du dir auch wünschst – und es liegt an dir, dabei zu sein oder eben nicht. Ähm, Stop mal – ist halt auch gerade Pandemie, ne? Es hält mich auch ein Solidargedanke ab, egotrippig, einfach weil “ich das jetzt will und brauche”, zu Partys zu gehen, wie ich das früher tun konnte. Trotzdem: the struggle is real.

Angebot und Nachfrage

Das Angebot ist rar, aber es ist vorhanden, da müssen wir uns nicht in die Tasche lügen. Es hat schon fast etwas Sakrales, in diesem „inner circle“ zu sein, zu wissen, wo eine private Party mit 50-100 vorangemeldeten Gästen stattfindet, sich anmelden zu dürfen. Fast gebauchpinselt fühlt man sich, in den Club der Furchtlosen aufgenommen zu sein, oder? “Du gehörst dazu”. Und dieses (warme) Gefühl ist per se nichts Falsches. Ihm nachzugeben schon.

Das Angebot zu schaffen, also diese als “privat” deklarierten Partys zu veranstalten, ist für mich zwar emotional nachvollziehbar – rational allerdings nicht. Und wer jetzt mit “es is‘ aber nix passiert!” um die Ecke kommt, bitte lasst es. Spiel mit dem Feuer, toll wenn nix passiert, ehrlich. Das System “privater Rave” ist jedoch prädestiniert dafür, aus dem Ruder zu laufen. Wer nach einer Nase Speed und einem halben Teil noch an Corona denkt, congrats! Den meisten geht’s wohl anders.

Um welchen Preis?

Ich möchte darüber reden, was in Leipzig passiert. Ich möchte sagen können, dass ich das nicht in Ordnung finde, ohne als Panikerin oder Heuchlerin abgetan zu werden, habe ich in der Vergangenheit doch auch schon mal mit mehr als zehn Leuten abgehangen. Ich möchte niemanden shamen, der zu diesen Partys geht, sie veranstaltet oder sie im Club stattfinden lässt. Allerdings müssen wir reden. Und uns bewusst machen: Das geht gerade einfach nicht klar. 

Wir setzen, ja, wir alle!, aufs Spiel, dass risikoarme Veranstaltungen durchgeführt werden können, dass das mediale Bild die Szene als egoistisch, feierversessen, unsolidarisch und teilweise echt ätzend zeigt, dass wir wirklich zum Infektionsgeschehen beitragen. Ich muss hier glaube ich nicht erwähnen, dass auch junge Menschen an Covid-19 sterben, sich nach Monaten noch nicht von ihrer Erkrankung erholt haben. Und wir, die “Jungen”, Menschen mit Vorerkrankungen, Ältere und chronisch Kranke dem Risiko schwer zu erkranken oder zu sterben aussetzen. Falls das doch breaking News sind, bin ich froh, es hiermit geteilt zu haben.

Stay safe. And think of others.  


Artwork von fragmentiert.

KW 43 – Samstag

Die Eröffnung von “AUTOTOMIE: die erste Wunde” der Leipziger Künstler*innen um Postorganic Bauplan & Vesper findet am Samstag in der Spinnerei statt. Hingehen!

Erstmal die Hardfacts. Wann? 24. Oktober, 11 Uhr bis 22 Uhr; wo? auf dem Spinnereigelände, genauer Halle 18, in der Galerie BSMNT. Was eigentlich? Ausstellung, Performance, Surprise.

24.10.2020 * 11-22 Uhr * BSMNT

AUTOTOMIE: die erste Wunde ist dabei nur der Anfang, der erste Teil einer Trilogie. Das Konzept zur Ausstellung stammt von Josefina Maro & Salvador Marino. Performen werden sie gemeinsam mit Vesper. Sie stellen dabei unter anderem die Frage: Sind wir bloß Fleisch in einem bio-politischen Programm? Könnte spannend werden. Wird es! Also, unsere Empfehlung: Clubs haben eh dicht, gehen wir doch alle ruhig mal (mehr) Kunst anschauen.

Aufmerksame frohfroh-Leser*innen erkennen seine Arbeit sicher den ersten Blick, denn die Designschrift ist ziemlich unverkennbar: Don Elektrq ist für die Plakate und Fyler verantwortlich. Yes, genau, der Don Elektrq, der auch einige Seiten in unserem ff-Magazin füllt.

Auf ihrer Website informieren euch die Macher*innen hinter dem Projekt (noch) detaillierter: www.postorganic-bauplan.com

Update, Update – ff001

Lange haben wir nichts darüber erzählt, vielmehr erzählen können – aber jetzt, endlich, leaken wir die ersten Infos zu unserer Platte. Wer, wie, was und wann, erfahrt ihr bei uns.

Vor mittlerweile etlichen Monaten, im Februar, haben wir einen Open Call ausgerufen. Als Reaktion haben wir über 30 Tracks von euch bekommen – danke dafür! Wir haben uns nur schwer entscheiden können. Klingt abgedroschen, aber wir hätten sicher zwei Doppelvinyl pressen lassen können. Letztlich haben wir uns für vier sehr besondere, experimentelle(re), verschobene Tracks entschieden.

Wer kommt auf die ff001?

Auf unserer ersten Platte werden Tinkah, Lea Matika, Sithara und ARVØ releasen. Das Mastering hat LXC von Alpha Cut für uns übernommen, gepresst wird bei Rand Muzik in Leipzig. So weit, so gut.

Foto von Kim Camille

Und eine Besonderheit dürfen wir auch schon verraten: Es wird einen digitalen Bonustrack von fragmentiert geben, der diesmal nicht das Artwork für uns übernommen hat – das kommt nämlich von the one and only Anna-Lena Erb.

More to come…

An dieser Stelle möchten wir uns besonders für das Interesse am Open Call, eure Tracks und eure Nachfragen bedanken. Alles Weitere zum Releasedate, Snippets und mehr erfahrt und hört ihr asap bei uns.

Alle Fotos von Kim Camille. Danke!

