Talk Talk – Wie an der Clubtür ausgewählt wird – Erkan

Kathi hat sich für unseren neuen Talk Talk-Podcast mit Erkan von Movement Security getroffen und wollte wissen, wie ein Türsteher arbeitet – und, ob Türsteher überhaupt noch der richtige Begriff dafür ist.

Dass zwielichtige Rockerbanden die Clubtüren Leipzigs kontrollieren, scheint lange her. Das Türsteher-Business ist mittlerweile ein professionelles Gewerbe und Secus durchlaufen eine Ausbildung, bei der am Ende ein offizielles Zertifikat erworben werden muss. Sie stehen nicht nur vor der Tür, sondern sorgen für Sicherheit auf der Tanzfläche, wenden Deeskalationsstrategien an, sind Ersthelfer und wählen sorgsam aus, wer rein darf und wer nicht.

In der neuen Talk Talk-Folge erzählt Erkan von Movement Security, wie selektiert wird und was Leipzigs Clubtüren von denen anderer Städte unterscheidet. Außerdem stellen sich die hiesigen Clubs durch ihre Willkommenskultur einer neuen Herausforderung. Das Conne Island führte beispielsweise den „Refugees-Fünfziger“ ein, um Migrant_innen das Mitfeiern zu erleichtern. Das hatte nicht nur positive Folgen – hier geht es zum offiziellen Statement. Was das für die Security-Kräfte bedeutet, erfahrt ihr in dieser Talk Talk-Ausgabe.

Good neighbours – Tim Rosenbaum

Wird der 23. Juni ein Halle-Tag bei frohfroh? Zufällig erschien vor einem Jahr auf das Datum genau auch ein Artikel zu Halle. Auch das Thema ist ähnlich: es geht wieder um Tim Rosenbaum.

Es war etwas still in den letzten Wochen hier, weil alle frohfroh-Autoren viel mit anderen Dingen beschäftigt waren. Und gerade, wenn der Kopf mit essentiellen Dingen voll ist, fällt es schwer, sich auf die schönen Nebenschauplätze zu konzentrieren. Die Pause wird ausgerechnet von einer Ausnahme durchgebrochen.

Denn eigentlich geht es hier um Elektronik aus Leipzig. Doch immer wieder schwappt auch Gutes aus Halle herüber. Die Musik von Tim Rosenbaum etwa. Ich bin ja ein erklärter Rosenbaum-Fan, weil er so einen eklektischen und teils abseitigen Zugang zur elektronischen Musik pflegt. Das spiegelt sich sich nicht nur in seinen eigenen Tracks wider – wie z.B. auf der „From Halle With Love“-Compilation zu hören – sondern auch in seinem Tape-Label Knackless und seinen DJ-Mixen.Da geht es mehr um artifizielle Listening-Erfahrungen, um ein unprätentiöses Eintauchen in verschieden überlagerte Sound-Sphären. Für die Podcast-Reihe des „Kollegen-Blogs“ From Halle With Love hat Tim Rosenbaum kürzlich einen neuen Mix eingespielt, der wie ein Mixtape im besten Sinne klingt. Sehr persönlich, sehr various, mit Anspruch und Liebe kompiliert. Selbst Folk, Dream Pop und Wave reihen sich schlüssig da rein. Wer einen Mix für laue Sommerabende sucht, sollte Tim Rosenbaum hören.

Porträt Rosenbaum: Point Of You

Delta Aquari & Neptune Allümé (Pattern // Select)

Neuigkeiten bei Pattern // Select: Das mittlerweile vierte Tape gibt es seit einigen Wochen.

Nochmal rekapitulieren: Mit Pattern // Select gibt es seit 2016 ein Label in der Stadt, dass sich gern mit dem Format Kassette auseinandersetzt. Nach einer ersten Compilation, die Beiträge verschiedener Beatmaker kombinierte, gab es zwei weitere eher Hip Hop-lastige Releases. Nun richtet das Label mit der vierten Veröffentlichung den Fokus auf deutlich elektronischere Klänge.Wie Soundtrack-Ausschnitte eines avantgardistischen Films wirkt die Musik der ersten Seite. Hier sind acht Tracks von Delta Aquari aus Leipzig versammelt, die aus Jam Sessions mit seinen Modular-Synthesizer stammen. Faszinierende Sound-Skulpturen gibt es hier zu entdecken, ob mit stetigen Grooves unterlegt wie in “Shades„, mit eher vertrackterer Rhythmik versehen wie in „Aspect“ oder auch mal als Ambient-Miniatur umgesetzt wie in „Complex Cycles“. Dabei kann man spüren, wie behutsam Delta Aquari die Stücke entwickelt und stellenweise meditative Qualitäten erreicht.

