FEUERTANZ – Teil VII: Keine Zukunft in der Gegenwart

Polizist und Rechtsanwalt haben genau wie Kollektive und Besucher*innen klare Positionen. Was denkt eine Stimme aus der Politik über illegale Open Airs? Wieso Linke-Stadträtin Juliane Nagel Freiluftraves für einen wichtigen subkulturellen Beitrag hält. Ein Blick nach Halle – sind legale Flächen die Lösung? Außerdem: Ein Kommentar, wie es jetzt weitergehen muss.

Foto: Valerie Zöllner


Schmuck für Leipzig

Die Sonne brennt auf die Steinplatten des Gehwegs. Leicht verschwitzt von der Fahrt nach Connewitz schließe ich mein Rad vor dem Linxxnet-Büro an. Hier bin ich mit Juliane Nagel von der Leipziger Linken verabredet, um herauszufinden, wie eine Stimme aus dem Stadtrat über illegale Open Airs denkt. Hinein in den gemütlichen Hauptraum des Linxxnet, ein offenes Projekt- und Abgeordnetenbüro der Partei Die Linke. In Top und kurzer Hose gekleidet betritt die Stadträtin den Raum und begrüßt mich gut gelaunt.

Das Linxxnet in der Brandstraße in Connewitz.
Foto: Lea Schröder

„Selbstorganisierte Partys sind ein wichtiger Bestandteil der kulturellen Landschaft Leipzigs. Die Leute organisieren selbst, meist ohne kommerziellen Anspruch. Das ist für die Stadt zwar wenig steuerbar, kostet sie aber auch nicht viel Geld. Auch elektronische Musik gehört zu Kultur und zieht vor allem junge Leute an – ein Wert, mit dem sich die Stadt Leipzig eigentlich schmücken könnte“, findet sie. „Das Segment der elektronischen Partykultur trägt zum Image der Stadt bei, in Bezug auf junge, ‚wilde‘ Kultur.“ Sie sehe jedoch auch die kritische Dimension von Open Airs: Fehlende Kontrolle seitens der Behörden, Lärmbeschwerden durch Anwohner*innen und Umwelt- und Naturschutzinteressen.

Mit einem breiten Lächeln stellt Nagel ihre Lösung dieses Konflikts dar: „Man müsste Flächen identifizieren, wo weder Anwohnerinnen und Anwohner, noch Tiere und Naturschutz-Aspekte in dem Maße bedroht sind und dort Platz für kontrollierte, legale Open Airs schaffen.“

Legal feiern in Halle – das gute Beispiel?

Dieser Vorschlag deckt sich mit dem des Leipziger Jugendparlamentes. Im Frühling 2018 stellte es einen Antrag im Stadtrat. Damit sollen vier, fünf Plätze im Stadtgebiet festgelegt werden, an denen das Veranstalten von Freiluftraves legal sei. Das Ganze solle sich – um einen bürokratischen Aufwand für die Kollektive zu vermeiden – über einen autonom agierenden Verein organisieren. „Die Kollektive, die Open Airs veranstalten, würden selbst diesen Verein betreiben“, erklärt Rechtsanwalt Jürgen Kasek. „So würden sie auch viel stärker darauf achten, dass die Regeln eingehalten werden – weil sie wissen würden, dass jeder Regelverstoß auch allen anderen zur Last fällt. Das Problem: Du wirst nie eine Regelung finden, mit der alle zufrieden sind.“

Das „gute Beispiel“ für das Konzept legaler Open Air Flächen soll hier die Nachbarstadt Halle sein: In der Stadt an der Saale gibt es seit sechs Jahren acht Flächen, an denen unter bestimmten Auflagen Open Airs gestattet sind. Allerdings berichten Menschen, die in Halle leben und feiern, dass Open Airs an diesen Orte aufgrund ihrer Bekanntheit überlaufen und vor allem bei einem sehr jungen Publikum beliebt sind – was für die Kollektive noch ein zusätzliches Problem aufwirft: Jugendschutz. Denn falls es zu einem Notfall kommt, können die Kollektive als Veranstalter*innen ebenfalls dafür belangt werden.

Aufgrund dieser Probleme finden trotz legaler Flächen auch in Halle nach wie vor viele Freiluftraves unter dem Radar der Öffentlichkeit und außerhalb jener Gebiete statt. In Leipzig wurde wiederholt der Versuch gestartet, es der Nachbarstadt gleichzumachen, unter anderem auch von Juliane Nagel im Jahr 2012 – damals scheiterte das Projekt.

Stadträtin Juliane Nagel von der Partei Die Linke.
Foto: Martin Neuhof (Herzkampf)

„Die Frage ist, ob die Stadtverwaltung ihre Position der letzten Jahre verändert hat. Und da bin ich ein bisschen skeptisch.“ – Juliane Nagel

„Die Stadträtinnen und -räte damals waren recht alt, es fiel vielen schwer, sich in die Situation hineinzuversetzen und den kulturellen Mehrwert zu verstehen – sie waren einfach noch nicht so weit, der Legalisierung einer bisher in einer Grauzone stattfindenden Praxis zuzustimmen“, resümiert die Politikerin.

Ob sie mittlerweile bessere Chancen sieht? „Der Stadtrat hat 2015 immerhin mehrheitlich entschieden, dass die Stadtverwaltung einen Antrag prüfen soll. Insofern hat der Antrag des Jugendparlaments Chancen. Die Frage ist, ob die Stadtverwaltung ihre Position der letzten Jahre verändert hat. Und da bin ich ein bisschen skeptisch.“

Mit Recht: Im März dieses Jahres hat eine erneute Anfrage des Jugendparlamentes den Stadtrat zu einem mehrheitlichen Beschluss bewegen können, wie die Leipziger Internetzeitung berichtete. Die Stadtverwaltung ist wieder einmal damit beauftragt worden, Orte im Stadtgebiet zu identifizieren, an denen legale Open Airs stattfinden können – orientiert am Beispiel Halle. Ob die Leipziger Stadtverwaltung, wie in den vergangenen Jahren, auch dieses Mal keine Flächen bereitstellen wird oder ob 2019 das Jahr der Entkriminalisierung der Open-Air-Kultur wird, bleibt fraglich.

Ein blinder Fleck im Kulturdezernat

Auch das Kulturdezernat ist Bestandteil der Stadtverwaltung. Die Funktion der Behörde ist unter anderem die politische Interessensvertretung Kulturschaffender. „Wir habe den Aufbruch, die Freiräume, eine unglaublich lebendige, junge Stadt, wo ganz viel passiert, aus sich heraus“, sagt die Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke 2017 in einem Gespräch mit dem Leipziger Stadtmagazin Kreuzer[. In Hinblick auf den mittlerweile abgeschafften Sperrstunden-Paragraph stellt sie fest, dass die Clubszene ein „ganz zentraler Grund“ dafür sei, dass sich Studierende und junge Menschen in der Stadt wohlfühlten. Clubs gehören für Jennicke anscheinend zur schützenswerten Subkultur. Open Airs hingegen werden offenbar im Dezernat Kultur nicht als Kulturgut anerkannt: Meine Interviewanfrage an die Kulturbürgermeisterin wird mit dem Hinweis abgelehnt, das Dezernat sei für dieses Thema nicht zuständig – ich solle mich an das Ordnungsamt wenden.

In dieser Hinsicht scheint es fast ironisch, dass Jennicke die Entwicklungen, deren negative Auswirkungen auch Open Airs betreffen, dem Kreuzergegenüber anerkennt: „Die Probleme mit den weniger werdenden Freiräumen sind schmerzhaft spürbar. Was den Charme von Leipzig lange ausgemacht hat, wovon auch das Image der Stadt profitiert, das schwindet.“

Höherer Aufwand, höhere Ausgaben: Legale Open Airs heute

In und um Leipzig gibt es drei Flächen, an denen Open Airs unter bestimmten Bedingungen auch heute möglich sind: am Lindenauer Hafen, am Nordstrand des Cospudener Sees und im Wilhelm-Külz-Park am Völkerschlachtdenkmal. In letzterem findet zum Beispiel seit 2017 am 1. Mai das angemeldete und damit legale Spektral-Open-Air statt. Die Gästezahlen dieses Open Airs gleichen eher einem kleinen Festival, als einem durchschnittlichen Off-Location-Open-Air – weit über tausend Besucher*innen pro Veranstaltung.

Gefeiert werden kann nicht ohne bürokratieaufwendige Anmeldung bei den Behörden und damit einhergehenden Auflagen: Musik darf in der Regel nur von 10 bis 22 Uhr laufen, GEMA-Gebühren müssen gezahlt und Lautstärkebeschränkungen eingehalten werden – ein kontrollierender Besuch von Ordnungsamt oder Polizei inklusive. Um der Ordnungswidrigkeit Wildpinkeln vorzubeugen, müssen Veranstalter*innen eines legalen Open Airs unter heutigen Bedingungen für ausreichend Dixie-Toiletten sorgen. Abgesehen vom enormen zusätzlichen finanziellen, bürokratischen und organisatorischen Aufwand muss bereits Monate im Voraus ein konkretes Datum feststehen – und dann auf gutes Wetter gehofft werden.

Das legale Spektral-Open Air im Wilhelm-Külz-Park am 1. Mai 2019.
Foto: Kathi Groll

Diese Faktoren machen ein legales Open Air für den allergrößten Teil der Open-Air-Kollektive unmöglich. Denn sie müssten nicht nur, wie auch bei einem illegalen Open Air, mehrere hundert Euro Getränkekosten und Anlagen-, Equipment- und Transportermieten vorlegen, sondern auch GEMA-, Dixie- und Behördenkosten zahlen. Zum Beispiel verlange die Stadt 50 Cent pro Besucher*in, berichtet Zwischenwelten-Mitglied Chris Manura in einem Interview mit MDR Sputnik[. Für die in der Regel ehrenamtlich arbeitenden Kollektive bliebe nur eine Möglichkeit, diesen finanziellen Aufwand zu stemmen: Eintrittsgelder zu nehmen oder die Getränkepreise massiv erhöhen.

Die damit einhergehende Kommerzialisierung der Open-Air-Kultur würde mit dem meist kaptialismuskritischen Anspruch der Crews kollidieren und Menschen, die sich einen Clubeintritt oder Getränkepreise einer Bar nicht leisten möchten oder können, von den Veranstaltungen ausschließen. Der Grundgedanke eines Open Airs, freiheitliches Feiern für alle, würde somit ad absurdum geführt.

Sind legale Open-Air-Flächen die Lösung?

Nehmen wir einmal an, dass es in naher Zukunft auch in Leipzig Flächen für legale Open Airs geben würde. Würde das die Situation verbessern? Ja, sagt Rechtsanwalt Jürgen Kasek. „Das wäre eine deutliche Entwicklung. Allerdings würden die vermutlich nicht von allen genutzt werden.“

„Leipzig wäre nie ‚Hypezig‘, das Disneyland des Unperfekten, wenn es solche Möglichkeiten nicht gäbe.“ – Jürgen Kasek

Es stellt sich eine weitere Frage: Was ist für die Umwelt verträglich? „Wenn da oft Veranstaltungen stattfinden, wäre das eine intensive Belastung – irgendwann ist der Rasen hin. Es müsste also ausreichend viele legale Flächen geben“, so Kasek.

Das ist ein essentieller Punkt: Denn eine Auswahl an Orten schont nicht nur die Natur, sondern ermöglicht weiterhin, dass die zahlreichen Kollektive Leipzigs nicht sich nicht jedes Sommerwochenende um die drei, vier einzigen legalen Spots streiten müssen. Außerdem würde es vorbeugen, dass Crews aufgrund von überlaufenen Veranstaltungen oder „totgefeierten“ Flächen wieder Open Airs in Off-Locations veranstalten.

„Eine Stadt wie Leipzig lebt davon, dass es Freiräume gibt“, sagt Kasek. „Leipzig wäre nie ‚Hypezig‘, das Disneyland des Unperfekten, wenn es solche Möglichkeiten nicht gäbe.“

„Wenn es irgendwo einen Trampelpfad gibt, ist das ein Zeichen dafür, dass ein Weg fehlt.“ – Andreas Loepki

Auch Polizeipressesprecher Andreas Loepki sieht den Bedarf an legalen Flächen: „Wenn es irgendwo einen Trampelpfad gibt, ist das ein Zeichen dafür, dass ein Weg fehlt.“ Ein Befürworter dessen scheint er dennoch nicht zu sein: Nur weil die Stadt einen Platz bereitstelle, würden die Veranstalter*innen noch immer ihre Pflichten wahrnehmen müssen.

Er unterstellt den Kollektiven ein „bewusstes Entziehen“ vor jenen Pflichten und vermutet: „Für die feierwütigen Gäste spielt das keine Rolle, so lang die Party gut verläuft. Aber wenn mal was passiert, wie Verletzungen oder ein Brand, sind das die ersten, die schreien werden wegen versicherungsrechtlicher Ansprüche. Und dann bin ich mal gespannt, auf wen die zugehen wollen.“ Konkrete Vorschläge für eine Lösung dieses Interessenskonfliktes hat er nicht.