Video-Premiere – Geza Cotard – 152

Hello Herbst, hier kommt dein Soundtrack. Produziert vom Leipziger Duo Geza Cotard. Heute feiert dessen erstes Video bei uns Premiere, nächste Woche spielen sie bei den Jazztagen.

Geza Cotard, das sind Friederike Bernhardt und Johannes Cotta. Mit Elektronik und Schlagzeug lassen sie seit einigen Jahren die Grenzen zwischen Drone, Pop, Post-Rock und Jazz verschwimmen. Bisher waren sie nur live zu erleben, jetzt gibt es nach „I Wish It“ auf der Website das zweite Lebenszeichen aus dem Studio: „152“.

Ein viermütiger, ebenso düsterer wie hell aufflammender Song. Mit viel Pathos und unglaublicher Energie. Das Video dazu greift die neurotische und bedrohliche Atmosphäre der Musik perfekt auf. Gedreht wurde es in Leipzig – and it’s cinematic.

Directed by Friederike Bernhardt
Acting & Co-Directing – Arpen
Director of Photography – Tobias Schütze
2nd Camera – Monique Ulrich
Set Design – Monique Ulrich & Samuel Weikopf
Choreography – Konstantin Tsakalidis
Dancers – Tanz-Zentrale Leipzig
Make Up Artist – Cordula Kreuter
Editor – Tobias Schütze VFX – Schall & Schnabel
Special Thanks & Love to Elisabeth

Geza Cotard live
Am 22. Oktober 2020 sind Geza Cotard dann im Rahmen der Leipziger Jazztage live im Schauspielhaus zu erleben. Extra für das Festival hat Friederike Bernhardt ein Programm komponiert, das von Ovids „Metamorphosen“ und dem diesjährigen Festival-Motto „Transitions“ inspiriert ist.

Visuell begleiten den Abend die Schweizer Video-Künstler*innen Susanne Hofer und Stefan Bischoff diesen „Angstpop-Drone-Jazz-Sci-Fi-Abend“, wie es im Festivalprogramm sehr passend heißt.

Foto-Credit: Jennifer Ressel

KW 42 – Donnerstag

Diese Woche ist es soweit – unsere Podcastreihe Talk Talk wird zum ersten Mal vor Publikum aufgenommen.

Man glaubt es kaum, aber das letzte Mal, dass wir etwas veranstaltet haben, war zu unserem Magazinrelease. Und gleichzeitig feiert Talk Talk sein 20. Jubiläum!

Im Gespräch mit Moderatorin Kathi Groll diskutieren Antoinette Blume (Chefredakteurin frohfroh) und XVII (Mitbetreiber des Institut fuer Zukunft) über das Thema “Selbstausbeutung in der Clubkultur”. Alle Infos zur Anmeldung und anderen Formalitäten gibt es hier. Wir freuen uns auf euch!

Das Tarmac-Festival – Startbahn ins Ungewisse

Das Tarmac-Festival in Allstedt durfte trotz Corona stattfinden. Drei Tage lang gab es Musik, Performances und Sekt – und Hygienevorschriften. Aber kann das überhaupt funktionieren? Wie ist die Atmosphäre in der pandemiegerechten Form?

Mittwoch, 22:20 Uhr

Lukas, eine rötlich glimmende Zigarette in der einen, und ein Walkie-Talkie in der anderen Hand, steht im verrauchten Halbdunkel des Holzverschlags, um ihn herum haben sich rund 30 Personen versammelt. Manche von ihnen haben einen überdachten Sofaplatz ergattert, manche müssen sich mit einem Flecken Asphalt begnügen. Noch ist dieser Ort ein leiser, im Hintergrund brummen lediglich die Strom-Generatoren, die in den kommenden vier Tagen einen ganz anderen Geräuschpegel füttern werden. 

Es ist Mittwoch, 22:20 Uhr, ein Tag vor Festivalbeginn. „So“, sagt Lukas, „fangen wir an.“ Sein Blick wandert suchend durch die Runde. „Ist Orgia da?“, fragt er in den schemenhaften Kreis hinein. „Orgia ist da“, bekommt er als Antwort. „Lila Drache?“ 

Crew-Plenum auf dem Tarmac

Nachdem Lukas alle am Tarmac beteiligten Kollektive abgefragt hat, beginnt das letzte Crew-Plenum. Vieles, das jetzt besprochen wird, ist nicht ungewöhnlich für die Organisation eines Festivals. Es geht um die Wasser-Versorgung, Strom-Aggregate, Artist-Shuttles und Bauzäune. Auch der eindringliche Appell, „Kabeltrommeln sind so viel wert wie Goldbarren“, scheint im Kontext einer größeren Veranstaltung durchaus geläufig zu sein.

Erst die Erinnerung, dass auch kurzfristig im Helfer*innen-Team Leute bei Corona-Verdacht abspringen könnten, dass alle darauf achten müssten, die Besucher*innen darauf hinzuweisen, genügend Sicherheitsabstand untereinander einzuhalten und dass das Ordnungsamt am nächsten Tag das Hygienekonzept überprüfen werde, will nicht so ganz in ein gängiges Festival-Plenum passen.

2 Jahre vor Corona

Am Anfang, zwei Jahre vor dem Ausbruch des neuartigen Coronavirus, bevor es sich auf dem gesamten Globus ausbreitete und Corona eine neue Logik in die Veranstaltungswelt eingravierte – bevor das alles geschah hatten Lukas, sein Bruder Johannes, ihr Cousin und ihr Mitbewohner eine lose Idee: „Wir haben gemerkt, dass in Halle und der Umgebung viel los ist, es gibt wahnsinnig viele Kollektive, die etwas auf die Beine stellen, aber die untereinander nicht gut vernetzt sind“, sagt Lukas, „dann haben wir auf den Raves geguckt, wer die Heads der Kollektive sind, um sie von unserem Vorhaben, gemeinsam ein Festival auf die Beine zu stellen, zu überzeugen.“

Als Pendler zwischen den Welten führten sie zusammen, was auf den ersten Blick nicht zusammenpasst. Unterschiedliche Kollektive mit unterschiedlichen musikalischen und künstlerischen Profilen. Da gab es zum Beispiel den L300 Decoration & Arts Circle, eine Gruppierung, die sich auf psychedelische Kunst und Musik konzentriert. Oder die Station Endlos, ein festivalerprobtes Kollektiv aus Halle, das deutschlandweit und auch über die Landesgrenzen hinweg bekannt ist. Aber auch das Teilkonversum 7, dessen künstlerische Bandbreite von Animationsfilmen über Hörspiele bis Vorträge reicht.