Deutlich energiegeladener als bei Delta Aquari kommt der Sound von Neptune Allümé auf Seite zwei daher. Elf Stücke zwischen den Polen House, Techno und – ja, nicht mal negativ gemeint – Trance gibt es hier von dem in Poitiers / Frankreich ansässigen Produzenten, der den Yamaha DX7 als Inspiration (und vermutlich auch Quelle) für seine Musik nennt. Und doch ist auch hier ständig eine ähnliche Verträumtheit präsent, die einer pumpenden Bass-Drum wie in „L’eau des Cométes“ Tiefe verleiht. Das liegt vor allem am omnipräsenten Reverb, dessen Einsatz auch die besagte Trance-Assoziation bei mir hervorruft. Glücklicherweise kriegt Neptune Allümé trotz lieblicher Melodien irgendwie immer rechtzeitig die Kurve, wenn die Kitsch-Gefahr am Horizont auftaucht.

Afterhour #6 Liebe, Techno, Leipzig – Black Nakhur

Black Nakhur, einer der Pferdehaus-Organisatoren stand von Anfang an auf der Afterhour-People-Liste von Antoinette Blume. Ihr Text könnte nun nicht passender erscheinen – denn das Pferdehaus schließt im Juni.

Platz im Gefüge
Als DJ ist es einfach, seinen Platz im Nachtleben zu finden. Hinter dem DJ-Pult, that‘s it. Und das stimmt bei so ungefähr keinem DJ, den ich bisher getroffen habe. Die einen machen noch die Licht-/Technik, die Bar, das Booking, die Künstlerbetreuung; vom Putzdienst bis zum Einlass irgendwie alles. Oder alles das auf einmal. Kommen, Spielen, Gehen – scheinbar gar nicht anstrebenswert.

Um wirklich Teil der Gestaltung des Nachtlebens in Leipzig zu sein, engagieren sich viele Künstler über das Künstlersein hinaus. Symptomatisch hierfür sind die vielen Crews, Open-Airs, Kollektive, Partys und nicht zuletzt unterdessen festetablierte Clubs, die überhaupt erst hieraus entstanden und hoffentlich weiterhin entstehen. Viel benutzt, aber auch mir fällt kein besseres Wort ein: Es ging und geht in Leipzig immer noch um Freiraum und ungeachtet der einigermaßen bekannten und teilweise gepflegten Drogenkultur viel eher um das Kultivieren, Sichtbarmachen, Erleben und Kreieren von (elektronischer) Musik.

Steckbrief
Clubnest?Pferdehaus im Westwerk (RIP)
Zuhausemusik? Dub
Zeit zu gehen?Mal früher, mal später. Meistens aber später.

Nowhere: Black Nakhur
Wer auch einst einfach nur mal eine Party in Leipzig (mit)organisieren wollte und nie mehr davon loskam, ist Black Nakhur. Seit sechs Jahren DJ, von der Skyline bis zum Berghain, Mitgründer des Labels Pneuma-Dor und einer der Menschen, die den allerletzten Track im Pferdehaus spielen werden (warum-wieso-weshalb lest ihr hier). Allerdings soll dieser Text kein verschriftlichter Trauergottesdienst um das Pferdehaus werden, welchen man beim Leichenschmaus zeilenweise zitiert wie den Wetterbericht oder das Line-Up des Nachtdigital-Festivals – nein. Lücken bringen Neues, ob es etwas Neues geben wird, wird sich zeigen. Mit dem Ende einer Räumlichkeit besiegelt sich noch nicht das Ende der Welt.