„Zurzeit wird alles weniger“

Elena und Max vom Nebel-Kollektiv würden sich freuen, sagen sie, wenn es in Leipzig einen Wandel gäbe und die Stadt sich kooperative zeigen würde. Halle sei ein gutes Beispiel. Auch 24 Stunden vorher könne man die Veranstaltung anmelden und die ganze Nacht feiern – nicht nur von 10 bis 22 Uhr.

Max ist sich sicher, dass der Großteil der Leipziger Kollektive solche Flächen nutzen würde. In den letzten beiden Sommern wurden Open Airs wesentlich häufiger als früher und oft sehr schnell von der Polizei aufgelöst. Mit legalen Flächen müsse sich keine*r mehr Sorgen machen. Elena fasst die Situation der Open-Air-Kultur in Leipzig zusammen: „Die Tendenz ist so: Freiräume werden Stück für Stück kleiner. Spots werden totgespielt, sodass die Polizei alles auf dem Schirm hat. Zurzeit wird alles weniger.“

Foto: M. L.

Kommentar: Wie es jetzt weitergehen muss

Freund*innen der Open-Air-Kultur, vereinigt euch!

Offensichtlich muss sich etwas ändern. Und was? Darauf gibt es, wie eigentlich immer, nicht nur eine einzige Antwort. Die Stadtverwaltung muss endlich verstehen, was der Stadtrat anscheinend mittlerweile verstanden hat: Open Airs sind eine essentieller Bestandteil der Leipziger Sub- und Jugendkultur. Und genau die macht unsere Stadt so attraktiv. Verliert Leipzig durch restriktiver werdende Politik und Exekutive sein individuelles Gesicht, wird es damit glatt, aufpoliert und langweilig wie so viele andere Großstädte Deutschlands.

Was können wir, als Liebhaber*innen von guter Musik unter freiem Himmel, tun, um diesen eingerosteten Bürokratieapparat zu beschleunigen? Wir müssen die Politik, vor allem die Stadtverwaltung, dazu bewegen, endlich ihren Job zu machen. Ordnungsamt, Grünflächenamt, Gewerbeaussicht und Versammlungsbehörde müssen gemeinsam Flächen finden, an denen Open Airs gestattet sind, um die Hürden für legale Open Airs zu senken. Denn laut Rechtsanwalt Jürgen Kasek und dem Ökolöwen-Umweltbund Leipzig gibt es durchaus Orte im Stadtgebiet, die alle notwendigen Kriterien erfüllen und aufgrund ihrer Anzahl nicht permanent überlaufen wären – wie in Halle. Das Problem liegt also nicht hier.

Außerdem: Wenn die Open-Air-Kultur vonseiten der Stadt als solche anerkannt würde, könnten Kollektive zum Beispiel Kulturförderungsgelder beantragen, um so den finanziellen Aufwand zu reduzieren. Die Abschaffung der Sperrstunde in Leipziger Clubs im Sommer 2018 hat bewiesen, dass Petitionen und Demos durchaus etwas bewirken können. Warum also nicht auf diese Art aktiv werden?

Hoffnungsträgerin VAK

Hoffnung für die Entkriminalisierung der Open-Air-Kultur gibt es auch vonseiten der Anfang des Jahres frisch gegründeten Interessensvertretung VAK. Die Initiative vereint sowohl sämtliche Open-Air-Kollektive Leipzigs, als auch Kollektive, die kleine, meist inoffizielle Cafés, Bars oder Veranstaltungsräume betreiben und durch Gentrifizierung und restriktive behördliche Maßnahmen ebenfalls in ihrer Existenz bedroht werden. 

Die VAK-Mitglieder befinden sich zurzeit noch in einer frühen Findungs- und Strukturierungsphase und haben dementsprechend noch keine konkreten Ziele formuliert. Aber aufgrund geballter Motivation und Kompetenzen sind die Aussichten vielversprechend, dass die Gruppe die Interessen subkultureller Kollektive auf die Agenda der Politik setzen und langfristig eine Verbesserung der Situation erwirken kann.

Foto: Lea Schröder

Keine Einbahnstraße

Die Verantwortung liegt jedoch nicht bei der Stadt allein. Jedes Kollektiv, das Open Airs veranstaltet, muss sich seiner Verantwortung bewusst werden: Es gilt, nachhaltig zu feiern. Eine Location abseits von Naturschutz- oder Wohngebiet zu finden, ein paar Müllbeutel mehr aufhängen und die letzten Gäste zum Flaschen aufsammeln motivieren, ist durchaus möglich: Die meisten anderen Kollektive schaffen das schließlich auch.

Darüber hinaus sollte es im Interesse der Crew liegen, einen Safe Space für Gäste und Kollektivmitglieder kreieren. Das lässt sich am besten über ein Awareness-Team umsetzen, das für das Wohlbefinden aller Anwesenden sorgt. Ist ein solches Awareness-Team auf dem Gelände unterwegs, kann Menschen im Fall von übergriffigem Verhalten oder sexistischen, rassistischen, antisemitischen oder anderweitig diskriminierenden Beleidigungen geholfen werden. Darüber hinaus wird Alkohol- und Drogennotfällen vorgebeugt, denn Betroffene werden rechtzeitig entdeckt und mit Wasser, Obst oder Magnesiumtabletten versorgt. Falls es ernst ist, muss eben ein Krankenwagen gerufen werden – lieber überreagieren, als bewusst oder unbewusst Hilfe unterlassen.

Just a little bit respect

Dasselbe gilt auch für die Gäste: Open Airs sind kostenlos, Getränke günstig – gebt den Kollektiven, die wochenlang Kraft und Mühe investiert haben, etwas zurück und behandelt all diejenigen, die Seite an Seite mit euch tanzen, respektvoll – genau wie die Natur, die euch umgibt.

Denn letztlich sieht es doch so aus:  Wer nach einer durchtanzten Nacht Kippenstummel, Scherben und Plastikmüll achtlos im Gras zurücklässt, gefährdet nicht nur die Umwelt, sondern wirft auch ein schlechtes Licht auf andere Kollektive und die gesamte Open-Air-Kultur. Und riskiert, dass die Stadt Open Airs niemals entkriminalisieren und als kulturellen Bestandteil Leipzigs anerkennen wird. Also feiert weiter – mit Respekt und Verantwortungsbewusstsein.

FEUERTANZ – TEIL I: RISKANTE RAVES IM GRÜNEN

FEUERTANZ – TEIL II: DER PERFEKTE SPOT UND DISKUSSION IM PLANUNGS-PLENUM

FEUERTANZ – TEIL III: BAUSTELLENAMBIENTE, INVESTITIONEN UND POLIZEI-PRÄVENTION

FEUERTANZ – TEIL IV: GEDANKEN VON BESUCHER*INNEN & ENTWICKLUNGEN DER LETZTEN JAHRE

FEUERTANZ – TEIL V: ZU FRÜH GEFREUT – AUFTRITT POLIZEI

FEUERTANZ – TEIL VI: GESETZE VERSUS RECHTE

FEUERTANZ – TEIL VII: KEINE ZUKUNFT IN DER GEGENWART

Balance Club / Culture Festival 2019 – 2nd Edition

Das Balance ist überall – in der taz, bei das Filter, Facebook und der Groove – das Festival ist omnipräsent in der Szene. Wer es nicht kannte, der*die kennt es jetzt. Wir haben uns mit vier Vertreter*innen des Organisationsteams getroffen, um über so manche Lehre aus dem ersten Jahr, das diesjährige Konzept und das anstehende Festivalprogramm zu sprechen. 

Bigger, better, Balance: Mehr Personal, mehr Acts, mehr Programm

Unsere Interviewpartner*innen Anna Jehle (Kunst/Installation), Sarah Ulrich (Diskursprogamm), Jonas Holfeld (Booking) und Anja Kaiser (Grafikdesign) besetzen unterschiedlichste Stellen innerhalb des Festivalteams. Trotzdem überschneiden und befruchten sich ihre Arbeitsfelder immer wieder, wie sie erzählen. Außer den vier Interviewten sind noch Franz Thiem, Kyle van Horn und Ulla Heinrich im festen Kernteam mit dabei.

Schon diese Entwicklung ist bemerkenswert – die erste Ausgabe des Balance-Festivals wurde damals von drei Kuratoren gestemmt. Das Team ist also für die zweite Runde deutlich angewachsen. Eine natürliche Entwicklung, da das Festival in seinem Programm ebenfalls enorm gewachsen ist. Es ist ausdifferenzierter, zugespitzter, aber weiterhin genreübergreifend.

 
NOTE NOTE –

Was ist Balance?

„Normen werden umgedeutet, Identitäten gebrochen, Diskurse verschärft. Musikalisch, performativ, politisch.“

Das Balance Club / Culture Festival versteht sich als Schnittstelle von Clubkultur und Gesellschaft. Durch die Verschränkung von Diskurs, Kunst und Club schafft es die Möglichkeit, Gegenkultur in seinen vielen Facetten zu erforschen und politische Debatten zu ermöglichen. Balance ist offensiv, interdisziplinär, feministisch, performativ und hybrid. Balance dekonstruiert und materialisiert. Balance lädt zur Ekstase gleichermaßen wie zur Reflexion, zum sich fallen lassen sowie zum neue Allianzen bilden.

Wie lassen sich Identitäten dekonstruieren und Normen aufbrechen? Wie können strukturelle Ungleichheiten destabilisiert werden? Welche musikalischen Manifestationen gibt es abseits des Mainstream? (…) – (u.a.) diesen Fragen widmet sich das Balance Club / Culture Festival.

Die aktuelle Edition fußt auf drei Säulen: performative Kunst, Diskurs und Musik.

Quelle: Balance.ifz.me


Kulturfestival

Schon damals titelten wir in unserem Artikel zur Premiere des Festivals in einem Absatz mit „Kulturfestival“ – dieses Jahr trifft dieser Begriff mehr denn je zu. Installation, Performances, Workshops, Tanz, Diskurs, Film-Screenings und Partys on point. 

“Dieses Jahr gibt es noch mehr Politik und Kunst!“ – Sarah

Und um nur ein bisschen Namedropping für die musikalischen Nächte zu betreiben: Helena Hauff, Juliana Huxtable, Solaris und M.E.S.H. kommen – nothing more needs to be said, right? Und gefühlt noch 100 Top-Artists (Angel-Ho, Nkisi, Sentimental Rave,…) mehr.

Artists

Wir haben die vier des Festivalteams als erstes nach ihren Top-Events gefragt, um euch einen Einblick und zwei, drei Infos zur ein oder anderen Party oder Performance zu geben. 

Sarah freut sich auf das das, was sie halb scherzhaft „Anti-Männertags-Programm“ nennt. Sie sagt: „Für mich persönlich geht es um das politische Potenzial des Festivals“. Das Programm am „Männertag“ (30.5. aka Christi Himmelfahrt) ist als feministisches Gegenprogramm und als Forum konzipiert. „Eine Sinn-Oase und ein Empowerment-Tag“ wurde dafür vom Team erarbeitet.

Das Programm am 30.5. – u. a. mit Juliana Huxtable

Eine persönliche Empfehlung von ihr sind noch zwei Tanzworkshops. Einmal von Ariclenes Garcia (House of Melody), der einen Voguing-Kursfür Einsteiger*innen geben wird und Isis (Watch mi step) Booty-Workshop. Letzterer wird über die Maßen sexy und empowernd, verspricht sie.

Perspektiven und Positionen im Container 

Anna Jehle, Kuratorin des diesjährigen künstlerischen Programms der Balance, stellt die Installation im Festivalzentrum in den Mittelpunkt. Das Festivalzentrum in der Galerie KUB wird der sogenannte Container für alle darin stattfindenden Events sein. Hier entsteht eine Installation namens Convolution des Künstler*innenkollektivs SEXES.

29.5. / 19 Uhr / Eröffnung im Festivalzentrum / Musik von Dorothy Parker / Choreographie von Francisco Baños Diaz / Performer*innen: Natasa Dudar, Luke Francis, Yan Leiva, Lou Thabart

Die Performance von SEXES (and friends) am Eröffnungstag wird beispielsweise inmitten dieser Installation stattfinden, genau wie einige andere Events.

Auf ein Event abseits des Festivalzentrums freut sich Jonas am meisten: den Closingabend in der Pracht am Sonntag. Er sagt: „Dieser Abend entfernt sich musikalisch wahrscheinlich am weitesten von klassischer Club-Musik und gibt eher experimenteller elektronischer Musik einen Rahmen, die sich auf abstraktere, innovative Sounds konzentriert.“

Die Künstler*innen an diesem Abend sind Obsequies, sinosc, Shō und Corazón de Robota. Constanza Piña (aka Corazón de Robota) hält am Freitag (vor ihrem Live-Set am Sonntag) einen Vortrag zum Thema Techfeminist*innen in Lateinamerika und wie sie sich sichere(re) Räume frei von sexistischer Gewalt erschaffen. 