Der kleinste gemeinsame Nenner schien der Wirkungsbereich der Kollektive zu sein: Halle und Umgebung. „Wir sind dann in die Plena reingeplatzt“, sagt Johannes, “90 Prozent der Kollektive hatten Lust und sind eingestiegen.“ Gemeinsam stülpten sie dem Tarmac ein eigenes Konzept über, kein kommerzielles, sondern ein durch den Ticketverkauf eigenfinanziertes, mit einem föderalistisch organisierten Prinzip. Jedes Kollektiv ist für eine eigene Bühne verantwortlich, das Tarmac für die Infrastruktur drum herum.

Der Flughafen Allstedt

Dass das Tarmac auf dem ehemaligen sowjetischen Flughafen in Allstedt stattfinden sollte, war eine logische Entscheidung. Schließlich sind Lukas, Johannes und viele Crewmember in der Gegend im Südwesten Sachsen-Anhalts, nicht weit entfernt von Halle, verwurzelt. Der kleine Flugplatz, den die Rote Armee bis 1992 nutzte, ähnelt dem Fusion-Gelände. Ein Hauch von Vergänglichkeit umweht diesen Ort – gewaltige, vom wilden Grün überwachsene Flugzeug-Hangars, die wie angeschlagene Riesen zwischen spröden Betonwegen liegen. Alles erinnert ein wenig an eine postapokalyptische Kulisse. Gleichwohl hat dieser Ort etwas Reizvolles und Ursprüngliches, einen eigentümlichen Raum zum Entfalten. 

Die Festival-Idee überzeugte die Betreiber*innen des Flugplatzes, wenig später war die Kooperation dann beschlossene Sache. Die Crew mietete einen Flugzeughangar an und begann, das Gelände festivaltauglich zu machen. Auch der Ticketverkauf lief an. „Wir dachten, 1.500 verkaufte Tickets wären für das erste Jahr optimal“, sagt Johannes.

Dann kam Corona…

„Bei uns herrschte erst einmal schockschwere Not“, wie Lukas sagt. Klar war nur die Unklarheit. Jeder wusste nur, dass es erst einmal nicht weitergehen würde, doch niemand wusste, wie lange es dauern und was danach passieren würde. Es gab mehr Fragen als Antworten. Bis zum 30. Juni wollte die gesamte Crew eine Entscheidung treffen. Aber wie will man eine Entscheidung fällen, während sich die Corona-Welt rasant verändert? Regelmäßig trafen sich die Organisator*innen, aber „wir waren lange Zeit auf dem Dampfer, dass wir es nicht machen“, sagt Lukas, „in der Zwischenzeit haben wir unseren Fokus verschoben: Was können wir jetzt tun, ohne uns ein Bein zu stellen?“ 

„Der Druck war weg…“ 

Die Crew konzentrierte sich deshalb auf Projekte, die auf längere Zeit ausgelegt waren, wie der Backstagebereich, der ausgebaut wurde. „Der Druck war weg, unbedingt die Veranstaltung durchziehen zu müssen.“ Die selbstgesetzte Entscheidungsfrist wurde um einen Monat verlängert.  „Es gab ein Plenum, in dem wir gesagt haben, wir machen es nicht“, sagt Johannes, „dann haben wir uns noch einmal getroffen, viele Leute haben gesagt, sie ziehen nur mit, wenn das Konzept hinter der Veranstaltung stimmt.“ 

Zusammen erarbeiteten sie ein ausgeklügeltes Hygienekonzept, das dem Ordnungsamt vorgelegt wurde. Unter anderem sieht es vor, dass Besucher*innen, die in den letzten 14 Tagen vor Festivalbeginn aus einem Risikogebiet eingereist sind und nicht negativ getestet wurden beziehungsweise die in den letzten 10 Tagen vor Festivalbeginn Kontakt zu einem positiv getesteten Menschen hatten und selbst nicht negativ getestet wurden, keinen Zutritt erhalten. Alle sind dazu angehalten, anderthalb Meter Mindestabstand zueinander zu halten und überall dort, wo der Mindestabstand nicht eingehalten werden kann, müssen Mund-Nase-Bedeckungen getragen werden.

Hygienekonzept: Check

Das Ordnungsamt segnete das Konzept schließlich ab. Trotzdem arbeitete die Crew zweigleisig, die Absagetexte für die Besucher*innen lagen griffbereit in der Schublade. Als dann am 2. Juli der sogenannte Sachsen-Anhalt-Plan der Landesregierung in Kraft trat, der bis Mitte September Open-Air-Veranstaltungen mit bis zu 1.000 Personen erlaubte, „war das der richtige Startschuss“, sagt Johannes, „irgendwann gab es den Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab.“  

Das Festival sollte wie geplant vom 4. bis zum 6. September stattfinden. Anfang September gab es rund 2.500 Corona-Fälle in Sachsen-Anhalt, davon 115 aktive. Das ist wenig im Vergleich zu anderen Bundesländern wie zum Beispiel Bayern. 

Aber: Das Tarmac zieht nicht nur Besucher*innen aus Sachsen-Anhalt an. Könnte heikel werden, wenn man bedenkt, wie viele verschiedene Menschen auf einem Haufen zusammenkommen, die wiederum Kontakt zu anderen Kreisen haben. Ist so eine Veranstaltung zwischen den Corona-Wellen eigentlich zu verantworten? Wenn Hunderte berauschte Menschen zusammen feiern, führt das nicht zwangsläufig zu einem flapsigen Umgang mit den Hygienebestimmungen? Ist ein Ort, an dem erstmals wieder zusammen geravet wird, nicht ein Pulverfass? Oder ist die vorsichtige Umsetzung einer größeren Veranstaltung nicht doch ein wichtiger Schritt zurück in Richtung Normalität?