„(…) klingt pathetisch, macht aber glücklich.“
Black Nakhur kommt ursprünglich aus Berlin, hat mal studiert, kam nach Leipzig, hat dann eine Ausbildung zum Veranstaltungskaufmann gemacht und seinen Job in eben diesem Metier gekündigt, als es mit dem Pferdehaus ernster wurde. No risk, no Berghain. Dort hat er auch schon aufgelegt, was für jeden mittelmäßig interessierten Technokenner doch beeindruckend ist. Er selbst ist da wesentlich bescheidener:

„Eigentlich ist jeder Auftritt vor Publikum bei dem ich die Musik spielen kann, die ich mag und bei der Menschen dazu tanzen, lachen, weinen, knutschen, … eine Art Traumerfüllung – klingt pathetisch, macht aber glücklich.“

Das sagt Black Nakhur und erklärt, er halte das „ganze Ding“ um das Berghain für etwas hochstilisiert, wenngleich trotzdem auch ein Wunsch in Erfüllung ging, eben dort einmal zu spielen.

Und wie ist das, immer nachts zu arbeiten? Als Veranstalter, DJ und zum eignen Label kommt dazu, dass Freizeit auch Arbeitszeit und umgekehrt ist. Dabei lernt man, nicht jeden Schnaps mitzutrinken – was mir neu war, aber irgendwie schon logisch klingt. Dafür kann man dann morgens noch nett frühstücken, bevor die bessere-andere Hälfte zur Arbeit geht. Und man selbst ins Bett.

Tschüss-Wunsch
Es bleiben zwar die gleichen Themen, fast immer, überall. Partys. Bookings. Feiern. Aber gerade jetzt darf/kann/soll/muss man sich vom festen Etablissement freischwimmen, sich in neuen Kontexten und anderen Erwartungen wiederfinden. Also, auf dass wir Black Nakhur doch mal in ungewohnter Umgebung, nämlich bei Tageslicht und auf einem Festival, auflegen sehen und man ihm endlich seinen geheimen Wunsch eines eigenen Festivalbiers erfülle. Und dass junge Nachwuchskünstler, Crews und Producer wieder einen so freien Ort finden, sich auszuprobieren und zu lernen; mit genauso engagierten Menschen wie es sie im Pferdehaus gab.

Postskriptum
PS: Die letzte Party im WW aka Closing-Party findet am 9. und 10. Juni statt. Wer dem Pferdehaus die letzte Ehre erweisen möchte, der sollte es an diesem Wochenende tun. Un-be-dingt.

PPS: Noch mehr Afterhour gibt es übrigens am 29. Juni zwischen 21 und 22 Uhr bei Radio Blau. Geplaudert wird dort u.a. mit mir über Nachtgeschichten. Ich darf mir fatalerweise sogar Musik wünschen. Ob sich mein allgemein stark überschätzter Musikgeschmack in der letzten Zeit annehmbar verbessert hat, welches meine liebste Gute-Nacht-Geschichte ist und warum das Pferdehaus eigentlich die Geburtsstätte dieser Kolumne ist – findet es heraus. Ich weiß, sonst läuft bei euch nur Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur, aber Radio Blau ist nicht nur an diesem Tag mal ein Reinfrequenzieren wert.

Wir hören uns!

Foto von Henry W. Laurisch
Artwork von Manuel Schmieder

WaqWaq Kingdom & Gl. Harlev Organ Orchestra auf Jahtari

Da sind wir etwas spät dran: Seit April gibt es zwei weitere Releases auf Jahtari, die unterschiedliche Dub-Ansätze erforschen.

WaqWaq Kingdom „Shinsekai“
Beginnen wir mit WaqWaq Kingdom: Nach dem immer noch tollen Album „Karma No Kusari“ und dem Tape des eher experimentellen Projekts NoinoNoinoNoino zeigt uns Kiki Hitomi mit WaqWaq Kingdom eine weitere Facette ihres musikalischen Universums, die sie zusammen mit DJ Scotch Egg auslotet.

Sofort fällt auf, wie stark das Album aus dem gewohnten Jahtari-Katalog heraussticht. Klar, auch hier ist der Sound im Dub verankert, hat hier aber mehr mit den hypnotisierenden Atmosphären britischer Bass-Musik gemein als mit den sich immer noch am Reggae orientierenden Videogame-Vibe des sonstigen Jahtari-Outputs.