Constanza Piña (aka Corazón de Robota) spielt am 2.6. live in der Pracht.

Auf Juliana Huxtable und Koschka Linkerhand ist Anja am meisten gespannt. Juliana Huxtable wurde als eine der ersten Headliner bekannt gegeben – sie wird nicht nur zur Eröffnung am 29.05. (also gleich Mittwoch, der nächste Tag ist frei) auflegen, sondern auch an besagtem Donnerstag eine Lecture namens „Post“ halten. Huxtable ist „the iconic artist“ of our time, kann man sagen. Sie ist Musikerin, Schriftstellerin, Performerin, DJ. Ganz sicher eine der Künstler*innen, die wir auf keinen Fall verpassen sollten. Auch die Leipzigerin Koschka Linkerhand wird am Samstag einen Vortrag zum Thema „Die Frau als politisches Subjekt“ halten. „Und die Live-Performance von Angel-Ho ist mir noch wichtig – das hat uns Kyle von der ‚Traumabar und Kino‘ ermöglicht“, ergänzt sie.  

Angel-Ho wird am 1.6. live im UT Connewitz performen.

2nd Edition: Hybride 

Bei der nun zweiten Edition der Balance treffen nachweislich verschiedenste Perspektiven, Expertisen und Positionen aufeinander, die trotzdem mäandrisch verbunden sind. So sollen sich Synergie-Effekte entfalten und beim Publikum ankommen. Anna erklärt das näher: „Es werden Hybride geschaffen. Manche denken vielleicht, ein Clubevent, sei nicht so bildend wie ein Panel oder eine Ausstellung. Das stimmt aber einfach nicht. Es sind jeweils andere Erfahrungen, andere Abläufe und vor allem eine andere Sprache“, was nicht gegeneinander aufgewiegelt oder in eine hierarchische Kette gebracht werden kann. 

Wenn die Idee des Teams aufgeht, werden Besucher*innen eines Workshops, eines Screenings oder eines Diskurspanels anschließend ungeplant (doch_noch) zur Party abtauchen – und umgekehrt. 

„Erfolg misst sich nicht nur an der Besucher*innenzahl“ – Anna

Die Zielgruppe so zu erweitern, das war beispielsweise eine der Erfahrungen, die das letzte Jahr mitbrachte. Ein paar der letztjährigen Veranstaltungen waren nicht wirklich ausverkauft. Das erste Festival war aber keinesfalls ein schlechter Start, sagen sie. „Dass zu einem neuen Festival mit noch ganz neuem Konzept nicht Tausende Leute kommen, ist klar – und das ist auch nicht schlimm“, sagt Sarah. Es war und ist mehr ein Learning-by-doing-Prozess, bei dem man unter anderem festgestellt hat, gerade für Leipzig mehr Perspektiven einbinden zu müssen und zu wollen.

29.5.-2.6.2019

Netzwerke schaffen

Die Organisator*innen, in diesem Falle besonders Ulla Heinrich, die für das Social Media und die Presse zuständig ist (Grüße an dieser Stelle!), arbeiten – und das klang schon zur ersten Balance an – daran, Netzwerke zwischen lokalen und internationalen Künstler*innen zu schaffen. 

Menschen zusammenzubringen, die sich seit Jahren genau mit den Themen rund um das Potenzial von feministischer Clubkultur und -politik beschäftigen, ob in Leipzig oder Mexiko, ist eines der Ziele der Balance. Und genau das haben sie teilweise in der Vorbereitung bereits geschafft.

Schlussformel

Das Balance Club / Culture – Festival macht viel, kann viel und ist schon jetzt ein viel beachtetes Festival. Das Programm wird in den Besuchenden Fragen und Antworten hervorrufen und damit zu einer Erfahrung werden, die über den reinen Genuss von Musik oder Tanz hinausgeht. Dafür sprechen das Programm und der persönliche Einsatz der Mitwirkenden.

Das Balance-Team ist über die Zeit nahezu zusammengewachsen, was schon ziemlich besonders ist und sich gerade deshalb auch auf die gesamte Kuration des Festivals überträgt, auswirkt und dem Balance eine vielseitige, dennoch eindeutige Handschrift verleiht. Zwischen ihnen ergaben sich jetzt schon so viele neue Themenfelder, die es zu bearbeiten gilt, dass sie im Hinterkopf schon Ideen für die dritte Edition des Festivals haben. 

Als Medienpartner*in des Festivals sind wir mindestens auch ein kleines bisschen co-aufgeregt und freuen uns auf Events voller Musik, People, Input, Tanzen (selbstverständlich auch jenseits der Tanz-Workshops) und Netzwerken. Und noch ganz wichtig: Um das Festival mitzuerleben, müssen wir nicht nach Berlin fahren oder ins Ausland fliegen – das Alles findet wirklich hier bei uns in Leipzig statt. Eigentlich kaum zu glauben. 


Das komplette Festival-Programm lest ihr hier
Tickets, für alle Unspontanen wie mich, gibt es bei TixforGigs
Alle Events auf einen Blick bei Facebook.

Jubiläum, Jubiläum: Riotvan

Riotvan ist seit sieben Jahren als Label (nicht nur) in Leipzig bekannt. Die gleichnamige Partyreihe gibt es schon ein Stückchen länger, nämlich eben die 13 Jahre, die nun in einer ganzen Jubiläumswoche gefeiert werden.

Warum gerade jetzt so groß und ausgiebig gefeiert wird, mit der Unglückszahl 13 im Banner? „Es hat sich dieses Jahr einfach richtig angefühlt. Wir wollen das Ganze als Danke an all unsere Wegbegleiter*innen aufziehen und unser Jubiläum richtig zelebrieren“, erklären die beiden.

Family Affair

Eine Hommage an die Anfänge also, bei denen die Riotvan-Partys noch als Indie-Partys durchgingen, Markus‘ Oma für all die helfenden Hands im Backstage Kuchen gebacken und Brötchen geschmiert hat und seine Mama Long-Papes für alle Künstler*innen aus ihrer Tankstelle mitbrachte. 

Riotvan 2010 im Westwerk
Foto: Nora Heinisch

Bei der Frage, welches die wichtigsten, schönsten, besten Erlebnisse während der letzten 13 Jahre waren, überlegen Robert und Markus nicht lange und einigen sich auf zwei Punkte. Gut, Punkt eins umfasst einfach mal die ersten vier Jahre, also die ersten vier Partys – die offenbar wirklich verrückt waren. 

Von der allerersten Party im Werk 2 (in Halle D, um genau zu sein) ging es zunächst in die Distillery. 

Dort stellten sich manche, außer dem damaligen Booker Marcel Baer, die Frage. „Was wollen die in der Tille mit einer Indie-Party?!“, erinnert sich Markus. Aber die Gäste mochten es. Sogar sehr. 

Eine Mischung aus Indie, Rock und Techno machten die Partys angesagt und interessant. Peaches, Mr. Oizo, Mano Le Tough, Keinemusik, Cinthie oder Bonaparte (kannte damals eben noch nicht jede*r) standen beispielsweise im Line-Up. Dazu noch gutes Flair, eine Symbiose von unterschiedlichsten Menschen und ein 3. Floor auf der Toilette. So waren die Riotvan-Partys in der Tille. 

Mehr ist mehr

Irgendwann wurde aus der jährlichen Party-Edition dann mehr. Markus bezog mit der Party-Reihe damalige Off-Locations, die wir heute als On- bzw. In-Locations kennen: Westwerk, Spinnerei, Villa Hasenholz, Kunstkraftwerk… „Das hat die Clubkultur früher noch viel mehr zugelassen als heute“, sagt er. Mittlerweile finden die Riotvan-Raves regelmäßig im Institut fuer Zukunft statt. 

So, und dann – Punkt zwei – kam die Label-Gründung itself. Das war 2012, als Markus, seine Freundin Linda, Michael aka Mikesh und Flo mit ihrer Band ‚Here Is Why‘ mehrere Verträge verschiedener Plattenfirmen angeboten bekamen. „Da hätte man jeweils auch beim Teufel unterschreiben können“, lacht Markus und drückt seine Zigarette aus.

Gerade der Zusammenschluss von Mikesh und Markus ebnete den Weg für das Label. Er erzählt dazu: „Die Idee ein Label zu gründen gab es zwar schon vorher mal, aber erst durch unser Album wurde es spruchreif.“

Katalognummer #17

Warum nicht einfach selbst die Platte rausbringen? Damit war das Label Riotvan geboren. Also so halb. Denn es brauchte noch zwei Jahre bis Robert aka Panthera Krause dazukam und blieb. 

Und jetzt? Seit Kurzem gibt es ein richtiges Headquarter im Westen der Stadt. Die Zeiten, in denen sich die zwei in Cafés und Bars trafen, sind vorbei. „Da blieb auch immer die Hälfte liegen“, lachen beide. 

Genki Girl EP von Panthera Krause

Die EP ‚Genki Girl‘ von Panthera Krause ist die 17. Katalognummer und erscheint pünktlich zum 13. Jubiläum. Schickes Studio haben sie auch noch. Klingt alles fast ein bisschen zu glatt, oder?

„Es gab auch ganz andere Zeiten. Das sah nur von Außen nicht immer danach aus“, sagt Robert. „Der enorme Support unserer Wegbegleiter*innen hat das eben ermöglicht, dass es doch immer weiterging. Es ist wirklich an der Zeit, denen mal Danke zu sagen“, vollendet Markus den Satz.

„Die Vision hat uns und das Label manchmal schon am Leben gehalten“

erzählen sie weiter. Das Label-Boss-Life ist eben nicht nur Party und Gästeliste, Sekt und Pulver auf dem Spiegel. Manche glauben das wirklich. Bei den allermeisten Musiker*innen, DJs und Label-Betreiber*innen ist eher das Gegenteil der Fall. 

Der Wunsch der beiden, was die persönliche und auch die Zukunft des Labels angeht, ist folglich:

„Einfach mit dem, was wir hier machen, über die Runden kommen. Und weiterhin die Leute um uns herum mit unserer Musik mitreißen.“

Riotvan Headquarter
Fotos/Scan: Nastassja von der Weiden

Auf die nächsten 156 Monate

Jetzt aber nochmal zum Geburtstag. Nein, pardon, zur Geburtstagswoche! Es wird ein Wiedersehen mit alten und neuen Unterstützer*innen, Riotvan-Fans, Freund*innen, Mentor*innen… und neuen Gesichtern geben.

Von Ausstellung, Radioshow bis Party wird es eine Woche lang unterschiedlichste Events geben – und Überraschungen! Überraschungen wären keine Überraschungen, würde ich euch jetzt erzählen, welche es sind… aber so viel darf verraten werden: Zwei Protagonisten der Leipziger Musikszene feiern ihre Re-Union auf einem der Geburtstagsevents.

Und vielleicht rollt ja der Riot-VAN, live und physisch, nach 13 Jahren über die Straße? Genau wissen werden es all diejenigen, die zur Party kommen.

Am 25. Mai im IfZ: 156 Monate Riotvan



FEUERTANZ – Teil VI: Gesetze versus Rechte

Perspektivwechsel: Welche Strategien die Polizei beim Auflösen eines Open Airs anwendet und welche Erfahrungen die Beamt*innen mit Gästen und Kollektiven machen. Außerdem: Tipps von Rechtsanwalt Jürgen Kasek – wie Veranstalter*innen im Fall der Fälle ihre Strafe reduzieren können.

„Jeder war schon mal betroffen“

Die Angst vor einem möglichen Erscheinen der Polizei schwebt wie eine dunkle Wolke über jedem Open Air – die Perspektive von Kollektiven und Gästen auf die Beamt*innen ist klar. Es reicht jedoch nicht aus, nur deren Blickwinkel zu beleuchten. Was denkt die Polizei über diejenigen, die in Wäldern und auf Wiesen tanzen und dabei gegen etliche Gesetze verstoßen?

Andreas Loepki ist der Pressesprecher der Polizeidirektion Leipzig. Außerdem leitet er das Direktionsbüro im Peterssteinweg – hier treffen wir uns. Er ist ein großer Mann Anfang vierzig, seine Haltung gerade. Er lächelt und wirkt gleichzeitig reserviert. Loepki scheint sich seiner Autorität bewusst zu sein.

„Ich glaube, jeder Leipziger und jeder im Speckgürtel von Leipzig war schon mal von illegalen Open Airs betroffen, weil er es nachts am Freitag oder Samstag hat hämmern hören und schlecht oder gar nicht schlafen konnte.“ Loepki schätzt, dass jede Woche mindestens ein bis zwei Veranstaltungen stattfinden. Das Thema beschäftige die Polizei im Sommer jedes Wochenende. Meistens erfahre sie über den Notruf von den Veranstaltungen. „Leute, die am Wochenende oder im Schichtbetrieb arbeiten müssen, sind besonders genervt und informieren uns.“ Manchmal würden es die Beamt*innen auch selbst feststellen, wenn „die Musik durchs ganze Stadtgebiet hallt“, so Loepki.