Corona hat speziell im Kulturbetrieb tiefschürfende Wunden hinterlassen. Auch die Kollektive, die am Tarmac beteiligt sind, können davon ein Lied singen. Die Musiker*innen, die vielfach in finanzielle Nöte geraten und einige sogar in der Existenz bedroht sind, ebenso. 

Was bedeutet also ein Festival inmitten von Corona? 

Donnerstag, erster Anreisetag

Es ist Donnerstag, der erste Anreisetag. Die Sonne heizt den Asphalt auf, ein blaues Polizeiauto steht wenige Meter vor dem zentralen Platz, an dem gestern das letzte Plenum stattfand. Der Polizist, ein etwas betagter Mann, steht mit auffallend alter Uniform vor seinem auffallend neuen Polizeiwagen. Was genau die Konzession ist, bleibt unklar. Er begleite das Ordnungsamt, sagt er, das wie angekündigt die Hygienebestimmungen überprüft. Lukas und Johannes führen die beiden Mitarbeiter*innen zeitgleich über das Gelände, dirigistische Eingriffe werden sie nicht vornehmen müssen. Bedenken bezüglich des Festivals habe er keine. 

„Ich kenne keine Menschen, die jemals Corona hatten“, sagt der Polizist, dreht sich abrupt um und sorgt urplötzlich mit einem ganz eigenen Humor für Verwunderung. „Corona-Polizei! Sofort stehenbleiben!“, schnauzt er zwei Besucher an, die an ihm vorbeilaufen, „einer von euch beiden hat gerade geniest! Wer war das?“ Gequältes Lächeln schlägt ihm entgegen. Es soll sein letzter großer Auftritt auf dem Festival bleiben. Wenig später verlassen Ordnungsamt und Polizei das Gelände.

“Corona-Polizei”

Ein paar Meter weiter werden die ersten lila Festival-Bändchen verteilt. Um eines zu erhalten, müssen die Besucher*innen zuerst eine Selbstauskunft abgeben. Das ist Teil des Hygienekonzepts. Auf der Wiese neben der Startbahn sprießen nun die ersten Zelte aus dem Boden, den Bühnen wird noch der letzte Feinschliff verpasst, die ersten Sektkorken beginnen zu fliegen. 

Vom zentralen Platz aus zweigen zwei Wege zu den Bühnen ab, der linke führt über Kies zur beeindruckenden Konstruktion vom Endlos: ein gigantisches silber-glänzendes Dreieck auf blauem Hintergrund, das wie ein imposantes Eisschloss in den Himmel ragt. Wer das Endlos kennt, der weiß, dass die Musikanlage in den kommenden Tagen für akustische Spitzenleistung und am angrenzenden Zeltplatz für Nachtlärm sorgen wird. 

Direkt gegenüber ist die Parzelle, eine Tanzfläche, gestaltet vom resonant-Kollektiv aus Jena. Sie ist umzäunt, so wie alle Bühnen. Zum Hygienekonzept gehört nämlich auch, dass nur eine begrenzte Personenanzahl auf den Floors feiern darf. Ist das Limit erreicht, muss man draußen warten, geht wer raus, darf wer rein. So soll genügend Abstand zwischen den Tanzenden geschaffen werden. Aber erst einmal kümmert sich der herbstliche Regen, der auf die herausgeputzten Floors und in den späten Abend fällt, in Eigenregie um ausreichend Platz. 

Dann, gegen 1 Uhr verliert er an Intensität. Die Luft ist kühl, trägt aber die ersten Ausläufer der Musik mit sich. Es geht los. Die Tanzfläche der Parzelle liegt leicht erhöht in einem kleinen Wäldchen, ein kurviger Trampelpfad führt zu ihr. Rechts, links, rechts, rechts, der Weg mündet in die von Böschungen eingekesselten Floor. Jetzt wird der Bass nicht mehr von natürlichen Hindernissen geschluckt, er klatscht. Etwa 50 Leute stampfen mit matschüberzogenen Schuhen zur Musik. 

PAW, der DJ, legt aus einer Kleingartenparzelle heraus auf, die an ein kleines Hexenhäuschen erinnert. Es läuft Techno, der im Stakkato kommandiert. Überschwänglich wird jeder Drop gefeiert als wäre er pure Magie, unerklärlich aber mitreißend. Die Atmosphäre ist nicht von den Einschränkungen definiert, sondern vom Geist des gemeinsamen Tanzens. Es ist wie ein Neuanfang, bei dem die Euphorie des Augenblicks die Bedrohlichkeit des Ungewissen verhüllt. Auf der Tanzfläche und den Holzbänken verteilen sich rot-grüne Sektflaschen, manche stehend, manche liegend, sie werden zu stillen Zeuginnen wie auch zu munteren Mittäter*innen der ersten langen Nacht. 

Freitag, Guten Morgen!

Am Freitag weckt ein anregender Pizzaduft Bedürfnisse, die viele in der vergangenen Nacht übertüncht haben. Am Himmel beobachtet die Sonne mit ungetrübtem Blick, wie immer mehr Menschen ihre ersten vorsichtigen Schritte auf dem Tarmac gehen. Heute ist der Hauptanreisetag. Einige Besucher*innen können jetzt erst kommen, weil sie in ihrer Heimat lernen, Hausarbeiten schreiben oder Arbeiten mussten. 