Sehr präsent sind zudem die von Andreas Belfi eingespielten Percussions, welche zwar auf ein starkes Interesse an World Music hindeuten, aber gleichzeitig klischeefrei in die Tracks eingebettet sind. „Post-tribal“ nennt der Promo-Text das und mit „Oh It’s Good“ ist das dann auch für Freunde der geraden Bassdrum anschlussfähig.

Gl. Harlev Organ Orchestra „The Organ Sessions“ 
Viel näher am gewohnten Jahtari-Dub ist die „The Organ Sessions“-LP, bei der es sich um eine Neuveröffentlichung einer bereits in Dänemark erschienenen 10″ handelt. Warum die Mühe? Hier handelt es sich um eine Session der drei Dänen Benjamin Lesak, Kristian Nordenthoft und Jesper Kobberoe, die zusammen eine einzige Technics-Orgel sowie einige Effekte bedienten und damit innerhalb eines Tages diese sieben sehr groovigen Stücke mit einem Mikrofon aufnahmen.

Auch mal eine Form der Reduktion – zumindest technisch, denn die Songs sind sehr verspielt und könnten auch ein passender Soundtrack für Retro-Adventure-Games sein. Ja, den offensichtlichen Spaß hört man hier deutlich heraus – nicht zuletzt, wenn sich die drei Musiker zwischendurch auch mal unbeschwert miteinander unterhalten.

Die Experimente von Modern Trips

Modern Trips erlebt gerade eine zweite Blüte. Innerhalb der letzten beiden Monate kamen drei neue EPs heraus. Hier sind sie im Überblick.

Mitte März hatten wir bereits freudig davon berichtet, dass das Label Modern Trips aus einer Pause zurückgekehrt ist. Das Frühjahr bringt aber weit mehr neuen Input mit sich, als ursprünglich erwartet. Und es gibt da eine gute Tendenz zu einem experimentellen Electronica- und Ambient-Sound.

Experimentell sind teilweise auch die Ansätze bei der Entstehung und dem Labeln von Musik. Bei Global Ghettotech werden beispielsweise die hermetischen Werk-Künstler-Grenzen ausgehebelt, indem unter dem Namen in nächster Zeit verschiedene Künstler Tracks produzieren und veröffentlichen werden.

Robin Hase aus Bremen machte den Anfang mit den ersten beiden Tracks der „The Sound Of Global Ghettotech“-Reihe. Dabei perlen in „0“ kristalline, hell und spitz klingende Sounds zusammen, die in ihrer Reduktion fast schon eine kammermusikalische Intimität ausstrahlen. „1“ haut mit festen Tastenschlägen in ein faszinierend blutleeres Keyboard und bringt Glassplitter als Sounds hervor. Wie der Refresh einer alten Cembalo-Miniatur. Sehr speziell, auch für Modern Trips-Verhältnisse.

Ende April folgte eine weitere EP von Robin Hase, „FM8 Works1“. Während das erste Stück ästhetisch an die diffus sakralen Global Ghettotech-Beiträge anknüpft, zersetzen sich bei den zwei anderen Tracks nach und nach die ursprünglich unberührten Harmonien. Einmal in einem zerfasernden Glitch, dann wieder in einem ausladenden Loslassen und Zerleiern. Kleine Spektakel sind das, maximal drei Minuten, doch es ist alles gesagt für den Moment.

Noch einen Schritt dekonstruktiver und von bewährten Formen befreit arbeitet Chang Park aus Seoul. Modern Trips brachte soeben mit „All The Rest Is Silent And Interchangeable“ eine Mini-Album heraus, das auf mikroskopischer Ebene abstrakte Sounds herausschält.

Hier geht es straight in die Avantgarde. Hinein in eine Welt aus scheinbar losen Klängen, losgelöst von jeglichen weltlichen Assoziationen, direkt involviert in eine digitale Dystopie – oder ist es vielleicht sogar eine Utopie? Auf jeden Fall zeigt sich spätestens hier, das sich Modern Trips klanglich komplett neu erfunden hat. Und zwar so, dass hier endlich ein weiterer Raum für konsequente Experimente geschaffen wird – super passend das Artwork. Full Support!