„Manchmal ist die Sache relativ einfach: Ein gezogenes Stromkabel, eine sichergestellte Musikanlage und eingezogene Getränke können Wunder wirken.“ – Andreas Loepki

Nach dem „Wo-kommt-der-Bass-her“-Suchspiel, das oft auch Feiermotiverte auf der Suche nach dem Open Air ihrer Wahl spielen müssen, versuchen die Polizist*innen vor Ort zunächst, eine Ansprechperson auszumachen: DJs, diejenigen hinter der Bar oder Menschen, die sich als Veranstalter*innen zu erkennen geben. „Das ist auch für die rechtlichen Folgen relevant, die sind dann nämlich von Bußgeldern oder Strafrecht betroffen. Und sie haben die Verantwortung, dass alles ein geordnetes Ende nimmt“, erklärt Loepki. Wie gehen die Beamt*innen vor, wenn sie keine Veranstalter*in ausmachen können? „Manchmal ist die Sache relativ einfach: Ein gezogenes Stromkabel, eine sichergestellte Musikanlage und eingezogene Getränke können Wunder wirken“, sagt Loepki.

Ist das wirklich nötig, um die Crews zum Aufhören zu bewegen? „Um die Veranstaltung zu unterbinden und zu verhindern dass es an anderer Stelle in gleicher Nacht weitergeht, haben wir oft keine andere Wahl. Vor allem bei Uneinsichtigkeit des Personenkreises – und die ist offenkundig, wenn sich niemand bekannt macht.“

Hier kann die beschlagnahmte Anlage gegebenenfalls abgeholt werden:
Die Polizeidirektion am Peterssteinweg.
Foto: Lea Schröder

„Wenn jemand dem bunten Treiben ein Ende bereiten möchte, liegt es leider in der Natur des Menschen, auch mit Aggressionen zu reagieren. Das trifft dann unsere Kollegen und unsere Fahrzeuge.“ – Andreas Loepki

„Um die Veranstaltung aufzulösen, ist ein gewisses Kräfteaufgebot nötig. Die Besucher empfangen uns schließlich nicht immer mit offenen Armen, weil wir ja die ‚Spaßverderber‘ sind“, fährt Loepki fort. Die Anzahl der Einsatzkräfte sei abhängig von den Gästen – denn die seien „nicht immer friedliebend und freudesuchend, zumindest uns gegenüber“. Grund dafür seien unter Umständen auch enthemmend wirkende Substanzen wie Alkohol und Drogen. „Wenn jemand dem bunten Treiben ein Ende bereiten möchte, liegt es leider in der Natur des Menschen, auch mit Aggressionen zu reagieren. Das trifft dann unsere Kollegen und unsere Fahrzeuge.“

Mit einem Streifenwagen hunderten Leuten gegenüber zu stehen, sei nicht erfolgsversprechend: „Man weiß nicht, wie Gruppeneffekte wirken – gerade, wenn die Gruppe in der Überzahl ist und sich in der Lage fühlt, agierende Beamte zu vertreiben.“ Deshalb taucht die Polizei oft gleich mit mehreren Mannschaftswagen auf. Stolz verkündet er: „Im letzten Sommer haben wir zahlreiche Open Airs aufgelöst, jede Woche circa eins. Wir haben nun ein größeres Kräfteaufgebot haben und kooperieren noch besser mit der Stadt Leipzig.“

Berufsrisiko

„Beleidigungen und Pöbeleien sind an der Tagesordnung. Aber das ist Berufsrisiko, unsere Beamten haben ein dickes Fell“, schildert Loepki. Auch Streifenwagen seien manchmal beschädigt worden. „Es kommt vor, dass irgendwo aus dem Dunkeln Gegenstände herbeifliegen. Da wissen Sie auch nicht immer, ob der mit Flüssigkeit gefüllte Becher Bier enthält – oder etwas anderes.“

Bei den Täter*innen handelt es sich mutmaßlich in erster Linie um Gäste. Die Crews haben wahrscheinlich kein Interesse daran, aufgrund von Beamt*innenbeleidigung oder Sachbeschädigung noch härter bestraft zur werden. Bei einem Open Air auf einer freien Fläche gibt es keinen Eingang – wie also die Gäste selektieren und potentielle Aggressor*innen ausschließen? Auf dem Open Air selbst kann ein Awareness-Team helfen, das sich um das Wohlbefinden aller Gäste kümmert und bei Problemfällen interveniert. Im Vorfeld können Kollektive durch Werbung ausschließlich im nahen Bekanntenkreis zumindest ein wenig Einfluss auf das Publikum nehmen – in Zeiten von schneeballeffektartiger Kommunikation auf Social Media ist das jedoch nur bedingt möglich.

„Unwissenheit schützt vor Strafe nicht“

Loepki berichtet auch von Fällen, in denen die Veranstalter*innen „Einsicht zeigten“. Andere würden aus Unwissenheit handeln und seien sich nicht bewusst, dass sie im Naturschutzgebiet feiern, steuerrechtliche Fragen und GEMA umgehen. Für letztere hat er wenig Verständnis: „Das mag alles lustig und interessant sein, wir waren ja alle mal jung. Aber es gilt im deutschen Recht einen Grundsatz der heißt: ‚Unwissenheit schützt vor Strafe nicht‘. Im Zeitalter des Internets kann man gerade jungen Menschen zumuten, dass sie sich ein bisschen informieren, was man darf und was nicht.“

Andreas Loepki, Pressesprecher der Polizeidirektion Leipzig.
Foto: Direktionsbüro Polizei Leipzig

„Egoismus und Idiotie“

Loepki vermutet, dass Kollektive vor allem aufgrund von Bürokratie und wirtschaftlicher Gründe die Open Airs nicht anmelden: „Es ist einfacher und finanziell lukrativer, das Ganze illegal durchzuführen.“ Das unterstellt auch sein Kollege Uwe Voigt in einer schriftlichen Stellungnahme: „Die Veranstalter der illegalen Partys ‚sparen‘ sich derartige Aufwendungen, entziehen sich durch Anonymität im Schadensfall ihrer Verpflichtung/Haftung gegenüber ihren Gästen und handeln aus schlichtem Profitstreben entgegen der Normen.“

Loepki erzählt, er sei vergangenen Sommer mit seinem Hund durch einen Wald südlich von Markkleeberg spaziert und habe dort gleich mehrere Stellen entdeckt, an denen offenbar Open Airs stattgefunden hatten. „Das war gut an der Vermüllung, an Scherben, Glas- und Plastikflaschen, Kronkorken und Plastikplanen, an Vegetationsschäden und im Umkreis befindlichen Fäkalien zu erkennen.“ Da sich offenbar niemand der Verursacher*innen verantwortlich fühle, habe er dort nun selbst Stück für Stück aufgeräumt.

„Im August 2018 traf ich auf versprengte Reste von sichtlich betrunkenen oder bekifften Tänzern nebst DJ-Pult und Getränkestand. Den Anwesenden galt eine seit Wochen andauernde Dürre auch nicht als Grund, mitten im Wald kein Feuerchen zu unterhalten. Da fielen die Pkw, mit welchen in den Wald eingefahren wurde, schon kaum mehr ins Gewicht.“ Auf Loepkis Eingreifen hin sei das Open Air dann abgebrochen worden. „Wer sich so verhält, ist weder ökologisch, noch rücksichtsvoll unterwegs. Mir fallen da Begriffe wie Egoismus und Idiotie deutlich eher ein.“

Wie es richtig teuer wird

Mit welchen Konsequenzen müssen Kollektive im Fall einer Anzeige rechnen? Antworten darauf erhoffe ich mir von Jürgen Kasek. Der Mittdreißiger ist Grünen-Politiker und setzt sich als Aktivist gegen Rassismus und für Solidarität ein. Außerdem vertritt er als Rechtsanwalt auch Open-Air-Kollektive. Ich treffe ihn in seiner Kanzlei im Zentrum-West. Mit jungenhaftem Grinsen begrüßt er mich in seinem hohen, lichtdurchfluteten Altbaubüro. Er hat seine langen Locken zu einem Zopf zusammengebunden, trägt einen dunklen Anzug und ein Festivalbändchen um sein Handgelenk.

Die Konsequenzen im Falle einer Anzeige seien abhängig vom Tatbestand, erklärt er mir. Kollektive können bereits bei der Locationauswahl Fehler machen: Befindet sich ein Wohngebiet in Hörweite, können sich Anwohnerinnen beeinträchtigt fühlen – Tatbestand Nr. 1: Ruhestörender Lärm. Feiern in einem Naturschutzgebiet schadet nicht nur der Umwelt, sondern könne sogar als Straftat geahndet werden – Tatbestand Nr. 2. Zäune oder Mauern, die das Gelände umgeben, seien ein Hinweis auf ein „umfriedetes“ Privatgelände – Tatbestand Nr. 3: Landfriedensbruch. Selbst wenn all diese Gesetze nicht verletzt werden, wie zum Beispiel in einer beliebten Open-Air-Location in der Nähe der Südvorstadt, hat sich die Legislative etwas einfallen lassen, mit dem Open Airs strafrechtlich verfolgt werden können: Hier ist schlicht das Betreiben eines Generators verboten.

„Wenn jemand in Scherben tritt, machen sich die Veranstalter der fahrlässigen Körperverletzung schuldig“ – Jürgen Kasek

In der Regel habe sich das Kollektiv keine Schanklizenz für die Bar eingeholt und zahle keine Gebühren an die GEMA – auch dafür können die Mitglieder angezeigt werden. Übrigens: Wildpinkeln gelte strafrechtlich als Erregung öffentlichen Ärgernisses und werde mit einem Bußgeld geahndet. Darüber hinaus bedürfe allein das Aufbauen einer Anlage im öffentlichen Raum einer Sondernutzungsgenehmigung, denn öffentliche Plätze wie Parks dienen laut Gesetz dem Allgemeininteresse – laute Musik kommt dem offenbar nicht zugute.

Auch die Polizeiverordnung der Stadt Leipzig verbiete explizit elektronisch verstärkte Musik in öffentlichen Parkanlagen. Konsequenzen drohen jedoch auch aus versicherungsrechtlicher Perspektive: „Wenn zum Beispiel jemand in Scherben tritt, machen sich die Veranstalter der fahrlässigen Körperverletzung schuldig“, so Kasek. Sicherheitsvorkehrungen wie Verbandskasten und Feuerlöscher hinter der Bar können nicht nur im Ernstfall Leben retten, sondern geben Crew und Gästen ein Gefühl der Sicherheit und können im Fall eines Polizeibesuchs die auftretenden Beamt*innen etwas milder stimmen.

Diese Gesetzesverstöße summieren sich, sodass dem veranstaltenden Kollektiv Bußgelder bis hin zu 10.000 Euro drohen könnten, erklärt Kasek. In der Regel seien es jedoch einige hundert Euro, die die Crew aufbringen müsse.

Welche Befugnisse die Polizei hat

„Da keine Erlaubnis vorliegt, dürfen sie alles auflösen“, erklärt Kasek. Das heißt: Die Anlage muss abgebaut werden. „Die Aufgabe der Polizei ist die Unterbindung von Gefahren für öffentliche Sicherheit und Ordnung – dazu gehört auch ruhestörender Lärm.“ Wenn die anwesenden Beamt*innen zu dem Schluss kommen, dass eine Beschlagnahmung der Anlage die einzig wirksame Möglichkeit sei, das Open Air zu unterbinden, seien sie dazu befugt, die Anlage mitzunehmen. Ohne Anlage kann schließlich auch andernorts nicht weitergefeiert werden.

Gibt sich darüber hinaus niemand als Besitzer*in der Anlage zu erkennen, könne die Polizei sie ebenfalls beschlagnahmen. Kasek schlägt kurz in einem Gesetzbuch nach und erklärt dann: „Laut Polizeigesetz kann die Polizei eine Sache sicherstellen, um sie vor Verlust oder Beschädigung zu schützen – eine herrenlose Anlage könnte ja gestohlen werden.“

Rechtsanwalt und Grünen-Politiker Jürgen Kasek, 2018 bei einer Demo gegen Mietenerhöhung und Gentrifizierung in Leipzig.
Quelle: Jürgen Kasek

Wie Kollektive ihre Strafe reduzieren können

Wie können Kollektive vorgehen, um die Strafe einzuschränken, wenn die Polizei anrückt? Zunächst sollte der*die DJ hinter dem Pult verschwinden, um nicht als Veranstalter*in belangt werden zu können. Auch die Menschen hinter der Bar sollten ihren Platz verlassen. Die Musik sollte möglichst ausgeschaltet und Getränkekästen vor die Bar geräumt werden – das erweckt den Anschein, es wäre kein Barbetrieb mit Verkauf im Gange. Schichtpläne und vor allem die Kasse sollten so schnell es geht verschwinden. Wichtig ist, dass sich eine Ansprechperson für die Beamt*innen zur Verfügung stellt. Das kann durchaus eine unbeteiligte Gästin sein, die keine Veranstalter*in ist und somit von der Polizei nicht belangt werden kann.