So wie Mirja, die bis in die Morgenstunden hinein im Krankenhaus Nachtschicht hatte. Sie ist Assistenzärztin, sitzt auf der feingliedrigen Holz-Hängematte des Kiosk-Floors und ist gerade sehr müde. „Die letzte Nacht war super stressig“, sagt sie und schlürft an ihrem Kaffee, „bis 6 Uhr morgens bin ich kaum zur Ruhe gekommen.“ 

Während ihre Freund*innen wenige Meter von ihr entfernt auf dem Floor des Kiosks tanzen, muss sie erstmal ankommen und „langsam wieder hochfahren“. Für das Festival hat sie sich extra Urlaub genommen, fünf Tage, aber nicht um einen fiesen Kater auszukurieren, nein, weil sie auf der Krankenhausstation eine Menge Verantwortung trägt, Umgang mit schwerkranken Menschen hat und sich deswegen nach dem Festival auf Corona testen lassen will. 

“Ich brauche das Festival jetzt.” – Mirja

„Auch wenn ich bis Donnerstag keine Symptome zeigen sollte, lasse ich mich trotzdem testen, solange bleibe ich vorsorglich in Quarantäne.“ Sie habe intensiv überlegt, ob es verantwortlich ist, überhaupt aufs Tarmac zu fahren. „Das letzte Mal getanzt habe ich im Februar, danach gab es nur noch Arbeit, dazu kam der psychische Druck, ich musste wegen meiner Arbeit genau überlegen, mit wem ich Kontakt habe und wo ich mich aufhalte. Ich brauche das Festival jetzt.“ Eine Freundin von Mirja hat Bier gekauft, Mirja sattelt um. 

Freitag 20:00 Uhr, Partystimmung

Es ist 20 Uhr, so langsam stellt sich auf dem Gelände ein reges Treiben ein, auf beinahe allen Bühnen gibt es mittlerweile Programm: Auf dem L300-Floor läuft Psytech, im Nest ein Vortrag über Hooligans, im Sketapark (eine zeitgleiche Ausführung der beiden Bestandteile der Doppeldeutigkeit scheint unmöglich) der trippige Sound von Galaxaura. Auf dem Hauptplatz wird gleich ein feministisches Theaterstück aufgeführt und hier auf der Lila-Drachen-Stage beginnt ein ganz eigener farbenfroher Rummel. 

Die Sonne torkelt noch ein letztes Mal am Himmel, dann fällt die Nacht wie ein gewaltiger Hau-den-Lukas-Hammer, bunte Lichter schnellen empor und tänzeln in den Raum, den das Sonnenlicht zuvor für sich vereinnahmte. Auf dem Vorplatz eines imposanten Flugzeughangars hat die Crew des Kunst- und Kulturverein Südliche Innenstadt aus Halle, genannt Lila Drache, in den vergangenen Wochen eine trashige Kirmeswelt aufgebaut. 

Schnaps und Minigolf

DJs, die auflegen, gibt es hier nicht, dafür eine frisierte Version eines Minigolf-Courts, dann einen hohen Bademeistersitz, der zwischen den Bahnen thront und ein hölzerner Geodome, in dem ein Zauberer mit seinen Tricks überrascht, im Hintergrund singt Nelly Furtado „Maneater“. „Unsere Idee war, eine Gegenwelt zu den anderen Bühnen zu setzen“, sagt Lucie aus der Crew, „hier gibt’s Schnaps und Minigolf.“

50 Leute dürfen gleichzeitig die Minigolf-Anlage betreten, vorher müssen sie allerdings die Hände desinfizieren und wenn die Anlage verlassen wird, desinfizieren die Helfer*innen des Lila Drachen die benutzten Schläger und Bälle. Es ist eine schriller Spaßkosmos. 

„Der Vibe ist, dass du hier hinkommen und dich wohlfühlen kannst“, erklärt Lucie. An den Minigolfbahnen vermischen sich triumphierende Aufschreie mit schadenfrohem Gelächter, in den Bäuchen der Besucher*innen Shots und Bier. Auf dem Weg zum zentralen Platz huscht Johannes mit schnellen Schritten vorbei, aus seinem Walkie-Talkie dringen aufgeregte Stimmen. Langsam aber sicher beginnt der florierende Festivalbetrieb und für die Tarmac-Crew und für die Kollektive sowie die zahlreichen freiwilligen Helfer*innen eine neue Form der Anstrengung. 

© Sophie Reißenweber

Viele kleine Zahnräder müssen jetzt ineinandergreifen, wenn der Festivalapparat reibungslos laufen soll. Eine komplexe Aufgabe, die von den Besucher*innen nur wahrgenommen wird, wenn etwas nicht funktioniert. Es hat etwas vom Schiedsrichter*innen-Los. Je weniger die Arbeit auffällt, desto besser ist diese. Und doch haben die Organisator*innen wenig Einfluss auf eventuelle Fallstricke, wenn etwas Unerwartetes geschieht – wenn Personen plötzlich Symptome zeigen, oder wenn Musiker*innen nicht auftauchen sollten.

“Ich habe mich gefühlt wie auf einer Silvesterparty” – Marie Montexier

Marie Montexier jedenfalls ist da. Und das schon etwas länger. Vor 40 Minuten hätte sie laut Plan im Sketapark mit ihrem Set beginnen müssen, es gibt einen leichten Delay. Das Live-Set von DJ Detox ist beim letzten Track angekommen, Marie steht hinter ihm, zündet sich eine Zigarette an, dann checkt sie nochmal die erste Platte. „Ich versuche, meinen inneren Ruhepol zu finden, den Groove vom DJ vorher zu verstehen und beobachte die Leute auf der Tanzfläche, um mich ein bisschen von dem Vibe einsaugen zu lassen“, erklärt Marie ihre Routine kurz vorm Auflegen. Ihr Opening-Track, visual imagination (vocal mix) von Hyper.Nation, läuft an, Marie wippt mit den Knien, dann setzt der Bass ein. Als hätte jemand die Geschwindigkeit verdoppelt, passiert jetzt alles viel energetischer. 