Good bye, Blaue Perle

Der Juni wird ein trauriger Monat für das Nachtleben des Leipziger Westens. Nach dem Ende im Pferdehaus wird auch die Blaue Perle schließen.

In den Titeln einiger Party-Reihen, die sich die Blaue Perle als nächtliche Heimat ausgewählt haben, gab es schon Andeutungen, nun ist aber klar: Ende Juni schließt die Blaue Perle auf der Merseburger Straße.

Zwar war der Laden von Anfang an vom Thrill der Zwischennutzung geprägt, doch in den letzten Jahren hatte sich die Bar mit dem Mini-Dancefloor und der scheppernden Anlage zu einem guten Ort für kleine, verschwitze und stickige Partys mit Locals und interessanten Newcomern von überallher entwickelt. Das Ende tut auch deshalb weh, weil Leipzig durchaus mehr Läden in solch überschaubarer Größe und mit einem konstanten Clubprogramm vertragen könnte – für die Newcomer-Förderung, für neue Veranstaltungskonzepte und für Partys im kleineren Rahmen.

Die Kündigung kam für die Betreiber überraschend. Das Haus soll demnächst saniert werden. Was danach kommt, ist noch unklar, aber es dürfte damit zu rechnen sein, dass es irgendwo anders weitergeht.Btw: Natürlich ist dies nun ein weiteres Puzzleteil in der Gentrifizierungsgeschichte Leipzigs. Doch es darf nicht vergessen werden, dass auch die Blaue Perle in ihrer heutigen Form Teil eines Verdrängungsprozesses war.

Denn die Stammgäste der vorherigen, gleichnamigen Kneipe dürften mit den Künstlern und DJs nur selten gemeinsam gefeiert und getrunken haben. Der Club-Hedonismus ist aus Sicht der Immobilienbesitzer aber sehr wahrscheinlich rendite-fördernder als die verlorenen Bier- und Schnapsseelen von Lindenau. Auch wenn „uns“ die heutige Blaue Perle eine Menge schöner Nächte beschert hat.

Matt Flores „Sidechained Escapism“ (O*RS)

O*RS zeigt mal wieder seine Boutique-Label-Qualitäten und veröffentlicht ein warm umarmendes Beatmaker-Downbeat-Album von Matt Flores. Nicht verpassen: Wir verlosen auch zwei Tapes!

Matt Flores aus Düsseldorf habe ich beiläufig immer als ein Vertreter der Rhein-Ruhr-House-Szene der mittleren Nuller Jahre wahrgenommen, neben Leuten wie Ingo Sänger und Labels wie Combination und Farside. Doch da scheint schon immer eine größere Offenheit für andere Sounds gewesen zu sein. Bei Bandcamp findet sich beispielsweise ein HipHop-beeinflusstes Album von 2005, dazu weitere Releases aus den letzten beiden Jahren, die sich bei Ambient und Beatmaking einordnen lassen.

Und genau in diese langsame Abkehr vom klassischen House reiht sich auch „Sidechained Escapism“, das neue Matt Flores-Album, das O*RS digital und in einer limitierten Tape-Auflage veröffentlicht hat. Alles ist entschleunigt und von eindringlich wohlklingenden, teils elegischen Synth-Sounds getragen. Spannend wird es immer dann, wenn die UK-Einflüsse, wie bei „Haze Void“, „Blue Hour“ und „Take Your Time“, durchschimmern – wenn also die Synths stärker überzeichnet und die Vocals überpitcht sind. Dann wird die Beatmaker-Behäbigkeit, die das Genre immer auch prägt, um eine eskapistische Note ergänzt.Das bedeutet aber nicht, dass der Rest von aufkeimender Altersmilde gedimmt wird. Matt Flores versteht es jederzeit, klanglich einnehmende, nach Fernweh klingende Kulissen zu erschaffen, für die er mit gutem Understatement auch Ausflüge in fernöstliche Folklore und verschlungenen Pop wagt. „Sidechained Escapism“ ist ein Listening-Album, bei dem man beim ersten Hören merkt, dass es mehr zu erzählen hat, als Geschichten von ein paar lässigen Beats.

O*RS erweitert nebenbei seinen Beatmaker-Fokus über den OverDubClub-Radius hinaus und zeigt, dass auch in Düsseldorf der Beatmaker-HipHop gern gepflegt wird.