„‚Wollen Sie das?'“ – Folgen aufzeigen

Manchmal sei es klug, die Beamt*innen dazu zu bringen, einen Schritt weiterzudenken. Kasek erzählt von der Auflösung einer illegalen Hausparty im Osten Leipzigs, bei der er selbst anwesend war: „Das komplette Haus war voll, da waren paar hundert Leute. Die Polizei stand schon mit mehreren Einsatzwagen auf der Straße. Ich habe mit den Einsatzleitern gesprochen: ‚Erstens halte ich eine Beschlagnahme der Anlage für nicht rechtmäßig, weil es nicht das mildeste Mittel ist. Sie müssen erst schauen, ob es reicht, wenn die Anlage runtergedreht wird, damit die meisten Menschen die Party verlassen. Punkt zwei: Wenn jetzt ein Hard Cut erfolgt und die Veranstaltung sofort beendet wird, haben wir hier dreihundert Leute, die frustriert in Kleingruppen durch das Viertel ziehen.‘“ Kasek macht eine Kunstpause, grinst breit und zitiert ironisch-gedehnt: „‚Wollen Sie das?‘“

Er fährt fort: „Das war keine Drohung, sondern nur ein Aufzeigen der Folgen des Handels der Polizei. Die Polizei begreift oft nicht, dass Gesetze ausgelegt werden müssen und ich das auf verschiedene Arten tun kann.“ Die Polizei solle im Falle einer Anzeige wegen ruhestörenden Lärms vielmehr – nach der Aufnahme der Daten der Veranstalter*innen – die Auflage erteilen, die Lautstärke der Anlage zu reduzieren und die Party innerhalb der nächsten Stunde zu beenden. Er prognostiziert die Reaktionen von Gästen und Veranstalter*innen: „Im Regelfall werden die Leute sagen: ‚Die Polizei war gerade so cool, wir machen das.‘“

Werde mit der Beschlagnahmung der Anlage gedroht, könne sich die Besitzer*in zu erkennen geben und mit einer einfachen Aussage zumindest für den Moment einer Anzeige vorbeugen: „Ich kenne die Veranstalter*innen nicht und möchte dazu nichts sagen. Ich muss mich nicht selbst belasten“, kann zumindest für den Moment einer Anzeige vorbeugen.

„Da muss ich nicht immer gleich hinfahren und den starken Max markieren“ – Jürgen Kasek

Außerdem gilt: Jede Maßnahme der Beamt*innen müsse verhältnismäßig sein. Es müsse immer das „mildeste Mittel“ angewandt werden, um die Lärmbelästigung der Anwohner*innen zu beseitigen. In der Regel reiche der Abbau der Anlage unter Beobachtung der Polizei aus, eine Beschlagnahmung sei oft unangebracht: „Bei ruhestörendem Lärm gibt es verschiedene Möglichkeiten für die Polizei, den Lärm zu reduzieren – da muss ich nicht immer gleich hinfahren und den starken Max markieren“, resümiert Kasek.

Der Idealfall: Die Polizei wurde nicht aufgrund einer Lärmbeschwerde gerufen, sondern ist selbst auf das Open Air aufmerksam geworden, zum Beispiel durch ungewöhnlich viele Fahrräder an der Straße. Falls die Musik zum Zeitpunkt ihres Eintreffens nicht mehr läuft, stehe Aussage gegen Aussage – vorausgesetzt die Polizist*innen haben die Musik selbst nicht gehört, so Kasek. Denn: Ruhestörender Lärm müsse im Einzelfall nachgewiesen werden.

Im letzten Teil unserer Reihe über die Leipziger Open Air-Kultur erfahrt ihr, welche Bedeutung die Stadträtin Juliane Nagel (Die Linke) Open Airs für Leipzig subkulturelle Landschaft beimisst, ob die Stadt Schritte zur Entkriminalisierung unternimmt und welche Meinungen die Akteur*innen zu festen Spots für legale Open Airs haben – ist Halle ein gutes Beispiel? Außerdem: Ein Kommentar, wieso Freund*innen der Open-Air-Kultur jetzt handeln sollten.

FEUERTANZ – TEIL I: RISKANTE RAVES IM GRÜNEN

FEUERTANZ – TEIL II: DER PERFEKTE SPOT UND DISKUSSION IM PLANUNGS-PLENUM

FEUERTANZ – TEIL III: BAUSTELLENAMBIENTE, INVESTITIONEN UND POLIZEI-PRÄVENTION

FEUERTANZ – TEIL IV: GEDANKEN VON BESUCHER*INNEN & ENTWICKLUNGEN DER LETZTEN JAHRE

FEUERTANZ – TEIL V: ZU FRÜH GEFREUT – AUFTRITT POLIZEI

FEUERTANZ – TEIL VI: GESETZE VERSUS RECHTE

FEUERTANZ – TEIL VII: KEINE ZUKUNFT IN DER GEGENWART

Foto (1): Valerie Zöllner, Foto (2): Lea Schröder, Foto (3): Direktionsbüro Polizei Leipzig, Foto (4): Jürgen Kasek.

1 Jahr Mjut: „Mit dem Rücken zur Wand kannst du nur nach vorne schauen.“

Letztes Jahr traf ich die Macher*innen des Clubs noch auf einer Baustelle, die einmal der Außenbereich des Clubs werden sollte. Eine Couch wurde nach draußen getragen, der Boden war erdig, aufgerissen und staubig. Heute, ein Jahr später, ist genau dieser Platz mit Sand aufgefüllt. Sitzgelegenheiten, mehrere Container und eine Frittenbude umrahmen den Spot. 

Zum Interview kommen Adem und Marcus. Adem ist in der Produktion und im Booking tätig. „Und du bist der Besitzer hier, richtig?“, frage ich Marcus, worauf er grinst: „Es gibt keinen Besitzer bei uns. Ich bin einer der Geschäftsführenden, ja.“ Neben dem Mjut ist er Co-Founder der Anlagenfirma Ultraschall. 

Dieses Mal setzen wir uns in den Backstage. Ein alter Kronleuchter hängt über uns, zwei Kühlschränke brummen und an den Wänden kleben Plakate vergangener Veranstaltungen. Schön hier, finde ich. Adem und Marcus sitzen mir gegenüber und sind bereit, zu erzählen – von den Schwierigkeiten des ersten Clubjahres, von personeller Umstrukturierung und ihren Plänen für die kommende Saison. 

„Ganz nett“

Der Geburtstag zum ersten Jubiläum des Clubs wurde gut beworben, fettes Line-Up, Afrodeutsche als Head-Linerin, diverse, gute Acts zierten den Time-Table. Erneut ein Line-Up nur mit FLINT* DJs und Performenden. Aber in Erinnerung ist den meisten wohl die Meldung, dass kurz vor der Feier im Mjut eingebrochen wurde. 

Türen wurden aufgebrochen, ein paar tausend Euro erbeutet. „Letztes Jahr hatten wir ein Loch im Dach, dieses Jahr hatten wir ein Loch im Safe“, resümiert Marcus den drastischen Vorboten zum 1. Geburtstag. Hoffnung, dass der Fall geklärt werde, habe er nicht. Adem und Marcus konnten den Geburtstag daher weniger genießen – zumindest nicht so, wie es wohl gewesen wäre, ohne Loch im Safe. Auf die Frage, wie denn die Party gewesen sei, antwortet Adem etwas verhalten: „Es war… ganz nett.“

Marcus erzählt, er habe gerade kürzlich das alte Interview des IfZ zu deren erstem Jahr bei frohfroh gelesen. Mit den Betreibenden des Clubs unter dem Kohlrabizirkus ist er regelmäßig im Austausch. „Uns geht’s genauso wie denen damals – das erste Jahr ist einfach schwierig“, sagt er. 

Zwar fühle es sich natürlich auch schön an, aber vor allem ernüchternd: „Die Realität trifft auf die verklärte Vorstellung dessen, was wir uns anfangs gedacht haben“, meinen die beiden und setzen nach: „Deshalb hieß unser Geburtstag auch Re:Start. Wahrscheinlich werden wir jedes Jahr wieder einen Neustart feiern.“

Die bisherige Zeit im Mjut war also voller Höhen und Tiefen. „Wir hatten Nächte, die waren musikalisch der Wahnsinn, aber finanziell eine Katastrophe – und umgekehrt. Wir haben viele Fehler während des ersten Jahres gemacht. Unsere Wahrnehmung, was die Stadt braucht und unsere Vorstellung, was wir dabei geben wollen und können, das muss mit der Realität nicht übermäßig viel zu tun haben“, meint Marcus und isst ein paar Pommes vom hauseigenen Stand.

An der Strukturfindung während der schnellen Bauphase habe es am meisten gehapert, sagen die beiden. Das wollen sie jetzt angehen beziehungsweise sie sind dabei – welche Struktur in welchem Team sinnvoll ist, wird neu erarbeitet.

Einige der Menschen, die den Club anfänglich mit aufgebaut haben, verließen das Projekt. Anfangs waren es noch um die 80 Menschen, jetzt sind 60 im Mjut aktiv. „Das Team erholt sich langsam wieder. Es kommen und gehen eben immer wieder Leute. Im Kern sind wir jetzt weniger, aber wir halten zusammen und schauen nach vorne.“

Gutes Stichwort. Der Szene-Gossip ließ die letzten Wochen vermuten, das Mjut stünde mit dem Rücken zur Wand. 

Dazu wollen sie Stellung nehmen: 

„Na ja, wenn man solchen Gerüchten glauben würde, dann hätte die Tille schon sieben Mal zugemacht und das So&So schon drei Mal wieder auf. Und ja, uns geht’s nach dem ersten Clubjahr finanziell nicht gut – wer hätte es gedacht. Aber wer mit dem Rücken zur Wand steht, der kann nur nach vorne schauen. Wir machen weiter. Man könnte auch sagen, wir fangen gerade erst an.“

„Es wird gerade alles viel klarer. Wir treffen uns schon von Beginn an regelmäßig im Plenum und planen dort unter anderem die nächsten Veranstaltungen. Die Herrensauna kommt zum Beispiel demnächst zu uns – wir richten uns neu aus und sind dabei, den Club wieder nach vorne zu arbeiten“, ergänzt Adem. 

Was das Booking angeht, komme man in Leipzig um Massenkompatibilität nicht herum, das habe sich deutlich gezeigt. „Wir müssen die Einstiegsbarriere niedriger setzen, damit Menschen angezogen werden – damit sie sich aktiver mit der Musik, die hier gespielt wird, auseinandersetzen können und wollen“, beschreibt Marcus die Situation. Neben Eigenproduktionen wie zum Beispiel der Reihe Futuro Grande oder den Residents-Partys wollen sie verstärkt Kollektive und Veranstaltungscrews in den Club holen. 

Leipzig = überdimensionales Dorf?

Das Publikum für experimentelle, eklektische Musik müsse in Leipzig noch wachsen. Das geht nicht von heute auf morgen. Sie würden jeden Tag dazulernen, wie sie ein breiteres Publikum erreichen können:

„Leipzig ist schon eher ein überdimensionales Dorf. Wir spielen mit den anderen Clubs im gleichen Sandkasten – und den wollen wir nicht aufteilen, sondern erweitern.“

Adem und Marcus sind, trotz all der Probleme, trotz des Einbruchs und dem Kommen und Gehen von Mitwirkenden, zuversichtlich, was die Zukunft des Mjuts angeht: „Wir schwimmen – aber mit dem Kopf über Wasser.“

Zwischen den Tiefphasen gab und gibt es auch immer ‚high times‘. An denen merken die Clubbetreiber*innen dann wieder, dass sich der Club gut entwickelt. So fällt das vorläufige Fazit aus.

Zum Abschluss formulieren die beiden noch ihre Wünsche für das zweite Jahr. Einmal, dass sich die Menschen wieder mehr mit dem Musikangebot beschäftigen. Und mehr Ruhe im Clubgeschäft – der ständige Rush setze ihnen schon sehr zu. 

Nach dem Gespräch gehen wir wieder raus in den Hof, der sich jetzt wie eine gut besuchte Strandbar anfühlt. Wasser sprudelt aus einer Tonne, vor der Bar hat sich eine Schlange gebildet. Eike, der zweite Teil von Ultraschall, salzt Pommes hinter der Theke, eine DJ sucht nach der nächsten Platte in ihrem Koffer.