Wo man auch hinschaut, die Menschen entgrenzen sich, haben Platz, sich auszudrücken, hier gibt es kein Gedränge, aber die seltsame Erkenntnis, dass die Abstandsregel zur befreienden Selbstentfaltung führen kann. „Ich habe mich gefühlt wie auf einer Silvesterparty“, wird Marie später sagen, „die Leute hatten richtig Bock, intensiv zu tanzen.“ Ihre Musikauswahl habe sie sich vorher genau überlegt: „Ich habe viel Musik eingepackt, zu der ich eine positive emotionale Verbindung habe.“ Und bei einem früheren Gig in Leipzig sei ihr aufgefallen, dass Breakbeat die Leute catcht, „ein emotionales Genre, zu dem ich auch gerne feiere.“ 

Bitte Maske tragen!

Am Eingang der Tanzfläche hat sich eine Schlange gebildet, Helfer*innen weisen dort darauf hin, die Schutzmasken zu tragen und Abstand zu halten. Auch wenn die wachsende Schlange nur wenige Meter vom brodelnden Floor entfernt ist, wirkt es so, als gäbe es eine unsichtbare Schleuse, eine musikschluckende Wand, auf der einen Seite wird getanzt, ein Meter weiter wird die Warterolle widerstandslos angenommen. Aber hier blitzt ein typisches Festival-Phänomen auf, die Leute tauschen sich aus. Eine Nuance, die so banal erscheint, aber aufgrund der Abstandsregelungen ziehen viele Besucher*innen nur mit den eigenen Freund*innen über das Gelände, in der Schlange wird, wenn auch vorsichtig, gequatscht. 

Am Pult spielt Marie jetzt ihren Schlusstrack, „I need your loving“ von Baby D, der geradezu frenetische Applaus auf dem Floor schwillt ohrenbetäubend an, nicht nur Maries Augen glänzen. 

Marie hat mal gesagt, das besondere an Platten sei für sie, dass sie genau wisse, wo und mit welcher Stimmung sie sie gekauft hat. Ihr Closing steht sinnbildlich dafür, ist er doch eng mit der Quarantänezeit verknüpft. Eine Zeit, in der sie sich wie so viele Musiker*innen mit ausbleibenden Gigs, existenziellen Sorgen und Gedanken konfrontiert sah. „Erst einmal bin ich in ein krasses Loch gefallen“, sagt sie, „vor allem, weil ich vorher unheimlich glücklich mit meiner Musik-Entwicklung war.“ Finanziell wurde sie aufgefangen, fand in einem Laden von Freund*innen Arbeit. Als die Anfrage vom Tarmac kam, hatte sie aufgrund der Situation zwar leichte Bedenken, aber „ich stand dem Ganzen offen gegenüber, weil der Musikbereich gelitten hat.“

Bühne als Feuerprobe

Das Tarmac biete jedoch auch die Chance, zu zeigen, dass junge Leute verantwortungsbewusst mit der momentanen Situation umgehen könnten. „Dass ich auf dem Tarmac spielen darf, ist in dieser schwierigen Zeit ein Privileg für mich“, sagt Marie. Die Bühne ist immer noch die frontalste Konfrontation, die Musiker*innen erfahren können.

Auch wenn in der Corona-Zeit andere Formate wie Live-Streamings vermehrt in den Blickpunkt gerieten, ist die Bühne als Prüfinstanz, wenn das eigene Schaffen in eine direkte Interaktion mit den Rezipient*innen tritt, nicht zu ersetzen. Ohne Bühne verhält es sich bei Musiker*innen wie zu Bastler*innen, die immer ausgeklügelter an ihren Flugdrachen tüfteln, aber nie die eigenen vier Wände der Werkstatt verlassen und deshalb nie erfahren werden, wie der Wind den Drachen prüfend umströmt. 

Die Bühne ist wachstumsfördernd, aber auch sinnstiftend für Musiker*innen und das Tarmac eine dankbare Gelegenheit, neu aufgekommene Tracks im naturgemäßen Biotop zu präsentieren. In einer Welt ohne Corona spielte Marie regelmäßig als Resident der Berliner Partyreihe „Warning“ vor großem Publikum. In der Welt mit Corona füllte sie das künstlerische Vakuum mit neuen Projekten wie einer eigenen Radioshow, in der sie anderen Musiker*innen eine Plattform bietet. Die aktuelle Situation verbindet eben. 

Ein Samstag mit Lucie Vuittong

Lucie Vuittong, die am nächsten Tag um 12:00 Uhr auf derselben Bühne auflegt, beschäftigte sich in der unfreiwilligen Zwangspause mit einer anderen musikalischen Leidenschaft. Für sie bedeutete das: Saxofon statt Plattenteller. Aber dass sie auf dem Tarmac wieder ihrer Platten-Passion nachgehen und mit Tanzenden teilen kann, ist für sie etwas Besonderes. „Ich habe mich in den ersten anstrengenden Tagen beim Aufbau allerdings gefragt, wie ich am Samstag noch auflegen soll“, sagt sie. Lucie erlebt das Festival aus verschiedenen Perspektiven. Seit über einer Woche ist sie auf dem Gelände, um mit ihrer Lila-Drachen-Crew die Bühne aufzubauen. Das gemeinsame Projekt habe das Kollektiv zusammengeschweißt. 

„Gerade in der Corona-Zeit war es auch auf jeden Fall eine schwierigere Aufgabe mit dem Festival, eine Herausforderung für alle“, sagt sie, aber „es hat uns für die nächste Zeit auf jeden Fall Hoffnung gegeben.“ So wie beim Lila Drache sind auf dem Festival viele Leute zusammengekommen, die seit Wochen am Projekt Tarmac schrauben, in der Zeit auf dem Gelände leben, Ablenkung in Europaletten und Schrauben gefunden haben, aber auch eine gleichgesinnte Gemeinschaft, die Auftrieb gibt. 

© Lucie Schirmer

Hinter den Plattenspielern hüpft Lucie hin und her, in den kommenden 127 Minuten zeigt sie ihre breite Klaviatur an Trance- und Housesongs, reißt die noch wachen Beine aus ihrer Lethargie und stellt die Ausgeschlafenen vor eine erste Prüfung. Nach und nach kommt die Crew des Lila Drachen zusammen, Leute, von denen einige seit Festivalbeginn kaum die eigene Bühne verlassen haben – zu groß war der Wunsch, dass ein reibungsloser Ablauf gelingt. 