++++ Win Win ++++ Win Win ++++

Wir verlosen zwei Exemplare des limitierten „Sidechained Escapism“-Tapes. Wer eins möchte, schreibt hier in den Kommentaren, was euer Hit des Albums ist. Bis 31. Mai ist Zeit, dann wir ausgelost. Bitte keine Fake-Mail-Adressen, sonst erreicht euch die eventuelle Gewinner-Mail nicht. 

Mix Mup „Gravity“ (Mikrodisko Recordings)

Im letzten Jahr kehrte Mikrodisko Recordings mit zwei Platten aus einer vierjährigen Pause zurück. Es blieb keine Ausnahme.

Und als wäre das nicht erfreulich genug, ist es auch noch Mix Mup, der die M12 mit drei Tracks bespielt. Es sind drei typische Mix Mup-Tracks, die einerseits von einer spröden Reduktion mit vielen Auslassungen und andererseits von einer mikroskopischen Detailiertheit geprägt sind. Momentaufnahmen, die sich möglicherweise aus forschenden Klangtouren herausschälen. Mit tief schlummernder Deepness, augenzwinkerndem Funk und einer Fülle an Konventionsverschiebungen.

„Diamonds“ und „Périférique“ klingen dabei noch einmal subtiler, ausgeglichener und filigraner als ich die letzten Mix Mup-Stücke in Erinnerung habe. Befreit und offenporig wie Jazz. Auch die Ambient-Zwischenstation „Post / Pre“ entfaltet diesen Appeal, nur mit wesentlich mehr Wärme. Dreimal Mix Mup at it’s best.

„Diamonds“

„Post/Pre“

„Périférique“

Orange Dot „Live at Distillery“ (A Friend In Need)

Die Zeit vergeht definitiv zu schnell – sieben Jahre liegt die Debüt-EP von Orange Dot zurück. Umso überraschender ist nun, dass A Friend In Need einen Live-Mitschnitt aus der Distillery als EP veröffentlicht.

Sich mit Orange Dot zu beschäftigen, ist mit langem Zurückklicken verbunden. Im Oktober 2010 stellten wir dessen erste offizielle EP auf dem Leipziger Label Spunky Monkey Records vor. Damals war der ursprüngliche Electronica-Background von Orange Dot – er organisierte u.a. das Frequenzcamping im gfzk-Garten und kuratierte die CD-R-Reihe „Alula Ton Serien“ – noch recht offensichtlich, auch wenn sich die Arrangements dem Dancefloor schon näherten.

Mittlerweile scheint sich Orange Dot dort sehr wohl zu fühlen. Die fünf Tracks auf „Live at Distillery“ klingen noch eine ganze Spur geradliniger und aufgeräumter als vor sieben Jahren.

Wo Glättungen sonst eher enttäuschen, sorgen sie bei Orange Dot für einen großen Sprung.

Das liegt auch daran, dass die Kanten und verspielten Abzweige weiterhin hörbar bleiben. Und so ist das noch immer kein lupenreiner House.

Doch genau dieser Mix aus vertracktem Eigensinn und dezent schiebendem, super harmonischem House geht bei Orange Dot voll auf. Und er ist perfekt für ein Live-Set, das sich vom DJ-Standard abgrenzt und nun nachträglich zum Home-Listening einlädt. Das kann bei „Believe In Me“zwar auch leicht ins Süßliche gehen, doch insgesamt prägt eine angenehme Innerlichkeit den Sound dieser EP. Mit „The Forest“ geht es sogar erstmals in Richtung Pop. Eine sehr schöne Wiederentdeckung. Hoffentlich dauert es nicht wieder sieben Jahre bis zur nächsten Orange Dot-EP.

Leipzig Drum & Bass-News

Wir hängen notorisch hinterher: Auch im Drum & Bass gibt es neue Releases aus Leipzig. Zum Beispiel von Defrostatica, Boundless Beatz, 45Seven und Lunar³.