Bald geht es wieder los mit dem Tagesgeschäft. Jetzt setzen sich die beiden noch kurz auf eine Holzbank in die Sonne und verschnaufen. 

Fällt die Fusion dieses Jahr aus?

Nach 20 Jahren erfolgreicher Zusammenarbeit hat die Polizeibehörde in Mecklenburg-Vorpommern das Sicherheitskonzept zum Fusion Festival 2019 zum ersten Mal verweigert. Ob die Veranstaltung trotzdem stattfinden kann, ist unklar. Ein Kommentar. 

Gelegentlich muss man bei frohfroh über den räumlichen Tellerrand blicken, vor allem wenn es um eine solche Angelegenheit wie die der Fusion geht. Für die, die es noch nicht mitbekommen haben: die Polizei möchte in diesem Jahr eine Wache mitten auf dem Festivalgelände einführen. Vorhersehbarerweise sind die Veranstalter*innen des Kulturkosmos e.V. damit nicht einverstanden und sehen bei dieser Streitfrage keinen möglichen Mittelweg. 

„Es geht der Polizei um die Durchsetzung ihrer Forderung nach Errichtung einer Polizeiwache mitten auf dem Festivalgelände sowie nach anlassloser, polizeilicher Bestreifung und Kontrolle“

– so kommunizieren es die Veranstalter*innen.

Viele meinen, dass die Zeichen auf Schikane deuten. In Zeiten, in denen die Kluft zwischen rechts und links immer größer wird, in Zeiten, in denen der Polizei immer wieder rechtes Sympathisieren vorgeworfen wird, wirkt diese Nachricht gar nicht mehr so überraschend. Das macht sie jedoch nicht weniger verärgernd.

Foto: Fusion

Die Veranstalter*innn haben klar gemacht, dass sie in diesem Konflikt keinen Kompromiss eingehen werden. Die Polizei wiederum hat verständigt, dass die Fusion nur stattfinden kann, wenn eine Wache errichtet und das Sicherheitskonzept erweitert wird. Es ist nun schwer vorhersehbar, wie es weitergehen wird. Das Fusion-Team hat in der Zwischenzeit einen Aufruf veröffentlicht, den ihr noch unterschreiben könnt.

Offen bleibt, wie es abgesehen von der Fusion mit polizeilicher Überwachung und Kontrolle auf subkulturellen Festivals in Zukunft weitergeht. Veranstaltungen, die für ihre Besucher*innen einen Rückzugsort aus dem Alltag bieten; Orte für Freiheit und Hedonismus.

Man kann bis dahin leider nur hoffen, dass die Unterschriften von den Entscheidungsträgern in Betracht gezogen werden und dass die Fusion trotz allem stattfinden wird.

Podium: Stirbt die Leipziger Clubkultur?

Nach den Schließungen verschiedener Clubs, Kneipen und Spätis in den letzten Monaten, insbesondere des 4rooms und So&So, ist die Diskussion um den Erhalt und Schutz von Kulturräumen in Leipzig längst kein Nischenthema mehr.

Die Debatte findet zunehmend in der Öffentlichkeit statt. Im Endeffekt dreht sie sich um die Fragen: Was passiert in der Stadt und wie wird damit umgegangen? Wer verdrängt eigentlich wen und wem gehört die Stadt? Der Begriff der Gentrifizierung, mit dem von allen Seiten um sich geworfen wird, wird immer populärer.

Zurück auf Anfang. An diesem Abend im Peter K., einer Kneipe im Leipziger Osten, wird über die Vergangenheit, Gegenwart und vor allem Zukunft der Leipziger Clubkultur gesprochen. Die sieht nach der Einschätzung verschiedener Akteur*innen der Szene nicht allzu rosig aus, auch wenn es positive Tendenzen gibt. Das Peter K. ist selbst betroffen. Dem Inhaber Marcel Viola wurde Ende März gekündigt.

Leipzig galt lange als das Paradies, die Utopie einer Stadt voller Freiräume.

Die Musik- und Alltagskultur ist längst über die Ländergrenzen hinweg bekannt. Neben einem Kommerzialisierungsdruck oder Lärmbeschwerden gibt es aber verschiedene Gründe, die zur Verdrängung von Clubs beitragen. Es werden Stimmen laut, die stärkeren Schutz seitens der Politik fordern.

Der Kreisverband des Bündnis 90 / Die Grünen lud deshalb jetzt zu einer Podiumsdiskussion ein, um unter anderem darüber zu sprechen, wie die Politik mit den Entwicklungen der letzten Jahre umgehen kann oder will.

Es sprechen Politiker*innen von der Linken, Grünen und FDP, aber auch ein Wissenschaftler, der zur Stadtentwicklung forscht sowie Steffen Kache, einer der Mitgründer der Distillery. Letztlich kommt es dabei allerdings zu tiefgreifenderen Streitigkeiten darüber, welche Rolle Clubs, Kneipen und alternative Räume überhaupt in einer Gesellschaft spielen.

Man ist sich größtenteils zumindest darüber einig, dass die freie Szene in Leipzig eine tragende Rolle spielt, dass sie Leipzig zu einer lebendigen und lebenswerten Stadt macht. René Hobusch spricht in bester FDP-Manier jedoch von mehr Eigenverantwortung der Kulturräume und versteht diese in erster Linie als Wirtschaftsfaktor. Die Risiken, die damit einhergehen, müssten von den Betreiber*innen getragen werden.

Es verwundert wenig: Seine Fraktion hat im Stadtrat Senkungen der Ausgaben für Kultur um 10 Millionen Euro gefordert. Wo die Grenze zwischen schützenswerter und alleinstehender Kultureinrichtung verlaufen soll, wird jedoch nicht klar.

Die Linke und die Grünen sind hingegen der Meinung, dass Clubs deutlich wichtigere Funktionen haben. Sie sind sozio-kulturelle Treffpunkte, wo Herkunft, Aussehen und soziale Zugehörigkeit keine Rolle spielen. Die Musik verbindet.

Anders als die Hochkultur, haben alternative und subkulturelle Projekte viel häufiger eine integrierende Funktion, ermöglichen Teilhabe und Vielfalt.

Elisa Gerbsch von der Linken betont, dass diese Orte immer auch politisieren, sei es nun der düstere Technoclub oder die Kneipe in der Nachbarschaft. Und für die Geschäftsführer*innen steht in erster Linie die Leidenschaft im Vordergrund, nicht die Aussicht auf Profite. Da ist sich Steffen Kache sicher.

Wie so häufig bleiben viele Fragen offen – niemand weiß, ob die Stadt in Zukunft mit Investor*innen und Immobilienunternehmen wie der CG-Gruppe anders umgehen wird.

In der Vergangenheit zeigte sich jedoch bereits, dass in deren Pläne häufig kein Platz für junge Kultur oder lange Nächte ist.

Kache ist zumindest optimistisch, mehr zu erreichen, wenn man gemeinsam und solidarisch kämpft. Und am 26. Mai Unterstützer*innen in den Leipziger Stadtrat wählt.

Foto (1) von Lucia Baumann

FEUERTANZ – Teil V: Zu früh gefreut – Auftritt Polizei


Crew und Gäste kratzen die verbliebenen Reserven zusammen, steuern noch ein letztes Mal auf den Dancefloor, öffnen ihr erstes Konter-Bier… Wie ein Open Air schneller vorbei sein kann, als gedacht, ob der Notfallplan beim Besuch der Polizei aufgeht und welches Fazit die Crew aus dem ganzen Spektakel zieht, lest ihr hier.

Das letzte bisschen Energie

Irgendwann am Vormittag. Südlich von Leipzig.

Ich habe mittlerweile jegliches Zeitgefühl verloren. Der Akku meines Handys ist seit einigen Stunden leer. Die Sonne steht recht hoch am wolkenlosen Himmel und brennt uns in den Nacken – es muss also schon fast Mittag sein. Mittlerweile stehen nur noch ungefähr zwanzig Leute auf dem großen Floor zwischen den Hügeln. Neben den Leuten von Nebel, Helfer*innen und Gästen sind noch ein paar Leute von einer anderen Leipziger Crew aufgetaucht. Sie haben ihr Open Air am Nachmittag gestartet, haben am frühen Morgen aufgehört und sind noch immer motiviert zum Nebel-Open Air dazu gestoßen.

Foto von Lea Schröder

Auf der Tanzfläche ist trotz der fortgeschrittenen Stunde von Erschöpfung nichts zu spüren: Die Leute in den ersten Reihen wiegen sich noch immer Schulter an Schulter zu den flirrenden Synthies und brachialen Basslines. Andere sitzen am Rand der Tanzfläche, im Schatten der Bäume und genießen den Anblick der ekstatisch Tanzenden.

Die Anlage ist voll aufgedreht. Der DJ, der gerade hinter den Turntables steht, trägt einen für das Wetter viel zu dicken Wollpulli und verbirgt seine müden Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille. Ohne eine Regung in seinem Gesicht erkennen zu lassen, wippt er sachte im Takt. Mit seinem mitreißenden Sound gelingt es ihm, das letzte bisschen Energie aus den von den Strapazen der letzten Stunden geschwächten Körpern herauszukitzeln.

Foto von Anonym

Das Erwachen

Abrupt verstummt die Musik. Verdutzte Gesichter auf der Tanzfläche, auch der DJ blickt verwirrt auf. Was ist passiert? Schnell klärt sich die Lage: Das seit Stunden kontinuierliche Brummen des Generators ist verstummt. Das Benzin ist aufgebraucht. Die auf der Tanzfläche Verbliebenen sind sichtlich enttäuscht. Eben noch in der Musik versunken und jetzt zurück in der Realität – wie aus einem Traum gerissen.

Ein paar Leute von Nebelbeginnen, mit riesigen Müllsäcken ausgestattet, Flaschen, Zigarettenstummel und anderen Müll einzusammeln. Elena drückt mir auch einen in die Hand. „Ich bin froh, dass wir Mülleimer und Aschenbecher aufgestellt hatten. Das spart uns jetzt einiges an Arbeit. Aber den ganzen übrigen Müll heben wir bis auf den letzten Kronkorken auf. Soll ja am Ende alles schön besenrein sein.“ Sie grinst verschmitzt und setzt ihren Weg über die Wiese fort.

Diesen Tatendrang verspüren offensichtlich nicht alle. Stattdessen hat sich bei vielen Afterhour-Stimmung breitgemacht: In kleinen Grüppchen sitzen und liegen sie auf der Wiese, rauchen die letzte Zigarette, trinken einen großen Schluck Wasser oder ein Konter-Bier, versuchen die Erlebnisse der vergangenen Nacht zu verarbeiten. Aufstehen wollen sie nicht so richtig – nachvollziehbar, nach so vielen Stunden Tanzen.

Die Nebel-Leute haben jetzt noch einiges vor sich: Bar und DJ-Pulte müssen auseinandergeschraubt, CDs und Neon-Fäden aus den Bäumen genommen und die Anlage auseinandergebaut werden. Und dann natürlich alles zusammen mit den Getränke-Kästen zurück in die Transporter.

Ich bin gerade dabei, mich mit einem Akkuschrauber abzumühen, um den Bartresen von den Paletten zu trennen. Max ist neben mir zugange. Sein Handy klingelt, er nimmt ab. Er runzelt kritisch die Stirn und hört zu. Als er auflegt, sagt er nur: „Die Polizei ist da.“ 

Foto von Lea Schröder

„Wer ist hierfür verantwortlich?“

Auf den Gesichtern der Umstehenden breitet sich eine Mischung aus Verwunderung, Sorge und Frustration aus. Das Open Air lief über zwölf Stunden, wieso kommen sie erst jetzt? Und vor allem: Wie geht es weiter?

Den warnenden Anruf hat Max von einem der Fahrer*innen bekommen. Er wollte gerade auf den Forstweg einbiegen, als er von Beamt*innen aufgehalten wurde. Sie sind also noch nicht ganz am Spot angekommen, aber auf dem Weg zu uns.

Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht auf dem ganzen Open-Air-Gelände, unter den Crew-Mitgliedern und noch verbliebenen Gästen. Plötzlich sprintet ein kleiner Mann mit dunklem Vollbart und glitzernden Wangen an mir vorbei. „Ich hab keinen Ausweis dabei!“, kreischt er leicht panisch und verschwindet in den Büschen zwischen den Hügeln. Auch zwei, drei andere nutzen die wenige verbleibende Zeit, um sich unauffällig aus dem Staub zu machen. Egal was jetzt passiert, es wird auf jeden Fall stressig und unangenehm für alle Beteiligten. Darauf haben manche offensichtlich keine Lust.