Von der Endlos-Bühne her gleiten jetzt die ersten Töne aus der Trompete von JPattersson über das Tarmac-Gelände. Unter gespenstisch grauem Himmel, eingerahmt im silbernen Dreieck der Endlos-Konstruktion, beginnt Johann alias JPattersson mit seinem Live-Set. Vor ihm auf dem Floor wirken die Gesichter etwas gezeichnet, manche von der durchfeierten Nacht, manche von den Abdrücken der Isomatten, die sie gerade erst verlassen haben. „Alle haben gestern so Vollgas gegeben, dass die erste Puste bei den Leuten raus war“, sagt Johann später. Da und dort sitzen Matetrinkende, über dem braunen Acker der Tanzfläche schwirrt geisterhaft der gräuliche Dunst der Nebelmaschine. Die Szenerie passt zu seinem mystischen Intro-Song.

In JPatterssons Kompositionen treffen Trompetenspiel und Gesang auf Downtempo-Beats, ein lebhafter Mix, der Wiedererkennbarkeit schafft. Eifrig melden sich die Lebensgeister zurück, die Leute tanzen wieder. Das letzte Mal, als er vor Tanzenden auftrat, im März, saß er im goldenen Käfig des Tribal Gathering fest, einem Festival am türkisblauen Meer von Panama, das Gelände umstellt vom Militär. Zu der Zeit befand sich Johann auf Süd- und Mittelamerika-Tour. Ein Traum, den er sich mit seiner Musik erspielt hatte; er trat in Bolivien, Chile, Mexico, Costa Rica und Panama auf. Dann kamen Corona und das Militär. „Um uns herum befand sich die Welt schon im Lockdown, aber wir wussten davon wenig, weil die Festivalbetreiber es nicht mit uns kommuniziert hatten.“ 

“In der Coronazeit stellt sich für Musiker*innen die Frage nach der Existenz” – JPattersson

Abgeschirmt von der Außenwelt setzten die panamaischen Behörden Johann und die anderen Festivalbesucher*innen in Quarantäne fest, erst nach über einer Woche durften sie das Gelände und Panama verlassen. Seitdem hat sich die Welt rasant weitergedreht. Ursprünglich sollte Johann im diesjährigen Sommer auf dreizehn verschiedenen Festivals auftreten, sie wurden alle abgesagt. Deswegen sei er „dankbar für die Möglichkeit, hier spielen zu können“, auch wenn er ein mulmiges Gefühl hatte. „In der Coronazeit stellt sich für Musiker*innen die Frage nach der Existenz“, sagt Johann. Eine Frage, die immer wieder neu ausgelotet werden muss. 

Aber ein Festival ist auch Balsam für die Psyche von Musiker*innen, „es motiviert einen, weiterzumachen, es ist aber auch wichtig, an der Szene dranzubleiben, andere Musiker*innen zu hören, um neuen Input zu bekommen.“ Denn auch inhaltlich wirkt sich die Pandemie auf die Arbeit aus. Zurück in Leipzig, als er sich mit einem plötzlichen Überfluss an Zeit konfrontiert sah, fehlte der Input, um kreativ neue Lieder zu produzieren.

Der Prozess, wie ein Lied bei ihm entsteht, ist feingliedrig und verfolgt keinen immer gleichen Ablauf. Johann setzt sich nicht an seinen Schreibtisch und fängt bei Null an, ein Lied aufzubauen. Seine Ideen findet er im Lebendigen, mögen es Reisen oder Gespräche sein, mal ist es ein interessantes Element in einem Radiosong, mal ein spannend klingendes ausländisches Wort, all diese Eindrücke liest er auf und speichert sie als eingesungene oder mit der Ukulele eingespielte Sprachaufnahme in seinem Handy ab. So kommen Tausende kleine Tropfen zusammen, manche verbinden sich und fließen in neue Lieder zusammen, andere Ideen warten auf den richtigen Moment.

Im Juli erschien JPatterssons neues Album „Mood“, an dem er eineinhalb Jahre gearbeitet hat. Die Festivalsaison wollte er nutzten, um das Album zu promoten. Stattdessen spielte er virtuelle Festivals, um überhaupt präsent zu sein. Die Zwangspause und die fehlenden Einnahmen kratzen an dem eingeschlagenen Lebensweg. „Ich hoffe, dass es nächsten Sommer wieder in gewohntere Bahnen geht, damit ich von der Musik leben kann.“ Aktuell habe er zwar noch Rücklagen, aber „wenn es nächstes Jahr hart auf hart kommt, muss ich mir Gedanken machen.“ Gedanken hat er sich auch nach seinem Lehramts-Staatsexamen gemacht und sich für die Musik und gegen den Lehrer*innen-Beruf entschieden – also für das Risiko und gegen eine gewisse Sicherheit. 

Wäre der Lehrer*innen-Beruf nicht jetzt doch eine denkbare Option?  „Das möchte ich momentan nicht“, sagt Johann, „ich habe sehr zu schätzen gelernt, entscheiden zu können, mit wem, wo und wann ich arbeite.“ Die Coronazeit führten seine Überlegungen sogar in ganz andere Richtungen. „Ich kann mir vorstellen, etwas mit Holz zu machen, zum Beispiel eine Lehre zum Tischler.“ Die Krise eröffnet auch Denkräume, die vorher nicht existierten.

Samstagabend, immer noch auf dem Tarmac

Auf dem Tarmac ist es jetzt Samstagabend, bis morgen Nachmittag werden die Besucher*innen raven, sich treiben lassen und abschalten können, bevor sie der Montag dann wieder in alltägliche Bahnen lenken wird. Viele werden sich dann auf Corona testen lassen, das Risiko einer Ansteckung schwirrt in den Gedanken der Besucher*innen.