Various Artists „Rogue Style 1 EP“ (Defrostatica)

Ganz frisch ist die vierte Veröffentlichung von Defrostatica: Sinistarr, Kiat, Kabuki und HomeSick vierteln sich mit jeweils einem Track eine 12″, in denen sie ihre Liebe zur HipHop- bzw. B-Boy-Kultur ins Zentrum rücken. Sinistarr eröffnet mit „Yo Speakerz“ die EP und kombiniert gechoppte Vocals mit einem zum Kopfnickenden anregenden Beat. Eine charmante Verbindung aus Juke-Einfluss und Oldschool-Drum-Samples.

Defrostatica-Stammgast Kiat ist noch direkter im Ansatz und lädt Klose für einige Raps über sein staubtrockenes Instrumental ein. Das erinnert stark an die Tracks von Lynx und Kemo und steppt ebenso konsequent durch. Übrigens: It’s Yours! hat sich die beiden für ein Interview geschnappt.

Kabuki überrascht mich am meisten: Eine Melodie, wie sie typisch für britische Grime-Produktionen wäre, gewinnt auf „South Bronx Subway Riddim“ meine Aufmerksamkeit. Klar, Kabuki ist gegenüber den britischen Producern natürlich vergleichsweise entspannt und schlägt außerdem die Brücke zum Oldschool-HipHop, indem er sich typische Breakdance-Drum-Samples ausleiht und (hoffentlich liege ich richtig) einen Ausschnitt aus „Wildstyle“ zitiert.

Zum Abschluss haut uns HomeSick die Beatmaker-Gegenwart mit „Mass Appeal“ um die Ohren und hat gleichzeitig einen Fuß im Jungle. Sehr fresh und ein stimmiger Abschluss für die bisher vielseitigste Platte auf Defrostatica.

Dreadmaul „Dust & Bones EP“ (Boundless Beatz)

Bereits im März erschien die sechste EP auf Boundless Beatz. Wieder gibt es vier superdüstere Tracks von Dreadmaul, der auch hier cinematische Qualitäten aufweist. Track-Namen wie „Vodou Priestress“ weisen auf die naheliegendsten Bilder zu Dreadmauls Sound hin, der von Track zu Track bedrohlicher wird.

Dummerweise höre ich seine Tracks bei strahlenden Sonnenschein und der ersten vorsommerlichen Hitze – denkbar ungünstige Umstände für die Wirkung dieser EP, aber das WLan im modrigen Keller ist leider zu schlecht. Aber ja, auch in sommerlichen Nächten eignet sich die EP besonders gut als Soundtrack für Spaziergänge im Wald und anderen möglichst schlecht beleuchteten Orten.

RUZ „Broke Dub / Love Beyond Price“ + Dub Across Borders „Black Lake / Lack Blake“ (45Seven)

Auch auf 45Seven gibt es neue Releases, die wir bisher nicht vorgestellt haben. Der Leipziger RUZ bekommt die zwei Seiten der Nummer 18: „Broke Dub“ ist eine schön sommerliche Uptempo-Nummer mit allen bekannten Ingredienzien plus einem Saxophon-Sample. Etwas langsamer und noch stärker im Reggae verwurzelt hingegen „Love Beyond Price“, bei dem auch Plug Dubs Toni Wobble beim Dub geholfen hat.

Die Nummer 19 wird von Dub Across Borders bespielt. „Black Lake“ entwickelt einen eigenen Vibe dank durchgängig ratternden Percussions. Erstaunlich, wie vielseitig sich der Sound im 45Seven-Rahmen doch immer wieder entwickelt. Auf der Rückseite sind die Percussion in „Lack Blake“ dann wieder zurückhaltender, dafür tauchen hier ein paar schön schräg gepitchte Sounds auf.

Lunar³ „Occupy Your Heart“

Bereits seit einem Jahr gibt es die Fünf-Track-EP des Live-Projekts Lunar³.

Filburt hat uns auf die vierköpfige Live-Band hingewiesen, deren EP wir im Mai 2016 komplett verpasst haben. Kürzlich standen sie als Support für Jojo Mayer und Nerve im Conne Island auf der Bühne – eine passender Anlass, nochmal in die „Occupy Your Heart“-EP reinzuhören. Die fünf Tracks zwischen Pop und Drum & Bass gibt es als digitales Release, vier davon zudem auch auf Vinyl.