„Wieso zum Teufel kommen Sie erst jetzt und nerven uns?“  – Besucherin

„He, Sie da, kommen Sie mal bitte hier her!“, bellt eine tiefe Männerstimme in harschem Befehlston. Ich drehe mich um. Vor mir steht ein Polizist. Am Gürtel seiner schwarzen Einsatzmontur trägt er Schusswaffe und Schlagstock. Anstandslos folge ich ihm, gemeinsam mit ein paar anderen trotten wir den Trampelpfad entlang in Richtung des großen Floors. Hier sind alle versammelt, Gäste wie Kollektiv-Mitglieder sitzen in kleinen Grüppchen auf der Wiese und warten ab.

Eine junge Frau diskutiert gerade aufgebracht mit zwei Polizisten. Die verziehen keine Miene, während die Frau auf sie einredet. „Die Musik ist doch aus, es wurde grade abgebaut, wieso zum Teufel kommen Sie jetzt her und nerven uns?“, fragt sie leicht aggressiv. Einer der beiden Männer antwortet in gelassenem Tonfall. „Wir haben bereits in der Nacht verschiedene Beschwerden wegen ruhestörenden Lärms erhalten. In der Nähe ist ein Campingplatz, die Gäste konnten nicht schlafen. Dem Betreiber ist durch Ihre Veranstaltung ein finanzieller Schaden entstanden, weil manche Gäste nicht zahlen wollen.“

Ein Campingplatz also. Bei der Auswahl des Spots haben die Leute von Nebelnur auf die Entfernung zum Dorf geachtet – an einen Campingplatz hat niemand gedacht. „Und wieso sind Sie dann jetzt erst gekommen, wo’s eh wieder vorbei ist, und nicht schon in der Nacht?“, fragt die Frau mit Nachdruck. „Wir hatten Besseres zu tun“, antwortet der Polizist trocken. „Hier liegen offensichtlich verschiedene Tatbestände vor, neben dem ruhestörenden Lärm ist das hier auch ein Privatgelände. Wir müssen die Veranstalter zur Verantwortung ziehen.“ Mit lauter Stimme richtet er sich an alle Anwesenden: „Wer hat diese Veranstaltung organisiert? Wer ist hierfür verantwortlich?“

Foto von Lea Schröder

„Dann beschlagnahmen wir jetzt die Anlage. Punkt.“  – Polizist

Wie am Abend zuvor vereinbart, bleibt es still. Niemand aus dem Kollektiv möchte sich opfern, die Verantwortung übernehmen und damit Anzeige und Geldstrafe riskieren. Der eben noch gelassene Polizist wird jetzt etwas ungehaltener: „Wenn niemand die Verantwortung übernimmt, dann beschlagnahmen wir jetzt die Anlage. Punkt.“

Till steht auf und geht auf den Polizisten zu. „Die Veranstalter sind schon alle weg. Wir wissen nicht, wer genau für das Open Air verantwortlich war. Wir wollten nur beim Abbau helfen“, erklärt er ruhig. Sichtlich genervt entgegnet der Polizist:  „So läuft das nicht. Irgendwer muss ja noch hier sein, die Anlage und Technik würde ja wohl kaum allein im Wald zurückbleiben. Dann nehmen wir eben die Personalien von allen Anwesenden auf.“

Die Leute murren, vereinzelt erhebt sich eine Stimme und ruft etwas von „Polizeistaat“, „Anwalt“ und „ungerechtfertigt“. Sonst bleibt es aber ruhig, auf eine richtige Diskussion hat niemand Lust. Zwei der Polizisten bauen sich am Rand der Wiese auf, auf der vor wenigen Stunden noch vergnügt gefeiert wurde. Sie scheinen die Anwesenden zu bewachen.

Eine Polizistin mit blondem Pferdeschwanz und ernstem Gesichtsausdruck läuft zusammen mit einem anderen Beamten über die Wiese. Sie gehen von Gruppe zu Gruppe, lassen sich von allen die Ausweise reichen, tippen die Daten in einen kleinen Laptop ein und überprüfen die Leute. Läge bei einer Person zum Beispiel ein Eintrag wegen des Besitzes oder Konsums von Betäubungsmitteln vor, dürften die Polizist*innen die entsprechende Person aufgrund eines begründeten Verdachts genau durchsuchen. 

Anscheinend ist das bei niemandem der Fall, der Rundgang der beiden Beamt*innen verläuft weitgehend reibungslos.

Foto von Lea Schröder

Nur in der Gruppe neben den beiden Polizisten, die den Zugang zur Tanzfläche bewachen, werden drei Typen immer lauter und hitziger. Sie wollen sich weigern, ihre Personalien anzugeben. Die Polizisten stehen allerdings weiterhin breitbeinig da, mit verschränkten Armen und ungerührtem Gesichtsausdruck. Sie lassen sich nur halbherzig auf die Diskussion ein – ob aufgrund fehlender Argumente oder dem Unwillen, ein Gespräch zu führen, erschließt sich nicht. Fast schon gelangweilt wirken die beiden. Vielleicht haben sie auch einfach keine Lust, an solch einem sonnigen Tag irgendwo in der Pampa rumzuhängen und einer Horde junger Leute auf die Nerven zu gehen, und würden stattdessen viel lieber an den See fahren, Eis essen oder vielleicht sogar selbst auf irgendeiner Wiese tanzen.

Nach circa eineinhalb Stunden des Wartens und Diskutierens ist die Prozedur geschafft. Till ist es gelungen, die Beamt*innen davon zu überzeugen, dass jetzt einfach nur friedlich abgebaut wird und eine Beschlagnahmung der Anlage eine zu strenge Maßnahme sei.

Am Rand der Wiese erscheint ein kleiner, grauer Mann. Scheinbar etwas mitleidig den gescholtenen Raver*innen gegenüber und sich sichtlich unwohl fühlend, lächelt er verlegen in seinen Bart hinein. Er sei der Förster, der für das Gelände verantwortlich ist. Er hätte die Situation gern anders gelöst, sagt er, aber das Gelände sei eben nicht für solche Veranstaltungen gedacht und die Spuren seien unübersehbar. Er wolle nun sichergehen, dass alles abgebaut und aufgeräumt werde.

Damit die Beamt*innen nicht unverrichteter Dinge wieder abziehen müssen, fotografieren sie die Kennzeichen der gemieteten Transporter, um zumindest die Fahrer*innen belangen zu können. Ob wir alle bald einen Brief von der Polizeidirektion Leipzig im Briefkasten vorfinden werden, weiß niemand so richtig. Wenn die Fahrer*innen eine Geldstrafe erhalten, wird die Summe aus der Kollektiv-Kasse gezahlt, erklärt mir Max.

Laufmaschen und plattgedrücktes Gras

Wir fahren mit dem Abbau fort, sammeln, schrauben, schleppen – alles unter dem kritischen Blick der Beamt*innen. Viele Gäste haben keine Lust mehr und machen sich auf den Weg nachhause – unter die Dusche, zu einer Afterhour oder direkt ins Bett. Die Anwesenheit der Polizei und die Müdigkeit drückt auch auf die Stimmung der Crew. Als der Abbau endlich geschafft ist, verlassen die Polizist*innen grußlos das Gelände.

„Die machen ja auch nur ihren Job.“  – Max

Bevor Max, Elena und ich uns auf den jetzt endlos scheinenden Heimweg machen, setzen wir uns kurz in den Schatten. Wir kratzen die letzten Tabakreste zusammen – „Hast du noch was? Meiner ist leer“ „Bisschen Krümeltabak, nimm dir. Hast du noch Papes?“ –  fummeln die letzten Filter aus der Tüte und drehen unsere letzte Zigarette. Dabei rekonstruieren wir die Ereignisse der vergangenen Stunden.

„Ich find es einfach so krass, was alles in einer Nacht passieren kann.“ Elena lächelt. „Wir haben alles aufgebaut, ich habe an der Bar gearbeitet, habe mit tausenden Leuten geredet, war mal mega happy, dann wieder genervt, habe ewig getanzt und dann noch die Sache mit der Polizei am Schluss. War echt krass, aber auch echt nice.“ Auch Max ist zufrieden: „Ich find es ist alles perfekt gelaufen. Ich hatte auch einen wunderbaren Abend. Gut, das mit der Polizei hätte echt nicht sein müssen, aber die machen ja auch nur ihren Job. Und sind immerhin gekommen, als es schon vorbei war.“ Er schmunzelt.

Foto von Lea Schröder

Über meinem Gesicht hat sich ein leichter Sonnenbrand ausgebreitet, einige Laufmaschen zieren meine Strumpfhose und die Schrammen an meinen Armen und Beinen erzählen von den nächtlichen Exkursionen ins Gebüsch. Ich freue mich wahnsinnig auf ein großes Glas Wasser, eine warme Dusche und mein weiches Bett.

Hier im Wald ist es jetzt still. Vogelgezwitscher und das leise Rascheln der Blätter, statt wummernder Bässe und wildem Stimmengewirr. Keine Menge von tanzenden Raver*innen, die sich im Rausch vom treibenden Rhythmus der Musik mitreißen lassen. Nur das plattgedrückte Gras auf der Wiese zwischen den Hügeln zeugt von den Ereignissen der vergangenen Stunden.

Im nächsten Teil unserer Reihe über die Leipziger Open Air-Kultur kommt eine Stimme der Polizei zu Wort: Sie spricht von Strategien und Erfahrungen und bezieht Stellung. Von Rechtsanwalt Jürgen Kasek gibt es Tipps, welche Gesetzesverstöße im Vorfeld vermeidbar sind und wie die Kollektive im Fall der Fälle reagieren können.

FEUERTANZ – TEIL I: RISKANTE RAVES IM GRÜNEN

FEUERTANZ – TEIL II: DER PERFEKTE SPOT UND DISKUSSION IM PLANUNGS-PLENUM

FEUERTANZ – TEIL III: BAUSTELLENAMBIENTE, INVESTITIONEN UND POLIZEI-PRÄVENTION

FEUERTANZ – TEIL IV: GEDANKEN VON BESUCHER*INNEN & ENTWICKLUNGEN DER LETZTEN JAHRE

FEUERTANZ – TEIL V: ZU FRÜH GEFREUT – AUFTRITT POLIZEI

FEUERTANZ – TEIL VI: GESETZE VERSUS RECHTE

Review, Review: Tinkah, Relapse, WaqWaq Kingdom und Kontrapunkt

Es passiert sehr viel in Leipzig und wir hängen notorisch mit den Reviews hinterher. Einige Veröffentlichungen möchte ich daher im Schnelldurchlauf vorstellen.

Tinkah „Thoughts You Are Not Supposed To Speak Out In Public“ (Human)

Tinkah bringt sechs eigene Tracks im Alleingang auf seinem neu gegründeten Label Human heraus und feilt weiter an seinen verträumten Sounds, die wir vor allem von seinen Tapes auf Pattern // Select kennen. Faszinierend, wie er sich seit seinen Uptempo-Tracks als RUZ mehr und mehr vom Dancefloor wegbewegt und dabei in meinen Ohren an musikalischer Qualität hinzugewinnt. Allein, wie die nächtliche Stimmung von „Thought 4 (Part 1)“ in „Thought 4 (Part 2)“ überführt und dort plötzlich mit Sonnenstrahlen durchflutet wird, reicht für eine definitive Kaufempfehlung aus. Wahnsinn!

Relapse „Your Mouth In My Hands / Multilingual Talk Channel“ (Minor Mora)

Gar nicht soweit weg von Tinkah entfernt ist der Sound von Relapse auf einer neuen 7″ des Minor Labels. Auch hier bildet die vertracktere Seite im Drum’n’Bass die Grundlage für zwei leicht darke Tracks, die aber gerade durch ihre Kürze vom gängigen, DJ-freundlichen Aufbau recht losgelöst sind. Dadurch wirken die Tracks wie Ausschnitte, die kurioserweise direkt zum Punkt kommen und eben gerade dadurch die Frage aufwerfen, ob im Spotify- und Digital-DJ-Zeitalter überhaupt noch längere Track-Strukturen notwendig sind.

WaqWaq Kingdom live at Bassmæssage (Jahtari)

Jahtari dokumentieren den knapp 60-minütigen Auftritt von WaqWaq Kingdom bei der Bassmæssage in digitaler wie auch in Kassetten-Form. Dabei gibt es einerseits Material der ersten beiden EPs zu hören, aber auch unveröffentlichte Musik. Ich bin mir nicht sicher, ob dies für Menschen, die keine Hardcore-Fans der Band sind, als eigenständiges Release Sinn macht. Natürlich ist es unfair, den rohen Live-Mitschnitt mit den ausgearbeiteten Tracks zu vergleichen, dennoch tendiere ich dazu, letzteren den Vorzug zu geben – und schaue mir für Live-Impressionen dann gleich die Videos zum Auftritt an.