© Julian Quitsch

Das Wort Risiko leitet sich vom lateinischen Verb „risicare“ ab, das aus der Seefahrersprache stammt und „Klippen umschiffen“ bedeutet. Dass ein Festival mit 1.000 Menschen ein gewisses Risiko birgt, ist den allermeisten Besucher*innen bewusst und dementsprechend umsichtig handeln sie auch. Alle sitzen im oft zitierten gleichen Boot, in dem sie versuchen, die Klippen zu umschiffen.

Trotzdem reicht eine unvernünftige Person, die am Mast sägt, auf dem Festival mit Symptomen keine Maske trägt, um andere in Gefahr zu bringen. Die Frage, ob das Tarmac in seiner pandemiegerechten Form beispielhaft für andere Festivals sein kann, entspinnt sich auch daran, ob es auf dem Festival trotz Hygienekonzept Corona-Ansteckungen gab. 

Dienstag, zwei Wochen später

Mirja arbeitet wieder im Krankenhaus, bei Lucie beginnen die ersten Uni-Kurse und Johann ist zurück in Leipzig. 

Drei der Organisator*innen, Lukas, Johannes und Johanna, sitzen an einem runden Holztisch in den Vereins-Räumlichkeiten des Kunst- und Kulturvereins Südliche Innenstadt in Halle (Lila Drache) und sprechen aufgeregt über das Tarmac. Normalerweise würden sich hier einige Hallenser*innen treffen, für die der Dienstag im Lila Drache ein fester Termin im Kalender ist.

In der Zeit vor der Pandemie fand hier ein Austausch statt, es wurde Bier getrunken, manchmal auch mit Live-Musik. Durch Corona ist das zurzeit undenkbar. Trotzdem finden die Erdgeschoss-Räumlichkeiten Verwendung: vorne läuft ein Workshop, im hinteren Zimmer schraubt ein Designstudent an seiner Masterarbeit. Zwischen den beiden Räumen, im Durchgangzimmer, sitzen die drei Organisator*innen. 

© Julian Quitsch

Auch wenn sie jetzt wieder in Halle sind, ist das Tarmac omnipräsent, einerseits weil der Abbau auf dem Gelände nur schleppend vorangeht, aber auch weil die Gedanken zum Festival rasen, das Geleistete verarbeitet werden muss, damit sie begreifen, was die Kollektive, die Helfer*innen und die Tarmac-Crew zusammen auf die Beine gestellt haben.

Sie haben nicht nur zum aller ersten Mal ein Festival organisiert, nein, sie haben ein Festival organisiert, das unter außergewöhnlichen Umständen funktionieren musste. „Auch wenn die Zeit vor, während und nach dem Festival super stressig war und wir kaum zur Ruhe gekommen sind, war es eine besondere Zeit“, findet Johanna. 

„Wir haben zusammen etwas Großes geschafft und uns, wenn die Kraft ausging, gegenseitig im Team aufgefangen.“ – Johanna

„Ich realisiere es gerade noch nicht, es sind so viele Leute gekommen und haben gesagt, dass sie nächstes Jahr wiederkommen wollen“, sagt Johannes. Lukas zieht an seiner Zigarette und nickt Johannes zu, in seiner linken Hand ruht das Handy. Es ist alles glatt gegangen. In der Zeit nach dem Festival ist kein Corona-Fall, der auf das Festival zurückzuführen wäre, bekannt geworden. 

Das Tarmac hat ein Signal gesendet, dass ein pandemiegerechtes Festival gelingen kann. Natürlich muss so eine Veranstaltung in den passenden Rahmen aus niedrigen Fallzahlen, Hygienekonzept und Vernunft der Besucher*innen eingebettet sein. Aber es könnte ein Schritt in Richtung neuer Normalität sein. 

Und wenn nicht, dann war das Tarmac für manche ein kurzer Moment, um an einem sinngebenden Ort zu verweilen, mal wieder dem Beruf oder der Leidenschaft nachzugehen, Zerstreuung zu finden – und mit Freund*innen und viel Herzblut etwas anzupacken.

TalkTalk Live

Ja, richtig gelesen: Unsere TalkTalk-Podcast-Reihe geht live. Am 15. Oktober im Tapetenwerk. Hier sind alle Infos zur Premiere.

Die Idee geisterte schon einige Zeit in unseren Köpfen. In diesem Herbst ist es also soweit und wir heben unseren frohfroh-Podcast „TalkTalk“ aufs nächste Level. Das heißt: Ihr könnt am 15. Oktober 2020 (Einlass 19 Uhr, Beginn 20 Uhr) beim Gespräch zu unserem nächsten Podcast live dabei sein – es ist übrigens die 20. Ausgabe.

Unser Thema ist „Selbstausbeutung in der Clubkultur“.

Kathi Groll moderiert das Gespräch mit Antoinette Blume (Chefredakteurin frohfroh.de) und XVII (Mitbetreiber des Institut fuer Zukunft) Neele (Bookerin im Institut fuer Zukunft). Ihr dürft auch gerne mitdiskutieren.

Corona-bedingt findet die Premiere mit kleinem Publikum im Tapetenwerk (Haus K-03, gegenüber der Halle C01) statt. Anmeldungen sind leider nicht mehr möglich – denn wir sind “ausverkauft”. Getränke und Snacks gibt es nebenan im Café Zwischenfisch.

Für die, die nicht kommen können: Es wird wie gewohnt eine Aufzeichnung geben. Der Podcast erscheint im Nachhinein wie immer auf frohfroh.de, Spotify, Apple Podcasts und Soundcloud.

Besucher*innen werden gebeten, im Inneren bis zum Sitzplatz eine Mund-Nase-Bedeckung zu tragen und der Veranstaltung bei Erkältungssymptomen fernzubleiben. Wir halten uns an die üblichen AHA-Corona-Regeln. Ein Hygienekonzept liegt vor auf Basis der aktuellen Vorgaben.

Wir freuen uns auf euch und die Premiere. Zum Einstimmen könnt ihr euch schon einmal die bisherigen Folgen anhören:

TalkTalk könnt ihr übrigens bei Spotify und Apple abonnieren – dann verpasst ihr keine Ausgabe mehr.