Gleich beim ersten Track „Occupy Your Heart“ fühle ich mich an die Nuller Jahre im Drum & Bass erinnert, in denen das Soul- und Pop-beeinflusste Sub-Genre Liquid Funk die Drum & Bass-Welt in Freunde und Hasser spaltete. Vermutlich ist dies auch für Lunar³ eine prägende Zeit gewesen und so finden sich auf den fünf Tracks der EP eine Menge Gesangs- und Rap-Parts, die von teilweise sehr süßlichen Melodien, knarzigen Bässen und treibenden Drums begleitet werden.

Man möge dem Kritiker verzeihen: Für ihn schimmert hier vor allem auf den ersten drei Tracks zu oft die Rock-Band durch, die mit dem Sound auf einer größeren Bühne besser aufgehoben ist als im gemütlichen Club und eben dafür auf maximale Effekte zielt. Und für diese ist auch sehr gut umgesetzt: Ein Reggae-Jungle-Tune wie „Where The Grass Is Greener“ wird live fantastisch funktionieren. Aber leider sind es vor allem die Vocals, die mich auch hier abschrecken. Dabei zeigt der letzte Track der EP, „Shadowbroker“, dass die Band ohne Gesang eine ganz andere Sogwirkung entfalten kann. Wenn nicht soviele Dubstep-Rave-Bässe dabei wären. Und soviel Rock-Schlagzeug. Oje, Lunar³, ich merke schon, das wird schwierig mit uns beiden …

Various Artists „Transmission Europa“ (Pulse Drift Recordings)

Es gibt eine neue Elektro-Platte aus Leipzig. Dieses Mal handelt es sich um das zweite Release des Leipziger Labels Pulse Drift Recordings.

Anfang des Jahres hatten wir Pulse Drift Recordings erstmals vorgestellt. Platte Nummer 2 heißt „Transmission Europa“ und kompiliert sechs Tracks der gleichen Anzahl Künstler aus vier Nationen auf Vinyl. Neben den deutschen Acts Das Muster, Eoism und XY0815 gibt es darauf Musik aus Kroatien von Zagrebački Električni, aus der Ukraine von Lectromagnetique und aus Finnland von Morphology.

Der erste Track kommt von Das Muster aus Flensburg, der seit 2010 Musik veröffentlicht, darunter beachtliche zehn Alben. Sein Opener-Track „Die Eisprinzessin“ geht ziemlich doll nach vorne und mischt Rave mit Break-Attitüden.

Eoism, der als Heimstatt Jena und Leipzig angibt, hatte Ende 2016 sein Release-Debüt bei Pulse Drift. Sein Track „Im Vektorraum“ zeigt sich ebenso ästhetisch wie vielschichtig. Er hat zwar wenige Höhen und Tiefen, ist dafür aber so schön knarzig-intelligent wie Dopplereffekt.

Zagrebački Električni zeigt sich mit „MariSari“ unaufgeregt und geht dabei in eine verwaschene Lofi-Richtung, die ich in letzter Zeit häufiger bei Deep House gehört habe.

Lectromagnetique hat schon ein paar Alben und Singles, zumeist digital und vorwiegend beim UK-Label Bass Agends Recordings, rausgebracht. Er stammt aus Tschernobyl und ich kann mir gerade kaum eine geeigneteren Ort vorstellen, an dem man frickeligen Alien-Electro produzieren kann. Bei Avoid The Void gibt es dementsprechend fremdartige und sphärische Klänge, eingebettet in einen knackigen und puren Beat.

Das finnische Duo Morphology kann auch auf eine Vielzahl von Releases zurückblicken. Beispielsweise drei Alben veröffentlichten sie auf dem Leipziger Dark-Electro-Label Zyntax Motorcity, sowie eine Split-EP bei Solar One Music in Jena. „Probing Desire“ ist superschnell und der einzige Track mit Vocals auf dieser Platte. Leider entwickelt er sich erst im letzten Drittel zu etwas Interessantem, wo man zuhören möchte.

Ebenfalls aus Leipzig und der Clear Memory-Crew zugehörig ist XY0815 – in unserer „Neues aus der Wolke“-Reihe hatten wir ihn schon einmal vorgestellt. Für ihn ist „Transmission Europa“ sein -Vinyl-Debüt. „Helios Transfer“ geht in eine klassische Richtung, düster, cool und groovy.