Various Artists „Kontrapunkt 03“ (Kontrapunkt)

Schon im Oktober 2018 ist die dritte Kontrapunkt-Compilation erschienen, einer der vielen an dieser Stelle vergessenen Releases. Acht sehr unterschiedliche Sücke teilen sich hier zwei Vinyl-Seiten. Nicht alle überzeugen mich: So schraubt sich „Happy Sledging“ von Schönfeld ein wenig ziellos durch die Gegend, wohingegen das Lo-Fi-Geplucker in „Stardancer“ recht charmant rüberkommt. „~~~~“ von Leo erforscht die breakbeatlastigen Ambient-Klänge der IDM-Neunziger und macht seine Sache auch gut, ruft bei mir aber fieserweise automatisch den Vergleich zu Astrobotnia und Co. hervor und kann sich davon nicht genug emanzipieren. Ebenfalls recht stark in die Vergangenheit schaut Lenny Frings mit „Enjoy Your Meal“: Breakbeats und Acid-Anleihen treffen auf einen sommerlichen Vibe. Schon irgendwie sehr retro, passt dafür wunderbar zum aufkommenden Sommer. Und dann bin ich leider wieder komplett raus: Die Ethno-Gesänge auf Nikita von Tiraspols Dub-Techno-Track „Es sehen bessere Zeiten“ sind so gar nicht mein Hut. Dann doch lieber das schrullige Glockenspiel-Interlude „Myggens Fridag“, das brachiale SDW-Intro und auch gern das spaßige Acid-Gehämmer von Edelberts „Bruuuum“. Ergo eine recht durchwachsene Platte mit guten Momenten, bei der die Tracks in der Gesamtheit nicht so richtig zusammenfinden.

Update, Update: Yuyay Records und Robyrt Hecht

Eine neue 12″ auf Yuyay sowie diverse Kollaborationen von Robyrt Hecht gibt es im Review.

Carl Y. Scheele „Element #8“ (Yuyay Records)

Eine neue Yuyay gibt es auf die Ohren, diesmal von einem weiteren mysteriösen Act namens Carl Y. Scheele. Irgendwie spannend, das Spiel mit den Pseudonymen: Die Musik des Labels ist in seiner Nische zwischen Electro, IDM und auch Synthpop so konsistent, dass ich nicht das Gefühl habe, unbedingt die einzelnen Künstler benennen zu wollen. Es gibt also einen Yuyay-Sound.

Und der beginnt am Anfang dieser EP erstmal quietschig, bevor „Mercuric Oxide“ dann bedrohlich-verspielt loslegt. Die besagten Wave-/Synthpop-Einflüsse folgen danach in „Redox“, bevor das fast schon melancholische „Liquid Phlogiston“ mit seinen verhallten Synthesizern betört. Ebenso bitter-süß erklingt „Saline Principle Of Water“ – eine richtige IDM-Ode, die an alte Warp-Platten erinnert, wenn auch mit weniger Frickeleien. Eine kurze Pause von der Schwermut gibt es mit dem unbekümmerten „Red Vapors“, bevor mit dem verträumten „Phosphorous Match“ die Sonne hereingelassen wird.

„HIL005“ / „Ramiel“ (Hilltown Disco)

Von Yuyay-Chef Robyrt Hecht gibt es zudem neue Musik auf dem britischen Label Hilltown Disco. Auf deren fünften Vinyl-Release „HIL005“ finden sich drei Tracks von ihm auf der A-Seite, die in Zusammenarbeit mit Int Main entstanden sind. Sehr straighter, darker Electro ist das, der mir auch weniger verspielt als auf den Yuyay Releases vorkommt. Verzerrte Vocals geben „Waste“ und „Today“ eine gewisse zusätzliche Roughness mit. Aber mein Favorit ist dann „Meta-Measure“, denn hier zappeln die Beats eine ganze Ecke stärker in Richtung Planet Funk. Kurz noch zur B-Seite: Hier gibt es zwei Tracks von w1b0, die viel stärker in Richtung Breaks schielen, etwas breitbeiniger aufgetragen sind, aber damit auch eine gute Ergänzung zur A-Seite bilden.

Außerdem gibt es eine Kollaboration von Robyrt Hecht mit CC9185 aus Frankreich für die „Ramiel“-Ausgabe in der Art Angel-Serie des Labels. Eine kühle, fast flüsternde Maschinenstimme steht im Zentrum des düsteren „Collecting Crystals“. Im Vergleich zur HIl005 ist hier das Energie-Level etwas heruntergeschraubt, dafür ist die paranoide Qualität der Musik deutlich höher.

Frische Brise, frische Beats – die Elektronische Schallplattenbörse im Mai

Freund*innen auf Vinyl gepresster, vornehmlich elektronischer Musik aufgepasst: Am 4. Mai könnt ihr in der Feinkost von 10 bis 16 Uhr wieder schön Platten lauschen und mauscheln. Wie, was, wann, wo? Dazu zitieren wir den Veranstalter:

„Seit 2004 findet die Elektronische Schallplattenbörse im Leipziger Süden statt. Diesmal sind wir endlich wieder im Freien und genießen den wundervollen kleinen Innenhof alias Carlo’s Garten in der Feinkost, parallel zum Samstagsflohmarkt.

Frische Brise – frische Beats!

Interessierte können wie immer Vinyl, Tapes und CDs kaufen, verkaufen oder tauschen – etliche Kisten nach musikalischen Schätzen durchwühlen oder einfach nur im gemütlichen Kreis ein bisschen fachsimpeln und abnerden. Elektronische Klänge liegen im Fokus, an den Genregrenzen sind wir aber schmerzfrei.

Standanmeldungen sind noch möglich und erfolgen gegen kleine Unkostendeckung und Spende an die Genossenschaft. Infos per Email unter espb-at-vinyl20-dot-com“

Nochmal die Fakten in Kurzform:
Samstag, 4. Mai / 10 bis 16 Uhr / Carlo’s Garten in der Feinkost / Karl-Liebknecht-Straße 36 / Anmeldung unter espb-at-vinyl20-dot-com

Behind the nights – White Circles

Bald steht die alljährliche Geburtstagsparty der White Circles vor der Tür. Aus diesem Anlass hat sich unsere Autorin mit den beiden Veranstaltern der Reihe getroffen.

Wenn man vom Namen White Circles ausgeht, führt der erste Gedanke nicht zur „schwarzen Szene“. Doch mit Einflüssen aus Gothic und Punk, Industrial und Wave findet sich die White Circles-Crew seit nunmehr fünf Jahren zusammen, um regelmäßig in und um Leipzig Künstler zu vereinen.

Wie definiert sich White Circles?

Plattform? Kollektiv? Veranstaltungsreihe?

Da müssen selbst Gründer Marco und Kevin (alias aehm und Bigo) überlegen, kommen aber ziemlich schnell auf den Konsens, dass es wohl letzteres sein wird.

White Circles

Als Kevin mit 24 Jahren nach Leipzig zog, veranstaltete er mit Kumpel Ralph Konzerte in diversen Leipziger Locations; 2013 war es dann an der Zeit, dem Ganzen einen Namen zu geben, und so entstand White Circles. Zwei ihrer Lieblingsbands hatten diese Phrase in ihren Texten integriert und „wir wollten keinen plakativen schwarze Szene Namen“, merkt Kevin an.

 


NOTE NOTE –

 

Die „schwarze Szene“ kommt beispielsweise in Leipzig jedes Jahr zum Wave-Gotik-Treffen zusammen. Man kann sie nicht als musikalisch homogene Gruppe bezeichnen, doch die Bezeichnung wird als Sammelbegriff für die Gesamtheit der musikalischen Strömungen, wie auch die im Artikel erwähnten, verwendet.

 

Seit fünf Jahren zieht sich ein roter Faden durch die White Circles-Konzerte: große Acts werden mit kleineren, unbekannteren Acts vereint. Danach gibt es eine Aftershow-Party, die von diversen DJs bespielt wird. Wie es die Veranstalter am liebsten haben? „Am besten eine abgeranzte Location und Leute, die man kennt“. Das lässt sich zwar nicht immer machen, aber wenn, dann wird es besonders lustig. 

Während Marco, der nach wenigen ersten Veranstaltungen dazustieß, aus den elektronischen Richtungen kam, sprich Wave, Industrial, und „schon immer was mit Gitarre“, kam Kevin aus der Goth und Punk-Szene. Durch diverse Partys in Halle hatten sie sich schon vorher kennengelernt. Kevin erzählt von Leopardenmustern im lilafarben kolorierten Haar, und obwohl man es ihnen heute nicht ansieht, verspricht Marco lachend, dass es noch Bilder gibt. Ralph nahm sich zu einem späteren Zeitpunkt auf Grund von arbeitstechnischen Gründen aus dem operationellen Geschehen heraus. 

Nach der Gründung 2013 ging es 2015 damit so richtig los, Marco und Kevin stellten monatlich, manchmal öfter, Konzerte auf die Beine. Für zwei Leute ein riesiger Aufwand, meine ich, und sie stimmen mir zu.

„Personell wäre das ohne Support nicht möglich gewesen“

sagt Kevin, zuverlässige Ressourcen, auf die man zurückgreifen konnte, wären das A und O gewesen.

So realisierte man 2017 trotzdem, dass es an der Zeit war, einen Gang zurückzuschalten und die Frequenz herunterzuschrauben. Die Jungs begannen, Kooperationen einzugehen und ihre Manpower outzusourcen. So kehrte zumindest ein bisschen Entspannung ein. 

KVB

Ihre erste Sold-Out Show (The KVB im UT Connewitz), so sind sich die beiden einig, das wäre einer ihrer größten Meilensteine. Oder endlich die Locations zu bespielen, vor denen man Respekt hatte – Trakt I im IfZ zu füllen, beispielsweise. So ist es keine Überraschung, dass sie auch zwei ihrer Geburtstagspartys im Institut veranstalteten und ebenfalls unter ihren Meilensteinen zählen.

Stolz sind die beiden vor allem auf ihre Berlin-Leipzig Connection, die mit dem aufnahme + wiedergabe Label hergestellt wurde. Dort erschien die White Circles Compilation anlässlich des ersten Jubiläums Ende 2014 – wird es wohl bald mal Zeit für ein zweites Tape? Spätestens zum WGT, teasert Marco an. 

Auch die Europa-Tour mit Architect, einem Electronica-Act aus Leipzig, wird unter den Meilensteinen aufgezählt – obwohl sie erst in wenigen Wochen stattfindet. Ein großer Zeitaufwand, den es für die beiden trotz Vollzeit-Job zu bewältigen gilt: Momentan stecken sie pro Woche mindestens zehn Stunden rein. Respekt, denke ich mir, aber die zwei brennen dafür, was sie tun.

Voller Dankbarkeit blicken sie auf ihre letzten Jahre zurück, wie ihr Netzwerk ihnen schon diverse Schlafmöglichkeiten an allen Ecken der Welt ermöglicht hat. So ist es eben, wenn man auf Professionalität und eine gute Betreuung der Künstler achtet. What goes around, comes around.

Was ihre Veranstaltungen besonders macht, das ist neben den selbstverständlich hochwertigen und sorgfältig ausgewählten Acts, die Diversität des Publikums. Frauen in der „schwarzen Szene“ sind meist eine Selbstverständlichkeit, White Circles haben es sich aber trotzdem zum Ziel gemacht, Awareness zu schaffen. Berührungsängste ihrer Szene gegenüber „linken“ Clubs haben sich gelegt; sie wollen durch ihr Netzwerk ständig

Meinungen und Input sammeln und Austausch fördern.

Ein Faktor, der Leipzig als Veranstaltungsort für die schwarze Szene gewissermaßen einzigartig macht, ist das Wave-Gotik-Treffen (WGT), denn der Sommer ist partytechnisch isoliert. Glücklicherweise bedeutet das statt Wettbewerb eher Unterstützung: Kooperationen mit dem WGT sind längst geschehen und stehen weiterhin an.

Und was gibt‘s sonst dieses Jahr bei den White Circles Jungs? Nach dem Frühling und der oben genannten Architect Europa-Tour liegt der Fokus im Sommer entsprechend dem WGT erst einmal auf DJ-Gigs (Highlight: Fusion!). Im Herbst geht es dann weiter mit Konzerten und einer Zusammenarbeit mit dem DEAF ROW FEST in Jena. And don’t forget the tape! Die zweite White Circles Compilation ist in the making.

Phase Fatale

Am Ende unseres Treffens stelle ich die schon fast obligatorische Frage: Könnt ihr euch weitere fünf Jahre White Circles vorstellen? Marco antwortet sofort mit: „Klar, warum nicht.“ Kevin lächelt zustimmend. Ein gutes Omen.

5 Jahre White Circles

Aber erst einmal konzentriert sich die ganze Freude auf den fünften Geburtstag am 27. April im Conne Island. Dort erwarten euch live on stage Architect, Azar Swan und Zanias. Anschließend geht’s auf der Aftershow Party weiter mit aufnahme + wiedergabe-Gründer Philipp Strobel und den drei White Circles Jungs: Bigo, Ralph und aehm.

Family vibes pur! 

Hier bekommt ihr noch einen Teaser für die neue Compilation von White Circles: bitly.com/WhiteCirclesLeipzig